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+++ZÜRICH
landbote.ch 26.10.2019
S. muss gehen
Der 24-jährige Afghane S. sitzt im Ausschaffungsgefängnis am Flughafen.
Auf ihn wartet eine ungewisse Zukunft. In seiner Deutschklasse in
Winterthur ist die Sorge gross.
Michael Graf
Es ist früh an einem Freitagmorgen im September, als Tara die
Whatsapp-Nachricht von ihrem Freund bekommt. «Guten Morgen. Wie gehts
dir? Ich habe ein Problem, ich kann dir nicht sagen, was. Mach dir keine
Sorgen. Ich melde mich später.» Sie ruft sofort an, er drückt den Anruf
weg. Dann ist das Handy nicht mehr erreichbar.
An diesem Freitagnachmittag fehlt S. unentschuldigt im Deutschkurs B1 im
alten Winterthurer Busdepot. «Das klingt nicht nach S.», denkt sich
Markus Egli, freiwilliger Deutschlehrer bei Solinetz. S. hat noch nie
unentschuldigt gefehlt. Der pensionierte SRF-Journalist nimmt das
Telefon in die Hand und ruft in der Notunterkunft Rohr in Glattbrugg an.
«Dort hiess es, man dürfe mir keine Auskunft geben.» Egli fragt sich
bis zum Migrationsamt durch.
Wer S. treffen will, muss ein Gesuch beim Flughafengefängnis stellen.
Knapp zwei Wochen nach dem Einreichen des Formulars öffnet sich das
doppelte Gittertor. Beim Empfangsschalter müssen Besucher alle
persönlichen Gegenstände einschliessen und durch einen Metalldetektor
treten. Erlaubt sind: ein Blatt Papier, ein Kugelschreiber. Auf dem Weg
vom Parkplatz kommt man an einem orange-grauen Containerdorf vorbei, wo
S. die letzten Monate gelebt hatte. Von acht Franken am Tag. «Ich hatte
oft Hunger», sagt er, ohne Bitterkeit. Von hier aus hatte er versucht,
sich ein Leben aufzubauen.
S., 24 Jahre alt, kurzes, lockiges Haar, hat ein freundliches
Jungengesicht und spricht fast fliessend Deutsch. Er hat es sich selbst
beigebracht, mit Youtube-Videos eines Iraners, der in Deutschland lebt.
Seit dem Spätsommer besuchte er den Solinetz-Kurs in Winterthur, drei
Stunden jeden Tag, intensiv. «So einen Kurs hatte ich mir immer
gewünscht», sagt er. Einen Monat lang kniete er sich voll rein. Dann
standen um 7.15 Uhr zwei Polizisten an seinem Bett und nahmen ihn mit.
«Zuerst war ich sauer auf ihn», sagt Tara. «Dann machte ich mir Sorgen.»
Es dauert drei Tage, bis sie herausfindet, wo ihr Freund ist. «Auf dem
Weg zum Flughafengefängnis sah ich das erste Mal, wie er gelebt hatte»,
sagt die 24-Jährige. «Ich hatte so viele Fragen an ihn. Als ich durch
den Metalldetektor war und ihn am Tisch sitzen sah, hatte ich sie alle
vergessen.»
Im Klassenzimmer im alten Busdepot in Winterthur bleibt der Stuhl von S.
frei. «Ich verstehe nicht, warum er im Gefängnis ist», sagt Masha, eine
Mitschülerin aus dem Iran. «Er hat nichts Falsches gemacht. S. ist ein
sehr guter Mensch.» Es stimmt: S. hat sich in der Schweiz nichts
zuschulden kommen lassen. Er sitzt einzig in Haft, weil sein Asylgesuch
abgelehnt wurde.
Sechs weitere Schülerinnen und Schüler aus Afghanistan sind in der
Klasse. Haben sie Angst, dass ihnen das Gleiche passieren könnte wie S.?
