Medienspiegel 27. Oktober 2019

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+++ZÜRICH
landbote.ch 26.10.2019

S. muss gehen

Der 24-jährige Afghane S. sitzt im Ausschaffungsgefängnis am Flughafen. Auf ihn wartet eine ungewisse Zukunft. In seiner Deutschklasse in Winterthur ist die Sorge gross.

 Michael Graf

Es ist früh an einem Freitagmorgen im September, als Tara die Whatsapp-Nachricht von ihrem Freund bekommt. «Guten Morgen. Wie gehts dir? Ich habe ein Problem, ich kann dir nicht sagen, was. Mach dir keine Sorgen. Ich melde mich später.» Sie ruft sofort an, er drückt den Anruf weg. Dann ist das Handy nicht mehr erreichbar.

An diesem Freitagnachmittag fehlt S. unentschuldigt im Deutschkurs B1 im alten Winterthurer Busdepot. «Das klingt nicht nach S.», denkt sich Markus Egli, freiwilliger Deutschlehrer bei Solinetz. S. hat noch nie unentschuldigt gefehlt. Der pensionierte SRF-Journalist nimmt das Telefon in die Hand und ruft in der Notunterkunft Rohr in Glattbrugg an. «Dort hiess es, man dürfe mir keine Auskunft geben.» Egli fragt sich bis zum Migrationsamt durch.

Wer S. treffen will, muss ein Gesuch beim Flughafengefängnis stellen. Knapp zwei Wochen nach dem Einreichen des Formulars öffnet sich das doppelte Gittertor. Beim Empfangsschalter müssen Besucher alle persönlichen Gegenstände einschliessen und durch einen Metalldetektor treten. Erlaubt sind: ein Blatt Papier, ein Kugelschreiber. Auf dem Weg vom Parkplatz kommt man an einem orange-grauen Containerdorf vorbei, wo S. die letzten Monate gelebt hatte. Von acht Franken am Tag. «Ich hatte oft Hunger», sagt er, ohne Bitterkeit. Von hier aus hatte er versucht, sich ein Leben aufzubauen.

S., 24 Jahre alt, kurzes, lockiges Haar, hat ein freundliches Jungengesicht und spricht fast fliessend Deutsch. Er hat es sich selbst beigebracht, mit Youtube-Videos eines Iraners, der in Deutschland lebt. Seit dem Spätsommer besuchte er den Solinetz-Kurs in Winterthur, drei Stunden jeden Tag, intensiv. «So einen Kurs hatte ich mir immer gewünscht», sagt er. Einen Monat lang kniete er sich voll rein. Dann standen um 7.15 Uhr zwei Polizisten an seinem Bett und nahmen ihn mit.

«Zuerst war ich sauer auf ihn», sagt Tara. «Dann machte ich mir Sorgen.» Es dauert drei Tage, bis sie herausfindet, wo ihr Freund ist. «Auf dem Weg zum Flughafengefängnis sah ich das erste Mal, wie er gelebt hatte», sagt die 24-Jährige. «Ich hatte so viele Fragen an ihn. Als ich durch den Metalldetektor war und ihn am Tisch sitzen sah, hatte ich sie alle vergessen.»

Im Klassenzimmer im alten Busdepot in Winterthur bleibt der Stuhl von S. frei. «Ich verstehe nicht, warum er im Gefängnis ist», sagt Masha, eine Mitschülerin aus dem Iran. «Er hat nichts Falsches gemacht. S. ist ein sehr guter Mensch.» Es stimmt: S. hat sich in der Schweiz nichts zuschulden kommen lassen. Er sitzt einzig in Haft, weil sein Asylgesuch abgelehnt wurde.

Sechs weitere Schülerinnen und Schüler aus Afghanistan sind in der Klasse. Haben sie Angst, dass ihnen das Gleiche passieren könnte wie S.? «Ich habe immer Angst», sagt Asef, der mit S. in der gleichen Notunterkunft wohnte. «Ich habe Angst, wenn ich in der Notunterkunft bin, Angst, wenn ich Velo fahre, Angst, wenn ich Bus fahre. Aber seit S. weg ist, habe ich mehr Angst.» Als er letzte Woche im Bus kontrolliert wurde, habe er gedacht, der Mann wolle ihn mitnehmen.