«Ich habe immer Angst», sagt Asef, der mit S. in der gleichen
Notunterkunft wohnte. «Ich habe Angst, wenn ich in der Notunterkunft
bin, Angst, wenn ich Velo fahre, Angst, wenn ich Bus fahre. Aber seit S.
weg ist, habe ich mehr Angst.» Als er letzte Woche im Bus kontrolliert
wurde, habe er gedacht, der Mann wolle ihn mitnehmen.
«Ich kann nicht zurück nach Afghanistan», sagt S. Seine Familie stammt
aus einem Dorf etwa 120 Kilometer westlich von Afghanistans
zweitgrösster Stadt, Herat, sein Vater war Chauffeur. «Eines Tages sind
etwa 300 Taliban ins Dorf gekommen», sagt er. «Sie töteten zwei
Polizisten. Dann sind die anderen Polizisten geflohen.» Die Familie von
S. packte alle Habseligkeiten ins Auto und floh ebenfalls, ins Städtchen
Islam Qala an der iranischen Grenze. «Als der Vater unser Haus
verkaufte, gab er mir Geld. Er sagte: Du musst gehen. Die Taliban
wissen, dass du zugesehen hast, wie der Polizist getötet wurde.» S.
flieht. Türkei, Griechenland, Balkanroute: Es ist der Sommer 2015, die
Grenzen sind offen. Der 19-Jährige landet in München, ohne Geld und ohne
Handy. Eine afghanische Familie, die er kennen gelernt hat, sagt ihm,
sie kenne Leute in der Schweiz. Sie kommen bis zur Grenze in Basel. S.
stellt ein Asylgesuch und wird in die Asylunterkunft Schwerzenbach
eingeteilt.
«Du hast wahnsinnig viel Zeit, wenn du nicht arbeiten darfst», sagt er.
Er beginnt, Deutsch zu lernen, spielt Fussball. Zuletzt ist er Stürmer
bei der zweiten Mannschaft, vierte Liga. «Ich bin ziemlich gut», sagt er
und lächelt verschmitzt. Bei Matchs durfte er nie spielen, weil er
keine Lizenz hatte. «Jede Woche hat der Trainer gefragt: Wann bekommst
du Bescheid?»
Nach einem Jahr kommt der Bescheid. Er ist negativ. «Krieg ist kein
Asylgrund», sagt seine Anwältin, Lena Weissinger. Als gesunder junger
Mann habe S. in Herat eine «zumutbare, innerstaatliche Wohnalternative».
Weissinger sagt: Allein letzte Woche starben in Afghanistan mindestens
147 Menschen bei Anschlägen und militärischen Auseinandersetzungen.
S. wird in die Notunterkunft Urdorf umgeteilt, ein unterirdischer
Bunker. «So kann man nicht leben», sagt er. «Wir waren 30 Männer in
einem Raum. Und es waren schlechte Menschen dabei. Sie rauchten,
tranken, stahlen.» Von Anfang an erhält S. eine «Eingrenzung»: Er darf
nicht nach Zürich, wo es Sprachkurse gäbe. S. flüchtet nach Deutschland,
beantragt dort Asyl. Nach einigen Monaten bringt ihn die Polizei
zurück. S. bleibt sieben Monate in Urdorf, dann wird er nach Glattbrugg
versetzt. Im Sommer erfährt er vom Solinetz-Kurs in Winterthur.
«S. brachte Sonnenschein in die Klasse», sagt Markus Egli. Er wurde
neben Soheila gesetzt, eine 55-jährige Frau aus Afghanistan, die bisher
eher verschlossen war. «Innerhalb von kürzester Zeit begann sie zu
lachen und erzielte bessere Fortschritte als bisher. Wenn S. einmal
fehlte, war die Stimmung nicht so gelöst.»
Wie es seiner Familie heute geht, weiss S. nicht. Im Gefängnis wurde ihm
das Handy abgenommen. Einer seiner Mitbewohner glaubt, sie lebe
inzwischen im Iran. Klar scheint: In Islam Qala konnte sie nie recht
Fuss fassen. «Alles, was wir hatten, war in unserem Dorf», sagt S. Am
neuen Ort hätten die örtlichen Chauffeure dafür gesorgt, dass sein
Vater, der Neuankömmling, keine Aufträge bekam. «Zu meiner Familie kann
ich nicht», sagt S. «Sie können selbst kaum leben.»
Tara und S. lernen sich im April diesen Jahres beim Beachvolleyball
kennen. «Ich fragte ihn nach seiner Nummer und sagte, ich kann dir
schreiben, wenn wir wieder da sind», sagt sie. Sie ist dann fast jeden
Tag da. Es ist ein langer, warmer Sommer. «Er war sehr charmant und
liebenswürdig und nie aufdringlich», sagt sie. «Ich konnte mit meinen
Sorgen zu ihm kommen.» Zu Tara nach Hause darf er nicht: Ihre Eltern
sind sehr streng, sie würden nur einen Mann aus ihrem Heimatland
akzeptieren. Seine Whatsapp-Nachrichten hat sie gelöscht, damit ihre
Eltern sie nicht finden. Das Einzige, was ihr von ihm bleibt, ist eine
Halskette, die er ihr geschenkt hat.
Tagsüber kann sich S. im Gefängnis mit seinen Büchern ablenken. Noch
immer lernt er Deutsch. Noch immer hat er eine vage Hoffnung. «Als Kind
habe ich davon geträumt, Krankenpfleger zu werden», sagt er. Fast
täglich bekommt er Besuch: von Tara, von der Deutschklasse, von seiner
Anwältin, von Fussballfreunden. Nachts schläft er kaum. «Es kann
jederzeit so weit sein.»
Auch Markus Egli schläft schlecht. «Das besetzt mich jeden Tag, jede
Nacht», sagt er. Er schreibt Briefe an Justizdirektorin Jacqueline Fehr,
die er von früher kennt, an Sicherheitsdirektor Mario Fehr, an
Staatsekretär Mario Gattiker. Er beschreibt seinen Besuch bei S. in
einem Facebook-Post in der Solinetz-Gruppe, der eine grosse Resonanz
auslöst. S. kann ihn nicht lesen, aber er sagt, er freut sich.
Am Montag dieser Woche, drei Tage nach dem Gespräch im Gefängnis, ist es
so weit. S. wird in Handschellen abgeführt, er ist zunächst wie
gelähmt. Erst auf der Treppe zum Flugzeug kommt er zu sich. Im Flugzeug
schreit er, in Todesangst, zerrt an seinen Ketten. Die Fluglinie
weigerte sich, ihn so zu transportieren.
«Jeder Mensch liebt seine Heimat», sagt Reza aus seiner Deutschklasse.
«Du gehst nur, wenn du musst.» Alle nicken. Ein anderer sagt: «In
Afghanistan fallen jeden Tag Bomben. Jeder weiss, dass es nicht sicher
ist.» Die offizielle afghanische Regierung stellt seit einiger Zeit
grosszügig Laissez-passer-Papiere aus. Damit können abgewiesene
Asylbewerber einfacher aus der Schweiz zurückgeschafft werden.
«Als ich ihn am Tag nach dem Ausschaffungsversuch besucht habe, habe ich
nur geheult», sagt Tara. «Er sagte: Ich bin doch da für dich.» Wann der
zweite Ausschaffungsversuch von S. stattfindet, weiss niemand. Es kann
nächste Woche sein. Oder heute.