«Ich kann nicht zurück nach Afghanistan», sagt S. Seine Familie stammt aus einem Dorf etwa 120 Kilometer westlich von Afghanistans zweitgrösster Stadt, Herat, sein Vater war Chauffeur. «Eines Tages sind etwa 300 Taliban ins Dorf gekommen», sagt er. «Sie töteten zwei Polizisten. Dann sind die anderen Polizisten geflohen.» Die Familie von S. packte alle Habseligkeiten ins Auto und floh ebenfalls, ins Städtchen Islam Qala an der iranischen Grenze. «Als der Vater unser Haus verkaufte, gab er mir Geld. Er sagte: Du musst gehen. Die Taliban wissen, dass du zugesehen hast, wie der Polizist getötet wurde.» S. flieht. Türkei, Griechenland, Balkanroute: Es ist der Sommer 2015, die Grenzen sind offen. Der 19-Jährige landet in München, ohne Geld und ohne Handy. Eine afghanische Familie, die er kennen gelernt hat, sagt ihm, sie kenne Leute in der Schweiz. Sie kommen bis zur Grenze in Basel. S. stellt ein Asylgesuch und wird in die Asylunterkunft Schwerzenbach eingeteilt.

«Du hast wahnsinnig viel Zeit, wenn du nicht arbeiten darfst», sagt er. Er beginnt, Deutsch zu lernen, spielt Fussball. Zuletzt ist er Stürmer bei der zweiten Mannschaft, vierte Liga. «Ich bin ziemlich gut», sagt er und lächelt verschmitzt. Bei Matchs durfte er nie spielen, weil er keine Lizenz hatte. «Jede Woche hat der Trainer gefragt: Wann bekommst du Bescheid?»

Nach einem Jahr kommt der Bescheid. Er ist negativ. «Krieg ist kein Asylgrund», sagt seine Anwältin, Lena Weissinger. Als gesunder junger Mann habe S. in Herat eine «zumutbare, innerstaatliche Wohnalternative». Weissinger sagt: Allein letzte Woche starben in Afghanistan mindestens 147 Menschen bei Anschlägen und militärischen Auseinandersetzungen.

S. wird in die Notunterkunft Urdorf umgeteilt, ein unterirdischer Bunker. «So kann man nicht leben», sagt er. «Wir waren 30 Männer in einem Raum. Und es waren schlechte Menschen dabei. Sie rauchten, tranken, stahlen.» Von Anfang an erhält S. eine «Eingrenzung»: Er darf nicht nach Zürich, wo es Sprachkurse gäbe. S. flüchtet nach Deutschland, beantragt dort Asyl. Nach einigen Monaten bringt ihn die Polizei zurück. S. bleibt sieben Monate in Urdorf, dann wird er nach Glattbrugg versetzt. Im Sommer erfährt er vom Solinetz-Kurs in Winterthur.

«S. brachte Sonnenschein in die Klasse», sagt Markus Egli. Er wurde neben Soheila gesetzt, eine 55-jährige Frau aus Afghanistan, die bisher eher verschlossen war. «Innerhalb von kürzester Zeit begann sie zu lachen und erzielte bessere Fortschritte als bisher. Wenn S. einmal fehlte, war die Stimmung nicht so gelöst.»

Wie es seiner Familie heute geht, weiss S. nicht. Im Gefängnis wurde ihm das Handy abgenommen. Einer seiner Mitbewohner glaubt, sie lebe inzwischen im Iran. Klar scheint: In Islam Qala konnte sie nie recht Fuss fassen. «Alles, was wir hatten, war in unserem Dorf», sagt S. Am neuen Ort hätten die örtlichen Chauffeure dafür gesorgt, dass sein Vater, der Neuankömmling, keine Aufträge bekam. «Zu meiner Familie kann ich nicht», sagt S. «Sie können selbst kaum leben.»

Tara und S. lernen sich im April diesen Jahres beim Beachvolleyball kennen. «Ich fragte ihn nach seiner Nummer und sagte, ich kann dir schreiben, wenn wir wieder da sind», sagt sie. Sie ist dann fast jeden Tag da. Es ist ein langer, warmer Sommer. «Er war sehr charmant und liebenswürdig und nie aufdringlich», sagt sie. «Ich konnte mit meinen Sorgen zu ihm kommen.» Zu Tara nach Hause darf er nicht: Ihre Eltern sind sehr streng, sie würden nur einen Mann aus ihrem Heimatland akzeptieren. Seine Whatsapp-Nachrichten hat sie gelöscht, damit ihre Eltern sie nicht finden. Das Einzige, was ihr von ihm bleibt, ist eine Halskette, die er ihr geschenkt hat.

Tagsüber kann sich S. im Gefängnis mit seinen Büchern ablenken. Noch immer lernt er Deutsch. Noch immer hat er eine vage Hoffnung. «Als Kind habe ich davon geträumt, Krankenpfleger zu werden», sagt er. Fast täglich bekommt er Besuch: von Tara, von der Deutschklasse, von seiner Anwältin, von Fussballfreunden. Nachts schläft er kaum. «Es kann jederzeit so weit sein.»

Auch Markus Egli schläft schlecht. «Das besetzt mich jeden Tag, jede Nacht», sagt er. Er schreibt Briefe an Justizdirektorin Jacqueline Fehr, die er von früher kennt, an Sicherheitsdirektor Mario Fehr, an Staatsekretär Mario Gattiker. Er beschreibt seinen Besuch bei S. in einem Facebook-Post in der Solinetz-Gruppe, der eine grosse Resonanz auslöst. S. kann ihn nicht lesen, aber er sagt, er freut sich.

Am Montag dieser Woche, drei Tage nach dem Gespräch im Gefängnis, ist es so weit. S. wird in Handschellen abgeführt, er ist zunächst wie gelähmt. Erst auf der Treppe zum Flugzeug kommt er zu sich. Im Flugzeug schreit er, in Todesangst, zerrt an seinen Ketten. Die Fluglinie weigerte sich, ihn so zu transportieren.

«Jeder Mensch liebt seine Heimat», sagt Reza aus seiner Deutschklasse. «Du gehst nur, wenn du musst.» Alle nicken. Ein anderer sagt: «In Afghanistan fallen jeden Tag Bomben. Jeder weiss, dass es nicht sicher ist.» Die offizielle afghanische Regierung stellt seit einiger Zeit grosszügig Laissez-passer-Papiere aus. Damit können abgewiesene Asylbewerber einfacher aus der Schweiz zurückgeschafft werden.

«Als ich ihn am Tag nach dem Ausschaffungsversuch besucht habe, habe ich nur geheult», sagt Tara. «Er sagte: Ich bin doch da für dich.» Wann der zweite Ausschaffungsversuch von S. stattfindet, weiss niemand. Es kann nächste Woche sein. Oder heute.



Die Flüchtlingshilfe kritisiert die Politik des Bundes

Seit März ist es wieder möglich, abgewiesene Asylsuchende nach Afghanistan auszuschaffen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) kann damit nach fast zweijähriger Blockade wieder polizeilich begleitete Rückführungen durchführen. Davon hat es mehrfach Gebrauch gemacht. Im Kanton Zürich gab es im laufenden Jahr bis anhin 52 Wegweisungsentscheide gegen afghanische Asylsuchende. Zwei davon wurden in ihre Heimat zurückgeführt. Schweizweit waren es insgesamt vier Rückführungen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe kritisiert das SEM scharf. «Die Sicherheitslage verschlechtert sich im ganzen Land weiter», schreibt sie auf der Website. «Die Praxis ist angesichts der Realität vor Ort unhaltbar.» Wie ein Sprecher mitteilt, empfindet das SEM Rückweisungen als zumutbar, sofern Ausgewiesene dort ein soziales Netzwerk haben sowie jung und gesund sind. Die Reisehinweise des Aussendepartements richteten sich an Schweizer Staatsbürger und seien nicht vergleichbar mit «den individuellen und intensiven Abklärungen», die vor einem Wegweisungsentscheid vorgenommen würden. Die Schweiz ist eines der effizientesten Länder bei Ausschaffungen. Während in der EU rund jede dritte Ausschaffung erfolgreich war, ist es in der Schweiz mehr als jede zweite. Die Zahl der hängigen Wegweisungen hat sich in den letzten Jahren deutlich verringert. Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) will die Asylpraxis weiter verschärfen. In ihrem Auftrag präsentierte das SEM im September Massnahmen. Wirkung zeigen könnten laut SEM die neuen Visa-Regeln, die im Februar in Kraft treten. Die Schweiz und die EU werden künftig Staaten bestrafen, die bei Rückschaffungen unkooperativ sind, indem sie Visa-Anträge verzögert beantworten oder höhere Gebühren verlangen.(lia)
(https://www.landbote.ch/front/s-muss-gehen/story/22942192)