–
Die Flüchtlingshilfe kritisiert die Politik des Bundes
Seit März ist es wieder möglich, abgewiesene Asylsuchende nach
Afghanistan auszuschaffen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM)
kann damit nach fast zweijähriger Blockade wieder polizeilich begleitete
Rückführungen durchführen. Davon hat es mehrfach Gebrauch gemacht. Im
Kanton Zürich gab es im laufenden Jahr bis anhin 52
Wegweisungsentscheide gegen afghanische Asylsuchende. Zwei davon wurden
in ihre Heimat zurückgeführt. Schweizweit waren es insgesamt vier
Rückführungen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe kritisiert das SEM
scharf. «Die Sicherheitslage verschlechtert sich im ganzen Land weiter»,
schreibt sie auf der Website. «Die Praxis ist angesichts der Realität
vor Ort unhaltbar.» Wie ein Sprecher mitteilt, empfindet das SEM
Rückweisungen als zumutbar, sofern Ausgewiesene dort ein soziales
Netzwerk haben sowie jung und gesund sind. Die Reisehinweise des
Aussendepartements richteten sich an Schweizer Staatsbürger und seien
nicht vergleichbar mit «den individuellen und intensiven Abklärungen»,
die vor einem Wegweisungsentscheid vorgenommen würden. Die Schweiz ist
eines der effizientesten Länder bei Ausschaffungen. Während in der EU
rund jede dritte Ausschaffung erfolgreich war, ist es in der Schweiz
mehr als jede zweite. Die Zahl der hängigen Wegweisungen hat sich in den
letzten Jahren deutlich verringert. Justizministerin Karin
Keller-Sutter (FDP) will die Asylpraxis weiter verschärfen. In ihrem
Auftrag präsentierte das SEM im September Massnahmen. Wirkung zeigen
könnten laut SEM die neuen Visa-Regeln, die im Februar in Kraft treten.
Die Schweiz und die EU werden künftig Staaten bestrafen, die bei
Rückschaffungen unkooperativ sind, indem sie Visa-Anträge verzögert
beantworten oder höhere Gebühren verlangen.(lia)
(https://www.landbote.ch/front/s-muss-gehen/story/22942192)
+++MITTELMEER
Schiff Open Arms mit 45 Migranten darf in Malta ankern
Die Hilfsorganisation kritisierte, dass sie die maltesischen
Rettungskräfte alarmiert habe, diese jedoch auf die Hilferufe nicht
reagiert hätten
https://www.derstandard.at/story/2000110381770/schiff-open-arms-mit-45-migranten-darf-in-malta-ankern?ref=rss
Seenotrettung und Libyen: Feuer frei
Die Küstenwache feuert auf das deutsche Schiff „Alan Kurdi“ Warnschüsse
ab. Dabei waren die Behörden vorab über die Aktion informiert.
https://taz.de/Seenotrettung-und-Libyen/!5633428/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1127747.sea-eye-warnschuesse-auf-seenotretter.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/sea-eye-alan-kurdi-crew-bei-rettung-von-libyern-bedroht-135878860
+++EUROPA
Flüchtlingsdeal: Oettinger will, dass die EU der Türkei die Zahlungen kürzt
Die Türkei kümmert sich um syrische Flüchtlinge, die EU zahlt – diesen
Deal stellt der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger nicht infrage,
wohl aber die Höhe der Milliardenhilfen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/guenther-oettinger-eu-sollte-der-tuerkei-die-zahlungen-kuerzen-a-1293530.html
+++LIBYEN
Besuch des Außenministers – Maas will in Libyen vermitteln – und erlebt Schreckmoment
Bisher sind alle Vermittler in Libyen gescheitert – nun versucht es
Berlin. Wie kritisch die Lage in dem Bürgerkriegsland ist, erlebte
Außenminister Maas bei einem Besuch hautnah.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/maas–will-im-libyen-konflikt-vermitteln-100.html
Alltag unter Beschuss: Libyer trotzen dem Krieg
In Libyen herrscht Chaos. Zahlreiche Milizen kämpfen um Einfluss.
Deutschland will in dem Konflikt vermitteln. Deswegen reiste
Bundesaußenminister Maas nach Tripolis. Die Bewohner fürchten jeden Tag
um ihr Leben.
https://www.tagesschau.de/ausland/libyen-425.html
+++FREIRÄUME
Gegen Armut und Hilflosigkeit: Dieses Kleinbasler Internet-Café ist ein Planet für Ausgegrenzte
Ein Internetcafé im Kleinbasel will Treffpunkt für alle sein. Entstanden ist es aus einer politischen Bewegung.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/gegen-armut-und-hilflosigkeit-dieses-kleinbasler-internet-caf-ist-ein-planet-fuer-ausgegrenzte-135869318
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gesperrte Schalter am EAP – Demonstration am Basler Flughafen gegen Krieg in Nordsyrien
Am Sonntagmorgen haben rund 50 Menschen mit Transparenten vor den Check-in-Schalter der Turkish Airlines demonstriert.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/gesperrte-schalter-am-eap-demonstration-am-basler-flughafen-gegen-krieg-in-nordsyrien
->https://www.facebook.com/rjgbern/videos/vb.504346633051195/839108976923865/?type=2&theater
Seebrücke Aktion in Luzern
Am Samstagmorgen haben wir, die Gruppen RESolut und Seebrücke an der
Seebrücke ein grosses Transparent mit der Aufschrift “39 Refugees died
in GB – Sichere Fluchtwege jetzt! – safe passage now!” aufgehängt.