+++MITTELMEER
Schiff Open Arms mit 45 Migranten darf in Malta ankern
Die Hilfsorganisation kritisierte, dass sie die maltesischen Rettungskräfte alarmiert habe, diese jedoch auf die Hilferufe nicht reagiert hätten
https://www.derstandard.at/story/2000110381770/schiff-open-arms-mit-45-migranten-darf-in-malta-ankern?ref=rss


Seenotrettung und Libyen: Feuer frei
Die Küstenwache feuert auf das deutsche Schiff „Alan Kurdi“ Warnschüsse ab. Dabei waren die Behörden vorab über die Aktion informiert.
https://taz.de/Seenotrettung-und-Libyen/!5633428/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1127747.sea-eye-warnschuesse-auf-seenotretter.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/sea-eye-alan-kurdi-crew-bei-rettung-von-libyern-bedroht-135878860


+++EUROPA
Flüchtlingsdeal: Oettinger will, dass die EU der Türkei die Zahlungen kürzt
Die Türkei kümmert sich um syrische Flüchtlinge, die EU zahlt – diesen Deal stellt der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger nicht infrage, wohl aber die Höhe der Milliardenhilfen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/guenther-oettinger-eu-sollte-der-tuerkei-die-zahlungen-kuerzen-a-1293530.html


+++LIBYEN
Besuch des Außenministers – Maas will in Libyen vermitteln – und erlebt Schreckmoment
Bisher sind alle Vermittler in Libyen gescheitert – nun versucht es Berlin. Wie kritisch die Lage in dem Bürgerkriegsland ist, erlebte Außenminister Maas bei einem Besuch hautnah.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/maas–will-im-libyen-konflikt-vermitteln-100.html


Alltag unter Beschuss: Libyer trotzen dem Krieg
In Libyen herrscht Chaos. Zahlreiche Milizen kämpfen um Einfluss. Deutschland will in dem Konflikt vermitteln. Deswegen reiste Bundesaußenminister Maas nach Tripolis. Die Bewohner fürchten jeden Tag um ihr Leben.
https://www.tagesschau.de/ausland/libyen-425.html


+++FREIRÄUME
Gegen Armut und Hilflosigkeit: Dieses Kleinbasler Internet-Café ist ein Planet für Ausgegrenzte
Ein Internetcafé im Kleinbasel will Treffpunkt für alle sein. Entstanden ist es aus einer politischen Bewegung.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/gegen-armut-und-hilflosigkeit-dieses-kleinbasler-internet-caf-ist-ein-planet-fuer-ausgegrenzte-135869318


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gesperrte Schalter am EAP – Demonstration am Basler Flughafen gegen Krieg in Nordsyrien
Am Sonntagmorgen haben rund 50 Menschen mit Transparenten vor den Check-in-Schalter der Turkish Airlines demonstriert.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/gesperrte-schalter-am-eap-demonstration-am-basler-flughafen-gegen-krieg-in-nordsyrien
->https://www.facebook.com/rjgbern/videos/vb.504346633051195/839108976923865/?type=2&theater


Seebrücke Aktion in Luzern
Am Samstagmorgen haben wir, die Gruppen RESolut und Seebrücke an der Seebrücke ein grosses Transparent mit der Aufschrift “39 Refugees died in GB – Sichere Fluchtwege jetzt! – safe passage now!” aufgehängt.
https://resolut.noblogs.org/post/2019/10/26/seebruecke-aktion-in-luzern/


+++KNAST
Im Gefängnis Lenzburg treffen sich Opfer und Täter zu Gesprächen – das löst auch bei Schwerverbrechern Unerwartetes aus
In der Justizvollzugsanstalt Lenzburg treffen sich Opfer und Täter zu Gesprächen. Was als Hilfe für von Verbrechen traumatisierte Menschen gedacht war, löst auch bei Schwerverbrechern Unerwartetes aus.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/lenzburg/im-gefaengnis-lenzburg-treffen-sich-opfer-und-taeter-zu-gespraechen-das-loest-auch-bei-schwerverbrechern-unerwartetes-aus-135870889


+++RECHTSEXTREMISMUS
Das Buch “Extreme Sicherheit”
Immer wieder wird über rechtsextreme Vorfälle in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr oder Justiz berichtet. Geht es dabei um Einzelfälle? | mehr
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/extreme-sicherheit-102.html


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
bernerzeitung.ch 27.10.2019

Ein provisorischer Platz muss nicht teuer sein

Brügg hat es vorgemacht: Dank einfacher Infrastruktur und viel Freiwilligenarbeit lässt sich ein befristeter Transitplatz für Fahrende günstig betreiben.

Stephan Künzi

Die Fahrenden sind abgezogen, verlassen liegt das Kiesareal zwischen Autostrasse und Industrie da. Mit dem Sommer ist auch die zweite und letzte Saison auf dem provisorischen Transitplatz in Brügg Anfang Oktober zu Ende gegangen – pünktlich, wie Gemeindepräsident Marc Meichtry betont. «Die letzten Familien sind zum vereinbarten Termin weitergefahren.»

Problemlos sei die Schliessung gewesen, problemloser noch als vor Jahresfrist, als einige Nachzügler wegen Aufträgen aus der Region länger hätten bleiben wollen. «Sie haben den Platz auch sauber hinterlassen», fährt Meichtry fort und wiederholt, was er schon vor Monatsfrist angetönt hatte: Brügg ist im Grossen und Ganzen mit den Fahrenden gut gefahren. Zum zweiten Mal.

Dabei scheint die Meinung im Kanton Bern gemacht zu sein. Provisorische Transitplätze wie jener in Brügg sind nur so lange nötig, wie es keine definitive Lösungen gibt. Mit dem Projektam Autobahnparkplatz bei Wiler­oltigen ist nun so ein erster fixer Platz in Sicht.

Als der Grosse Rat im Frühling über die dafür nötigen 3,2 Millionen Franken de­battierte, warf die zuständige Regierungsrätin Evi Allemann (SP) als Argument in die Waagschale: In regelmässigen Abständen neue Provisorien einrichten zu müssen, sei nicht nur aufwendig, sondern «auch mit einem grossen finanziellen Aufwand verbunden» (siehe Kasten unten).

Dem hält Meichtry nun im Rückblick auf seine Erfahrungen entgegen: Ein provisorischer Transitplatz muss nicht teuer sein. Sofern er an einem geeigneten Ort eingerichtet wird.

Anschlüsse in der Nähe

In Brügg waren die Umstände in der Tat günstig. Für den Transitplatz konnten die Behörden auf ein brach liegendes Areal im voll erschlossenen Industriegebiet zurückgreifen.

Die Schächte, an denen sich das Abwasserrohr und das Stromkabel andocken liessen, lagen direkt jenseits der Grenze zur Nachbarparzelle, ähnlich günstig stand auch der Hydrant für die Wasserleitung. Dass das Areal über keinen asphaltierten oder anderweitig befestigten Boden verfügte, er­leichterte die Arbeiten zusätzlich. Das ersparte der Gemeinde aufwendige, teure Grabarbeiten.

Der Untergrund sollte trotzdem grössere Ausgaben nach sich ziehen. Nicht nur, weil der Platz eigens für die Fahrenden eingekiest werden musste: Meichtry erinnert daran, dass einst ein Industriebau auf dem Gelände stand. Davon ist das Kellergeschoss noch übrig, und diesen Hohlraum habe man stabilisieren müssen.

Wieder vergleichsweise günstig zu stehen kamen der Toilettencontainer sowie die beiden Arbeitscontainer für die Schreiner- und Maleraktivitäten der Fahrenden. Alles in allem habe die Gemeinde 120’000 Franken in den Platz investiert, rechnet Meichtry vor.

Diese Kosten habe man über die Gebühren für die im ersten Jahr etwas mehr und im zweiten Jahr etwas weniger als zwanzig Plätze decken können – fast jedenfalls. Für die insgesamt 20’000 Franken Defizit aus den beiden Jahren werde der Kanton aufkommen.