https://resolut.noblogs.org/post/2019/10/26/seebruecke-aktion-in-luzern/
+++KNAST
Im Gefängnis Lenzburg treffen sich Opfer und Täter zu Gesprächen – das löst auch bei Schwerverbrechern Unerwartetes aus
In der Justizvollzugsanstalt Lenzburg treffen sich Opfer und Täter zu
Gesprächen. Was als Hilfe für von Verbrechen traumatisierte Menschen
gedacht war, löst auch bei Schwerverbrechern Unerwartetes aus.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/lenzburg/im-gefaengnis-lenzburg-treffen-sich-opfer-und-taeter-zu-gespraechen-das-loest-auch-bei-schwerverbrechern-unerwartetes-aus-135870889
+++RECHTSEXTREMISMUS
Das Buch „Extreme Sicherheit“
Immer wieder wird über rechtsextreme Vorfälle in Polizei,
Verfassungsschutz, Bundeswehr oder Justiz berichtet. Geht es dabei um
Einzelfälle? | mehr
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/extreme-sicherheit-102.html
+++JENISCHE/SINTI/ROMA
bernerzeitung.ch 27.10.2019
Ein provisorischer Platz muss nicht teuer sein
Brügg hat es vorgemacht: Dank einfacher Infrastruktur und viel
Freiwilligenarbeit lässt sich ein befristeter Transitplatz für Fahrende
günstig betreiben.
Stephan Künzi
Die Fahrenden sind abgezogen, verlassen liegt das Kiesareal zwischen
Autostrasse und Industrie da. Mit dem Sommer ist auch die zweite und
letzte Saison auf dem provisorischen Transitplatz in Brügg Anfang
Oktober zu Ende gegangen – pünktlich, wie Gemeindepräsident Marc
Meichtry betont. «Die letzten Familien sind zum vereinbarten Termin
weitergefahren.»
Problemlos sei die Schliessung gewesen, problemloser noch als vor
Jahresfrist, als einige Nachzügler wegen Aufträgen aus der Region länger
hätten bleiben wollen. «Sie haben den Platz auch sauber hinterlassen»,
fährt Meichtry fort und wiederholt, was er schon vor Monatsfrist
angetönt hatte: Brügg ist im Grossen und Ganzen mit den Fahrenden gut
gefahren. Zum zweiten Mal.
Dabei scheint die Meinung im Kanton Bern gemacht zu sein. Provisorische
Transitplätze wie jener in Brügg sind nur so lange nötig, wie es keine
definitive Lösungen gibt. Mit dem Projektam Autobahnparkplatz bei
Wileroltigen ist nun so ein erster fixer Platz in Sicht.
Als der Grosse Rat im Frühling über die dafür nötigen 3,2 Millionen
Franken debattierte, warf die zuständige Regierungsrätin Evi Allemann
(SP) als Argument in die Waagschale: In regelmässigen Abständen neue
Provisorien einrichten zu müssen, sei nicht nur aufwendig, sondern «auch
mit einem grossen finanziellen Aufwand verbunden» (siehe Kasten unten).
Dem hält Meichtry nun im Rückblick auf seine Erfahrungen entgegen: Ein
provisorischer Transitplatz muss nicht teuer sein. Sofern er an einem
geeigneten Ort eingerichtet wird.
Anschlüsse in der Nähe
In Brügg waren die Umstände in der Tat günstig. Für den Transitplatz
konnten die Behörden auf ein brach liegendes Areal im voll erschlossenen
Industriegebiet zurückgreifen.