Natürlich weiss Meichtry auch, dass es ohne den harten Kern der rund fünfzehn Freiwilligen nicht gegangen wäre. Die Gruppe hatte sich nach einem Infoabend gebildet. Sie schaute zwei- bis dreimal pro Woche auf dem Platz vorbei, wies die Fahrenden auf die hiesigen Gepflogenheiten hin und zog das Geld für die Gemeinde ein. So hätten die Neuankömmlige gleich von Anfang an gewusst, was gelte. Zu grösseren Konflikten sei es erst gar nicht gekommen.

Einen Schritt machten übrigens auch die Freiwilligen. Sie hatten sich ursprünglich ge­meldet, um auf dem Platz zum Rechten sehen zu können, doch je länger der Einsatz dauerte, umso mehr legten sie ihre kritische Distanz ab. Am Schluss traf man sich regelmässig auf dem Platz zum Feierabendbier.

Alle zwei Jahre weiter

Trotzdem ist Meichtry froh, dass die zwei Jahre um sind, und er sagt auch deutlich, dass für ihn eine Verlängerung nie zur De­batte stand. Nicht allein wegen der vielen Arbeit für Behörden und Freiwillige, sondern vor allem auch, weil die zeitliche Begrenzung massgeblich zur Akzeptanz in der Bevölkerung beitrug: «Wir haben versprochen, dass nach zwei Jahren Schluss ist, und daran halten wir uns.»

Letztlich habe der provisorische Charakter entscheidend zum Erfolg in Brügg beigetragen. Offen lässt Meichtry durchblicken, dass er diese Art Transitplatz für die beste hält. Die Voraussetzungen für wechselnde Standorte wären seiner Meinung nach gerade in der Region Biel günstig.

«Es gibt etliche Brachflächen, die in ähnlicher Art im Siedlungsgebiet liegen und sich in ähnlich günstiger Art erschliessen lassen.» Wieso also die Fahrenden nicht für zwei Jahre hierhin und für weitere zwei Jahre dorthin weisen?

Dass es dabei ohne den Goodwill der betroffenen Behörden nicht geht, weiss Meichtry sehr wohl, und dass in der Vergangenheit kaum jemand den Transitplatz haben wollte, genauso. Bei einem Modell mit rotierenden Provisorien müssten sich die Gemeinden halt solidarisch zeigen, mahnt er. Wer wann an der Reihe ist, könnte in den Regionalverbänden und -konferenzen ausgehandelt werden.

So überzeugt Meichtry von seiner Idee ist, so grosse Fragezeichen macht er zu den offiziellen Plänen für Wileroltigen. Ein fixer Platz sei zwar immer noch besser als gar nichts, sagt er, aber: «Ich möchte in meiner Gemeinde auf alle Fälle keinen fixen Platz für Fahrende», sagt er. Das ganze Drum und Dran wäre ihm auf die Dauer doch zu aufwendig. Allen guten Erfahrungen zum Trotz.



Für den Kanton kann Brügg nicht der Massstab sein

Mit seinem Plädoyer zugunsten provisorischer Transitplätze stösst Marc Meichtry beim Kanton auf wenig Widerhall. Regierungsrätin Evi Allemann (SP) hält dem Brügger Gemeindepräsidenten entgegen: Nicht die zeitliche Begrenzung sei für die Akzeptanz in der Bevölkerung entscheidend, sondern ein geordneter Betrieb. Der in Wileroltigen geplante fixe Platz biete dafür gute Voraus­setzungen. «Eine klare Situation schafft Sicherheit und Entlastung für alle Beteiligten.»

Allemann weist darauf hin, dass der Grosse Rat ein Rotations­prinzip klar verworfen habe. Die Suche nach provisorischen Plätzen sei halt «enorm schwierig, aufwendig und dadurch kosten­intensiv, es braucht immer wieder neue Verhandlungen mit Ge­meinden, Landeigentümern, der Bevölkerung und weiteren Akteuren». Deshalb sei es auch völlig ungewiss, ob im kommenden Jahr überhaupt Ersatz für das nun beendete Provisorium in Brügg gefunden werden könne.