Die Schächte, an denen sich das Abwasserrohr und das Stromkabel andocken
liessen, lagen direkt jenseits der Grenze zur Nachbarparzelle, ähnlich
günstig stand auch der Hydrant für die Wasserleitung. Dass das Areal
über keinen asphaltierten oder anderweitig befestigten Boden verfügte,
erleichterte die Arbeiten zusätzlich. Das ersparte der Gemeinde
aufwendige, teure Grabarbeiten.
Der Untergrund sollte trotzdem grössere Ausgaben nach sich ziehen. Nicht
nur, weil der Platz eigens für die Fahrenden eingekiest werden musste:
Meichtry erinnert daran, dass einst ein Industriebau auf dem Gelände
stand. Davon ist das Kellergeschoss noch übrig, und diesen Hohlraum habe
man stabilisieren müssen.
Wieder vergleichsweise günstig zu stehen kamen der Toilettencontainer
sowie die beiden Arbeitscontainer für die Schreiner- und
Maleraktivitäten der Fahrenden. Alles in allem habe die Gemeinde 120’000
Franken in den Platz investiert, rechnet Meichtry vor.
Diese Kosten habe man über die Gebühren für die im ersten Jahr etwas
mehr und im zweiten Jahr etwas weniger als zwanzig Plätze decken können –
fast jedenfalls. Für die insgesamt 20’000 Franken Defizit aus den
beiden Jahren werde der Kanton aufkommen.
Natürlich weiss Meichtry auch, dass es ohne den harten Kern der rund
fünfzehn Freiwilligen nicht gegangen wäre. Die Gruppe hatte sich nach
einem Infoabend gebildet. Sie schaute zwei- bis dreimal pro Woche auf
dem Platz vorbei, wies die Fahrenden auf die hiesigen Gepflogenheiten
hin und zog das Geld für die Gemeinde ein. So hätten die Neuankömmlige
gleich von Anfang an gewusst, was gelte. Zu grösseren Konflikten sei es
erst gar nicht gekommen.
Einen Schritt machten übrigens auch die Freiwilligen. Sie hatten sich
ursprünglich gemeldet, um auf dem Platz zum Rechten sehen zu können,
doch je länger der Einsatz dauerte, umso mehr legten sie ihre kritische
Distanz ab. Am Schluss traf man sich regelmässig auf dem Platz zum
Feierabendbier.
Alle zwei Jahre weiter
Trotzdem ist Meichtry froh, dass die zwei Jahre um sind, und er sagt
auch deutlich, dass für ihn eine Verlängerung nie zur Debatte stand.
Nicht allein wegen der vielen Arbeit für Behörden und Freiwillige,
sondern vor allem auch, weil die zeitliche Begrenzung massgeblich zur
Akzeptanz in der Bevölkerung beitrug: «Wir haben versprochen, dass nach
zwei Jahren Schluss ist, und daran halten wir uns.»
Letztlich habe der provisorische Charakter entscheidend zum Erfolg in
Brügg beigetragen. Offen lässt Meichtry durchblicken, dass er diese Art
Transitplatz für die beste hält. Die Voraussetzungen für wechselnde
Standorte wären seiner Meinung nach gerade in der Region Biel günstig.
«Es gibt etliche Brachflächen, die in ähnlicher Art im Siedlungsgebiet
liegen und sich in ähnlich günstiger Art erschliessen lassen.» Wieso
also die Fahrenden nicht für zwei Jahre hierhin und für weitere zwei
Jahre dorthin weisen?
Dass es dabei ohne den Goodwill der betroffenen Behörden nicht geht,
weiss Meichtry sehr wohl, und dass in der Vergangenheit kaum jemand den
Transitplatz haben wollte, genauso. Bei einem Modell mit rotierenden
Provisorien müssten sich die Gemeinden halt solidarisch zeigen, mahnt
er. Wer wann an der Reihe ist, könnte in den Regionalverbänden und
-konferenzen ausgehandelt werden.