Für Allemann ist klar, dass Brügg nicht als Massstab für weitere Provisorien genommen werden kann, die Situation dort sei wegen der Lage und des Engagements der Freiwilligen «in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall» gewesen. Beim zweiten Provisorium in Gampelen jedenfalls zeichneten sich «wesentlich höhere Kosten» ab. Definitiv abgerechnet sei zwar noch nicht, aber: Auf dem – recht abgelegenen – Platz sei alleinder Aufwand für den Aufbau der Infrastruktur hoch gewesen. (skk)
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/ein-provisorischer-platz-muss-nicht-teuer-sein/story/25108853)


+++HISTORY
SoBli-Autor Benno Tuchschmid über die vergessenen Opfer des Dritten Reichs: Nazis töteten über 200 Schweizer in Konzentrationslagern
In einem neuen Buch wird erstmals die unerforschte Geschichte der Schweizer KZ-Häftlinge aufgearbeitet. Brisant ist die Frage: Was taten die Schweizer Behörden, um ihren Bürgern in Not zu helfen? Sie liessen sie in vielen Fällen im Stich.
https://www.blick.ch/news/politik/sobli-autor-benno-tuchschmid-ueber-die-vergessenen-opfer-des-dritten-reichs-nazis-toeteten-ueber-200-schweizer-in-konzentrationslagern-id15584878.html
-> https://www.blick.ch/meinung/schweizer-in-den-konzentrationslagern-der-nazis-bern-hat-die-schweizer-bewusst-im-stich-gelassen-id15586228.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=2156c7c2-d2ab-4cad-b3a8-86960c9a555d



tagesanzeiger.ch 27.10.2019

Schweizer KZ-Opfer erzählen

Ein neues Sachbuch gibt den 400 Schweizerinnen und Schweizern ein Gesicht. Ihre Geschichte war bisher kaum erforscht worden.

 Res Strehle

Wer ein Buch zur Hand nimmt, übersehe nicht die Widmungen. In diesem Fall überraschen sie ­besonders: Balz Spörri und René Staubli, zwei der drei Autoren, widmen ihr am Dienstag erscheinendes, historisches Sachbuch ihren Nachkommen. Nun ist eine Geschichte über Schweizer KZ-­Opfer, erst noch in Buchform, womöglich nicht die naheliegendste Lektüre einer jungen Generation. Umso auffälliger die Widmungen – man ist versucht, sie als Mahnung zu deuten, dass auch die nächste Generation der Nachgeborenen sich der Gräuel dieser Zeit bewusst bleiben soll. Erfahrungsgemäss verblasst die Erinnerung, wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind. Das wäre in diesem Fall besonders fatal, erleben wir es doch gerade wieder, dass am rechten Rand der politischen Parteien mit dem Thema Nationalsozialismus als «Vogelschiss» der deutschen Geschichte gezündelt wird.

Zusammen mit dem Journalistenkollegen Benno Tuchschmid legen die Autoren auf 300 Seiten in Text und Bild einen eindrücklichen Überblick über die Schicksale der Schweizer KZ-Opfer vor. Sie wissen deren Geschichten so zu erzählen, dass man 80 Jahre später noch davon erschüttert wird. Es ­genügte, einen vorbeimarschierenden Sturmtrupp der SA nicht mit dem Hitlergruss zu grüssen, um als Auslandschweizer zusammengeschlagen und abgeführt zu werden; es genügte, homosexuell zu sein; wer in einem kommunistischen Sportverein aktiv war, verlor den diplomatischen Schutz des Heimatlandes, weil man solch ­vaterlandslose Gesellen hier nicht zurückhaben wollte.

Das Buch zeichnet das Spektrum der Opfer mit zehn Lebensgeschichten nach: Marcelle Giudici-Foks etwa, eine lebensfrohe junge Mutter und Tanzlehrerin, nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht; Fritz und Frieda Abegg, Sohn und Tochter einer ausgewanderten Obwaldner Bauernfamilie, deportiert ­wegen der Unterstützung österreichischer Partisanen und danach verschollen; Gino Pezzani, ein Tessiner Maler, deportiert aus Frankreich ins KZ Sachsenhausen unter dem Verdacht der Unterstützung der Résistance, entlassen 1945 als gebrochener Mann.

Kaum Schutz aus der Schweiz

Die Reaktionen von Politik, Medien und Institutionen hier­zulande auf die wachsenden nationalsozialistischen Gräuel im Nachbarstaat schaffen den Spannungsbogen durch das ganze Buch. Speziell deswegen, weil sie in den verschiedenen Phasen der Konzentrationslager so unterschiedlich ausfallen. Erst lassen Schweizer Funktionsträger Deutschland ge­genüber zeitweilig noch so etwas wie Mut erkennen, etwa der ­Gesandte Paul Dinichert, der in einzelnen Fällen inhaftierter Schweizer in Berlin furchtlos interveniert und auch die eine oder ­andere Freilassung bewirkt. Die Lager dienen in dieser Phase in ­erster Linie der Repression, Einschüchterung und Gehirnwäsche. Auch das Justizdepartement in Bern kommt mehrfach zum Schluss, dass die Verhängung der «Schutzhaft» gegen Schweizer ­Bürger, also die Inhaftierung nicht zulässig sei.

Viele Schweizer Medien lassen allerdings die kritische Distanz zu dieser Schreckensherrschaft schon früh vermissen, noch bevor die Schweiz die Zensur einführte. Die Autoren dokumentieren eine Propagandareportage der «Schweizer Illustrierten» aus dem KZ Oranienburg, publiziert zum Frühlingsbeginn 1933 («Arbeit bietet Zerstreuung»). Auch das «Berner Tagblatt» veröffentlicht einen lobenden Bericht, in dem der Gefängnisdirektor in Witzwil seine Anstalt als Modell der deutschen Lager sieht. Und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zeigt sich noch 1940 nach einer Besichtigung des KZ Buchenwald befriedigt über die Haftbedingungen – als das Programm der systematischen Vernichtung dessen, was die Nazis als «unwertes Leben» definierten, schon im Gange war.

Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis wird die Schweiz noch vorsichtiger gegenüber dem grossen Nachbar, die Zahl ihrer bedrohten Bürger im Ausland nimmt mit dem Vormarsch der deutschen Truppen zu. Und wiewohl die Repression für Auslandschweizer mit jüdischen Wurzeln jetzt lebensbedrohlich ist, erhöht die Schweiz den Schutz ihrer Bürger nicht. In Berlin hat inzwischen Hans Frölicher den unbequemen Dinichert als Schweizer Gesandten ersetzt. Er sympathisiert mit den totalitären europäischen Regimen und ist alles andere als ein guter Schutzpatron für deren Opfer.

Kontakte zur Politik waren äusserst hilfreich

Der Frage, was die Schweiz zu welcher Zeit über die Gräuel wissen konnte und wie viel sie für die ­Betroffenen tat, beschäftigt die ­Autoren über das gesamte Buch. Interessant vor allem, für welche Opfer sich die offizielle Schweiz einsetzte: Am wenigsten tat sie für Randständige und Linke, die sie auch als Feinde der Schweiz einstufte, und generell wenig für die Juden, vor deren systematischer Verfolgung und Vernichtung sie lange die Augen verschloss.

Am meisten setzte sich die Schweiz für jene ein, deren Angehörige mit einem Funktionsträger in Politik oder Fremdenpolizei persönlich bekannt waren. Im Nachhinein erscheint schon beinahe als Zufall, wer in den letzten Tagen der zerfallenden Naziherrschaft noch vor den Todesmärschen aufgespürt und gerettet werden konnte. Für die meisten war es zu spät.

Das Buch gibt in einer abschliessenden Memorialliste allen Opfern einen Namen, einigen auch ein Gesicht. Im Ausland gibt es ­solche Listen längst, für Schweiz ist diese ein Novum. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, was diese Opfer durchlitten haben – geschweige denn, dass jemals ­wieder eine Zeit kommen könnte, in der Menschen anderen unter den ­Fiktionen Rasse, Normalität und politische Gesinnung millionenfach Leid zufügen.

Balz Spörri, René Staubli,Benno Tuchschmid:«Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 318 S., ca. 48 Franken Buchvernissage: 29. 10., 19.30 Uhr, Kosmos, Zürich
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/mahnmal-fuer-die-naechste-generation/story/23778281)