So überzeugt Meichtry von seiner Idee ist, so grosse Fragezeichen macht
er zu den offiziellen Plänen für Wileroltigen. Ein fixer Platz sei zwar
immer noch besser als gar nichts, sagt er, aber: «Ich möchte in meiner
Gemeinde auf alle Fälle keinen fixen Platz für Fahrende», sagt er. Das
ganze Drum und Dran wäre ihm auf die Dauer doch zu aufwendig. Allen
guten Erfahrungen zum Trotz.
–
Für den Kanton kann Brügg nicht der Massstab sein
Mit seinem Plädoyer zugunsten provisorischer Transitplätze stösst Marc
Meichtry beim Kanton auf wenig Widerhall. Regierungsrätin Evi Allemann
(SP) hält dem Brügger Gemeindepräsidenten entgegen: Nicht die zeitliche
Begrenzung sei für die Akzeptanz in der Bevölkerung entscheidend,
sondern ein geordneter Betrieb. Der in Wileroltigen geplante fixe Platz
biete dafür gute Voraussetzungen. «Eine klare Situation schafft
Sicherheit und Entlastung für alle Beteiligten.»
Allemann weist darauf hin, dass der Grosse Rat ein Rotationsprinzip
klar verworfen habe. Die Suche nach provisorischen Plätzen sei halt
«enorm schwierig, aufwendig und dadurch kostenintensiv, es braucht
immer wieder neue Verhandlungen mit Gemeinden, Landeigentümern, der
Bevölkerung und weiteren Akteuren». Deshalb sei es auch völlig ungewiss,
ob im kommenden Jahr überhaupt Ersatz für das nun beendete Provisorium
in Brügg gefunden werden könne.
Für Allemann ist klar, dass Brügg nicht als Massstab für weitere
Provisorien genommen werden kann, die Situation dort sei wegen der Lage
und des Engagements der Freiwilligen «in vielerlei Hinsicht ein
Glücksfall» gewesen. Beim zweiten Provisorium in Gampelen jedenfalls
zeichneten sich «wesentlich höhere Kosten» ab. Definitiv abgerechnet sei
zwar noch nicht, aber: Auf dem – recht abgelegenen – Platz sei
alleinder Aufwand für den Aufbau der Infrastruktur hoch gewesen. (skk)
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/ein-provisorischer-platz-muss-nicht-teuer-sein/story/25108853)
+++HISTORY
SoBli-Autor Benno Tuchschmid über die vergessenen Opfer des Dritten
Reichs: Nazis töteten über 200 Schweizer in Konzentrationslagern
In einem neuen Buch wird erstmals die unerforschte Geschichte der
Schweizer KZ-Häftlinge aufgearbeitet. Brisant ist die Frage: Was taten
die Schweizer Behörden, um ihren Bürgern in Not zu helfen? Sie liessen
sie in vielen Fällen im Stich.
https://www.blick.ch/news/politik/sobli-autor-benno-tuchschmid-ueber-die-vergessenen-opfer-des-dritten-reichs-nazis-toeteten-ueber-200-schweizer-in-konzentrationslagern-id15584878.html
-> https://www.blick.ch/meinung/schweizer-in-den-konzentrationslagern-der-nazis-bern-hat-die-schweizer-bewusst-im-stich-gelassen-id15586228.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=2156c7c2-d2ab-4cad-b3a8-86960c9a555d
—
tagesanzeiger.ch 27.10.2019
Schweizer KZ-Opfer erzählen
Ein neues Sachbuch gibt den 400 Schweizerinnen und Schweizern ein Gesicht. Ihre Geschichte war bisher kaum erforscht worden.
Res Strehle
Wer ein Buch zur Hand nimmt, übersehe nicht die Widmungen. In diesem
Fall überraschen sie besonders: Balz Spörri und René Staubli, zwei der
drei Autoren, widmen ihr am Dienstag erscheinendes, historisches
Sachbuch ihren Nachkommen. Nun ist eine Geschichte über Schweizer
KZ-Opfer, erst noch in Buchform, womöglich nicht die naheliegendste
Lektüre einer jungen Generation. Umso auffälliger die Widmungen – man
ist versucht, sie als Mahnung zu deuten, dass auch die nächste
Generation der Nachgeborenen sich der Gräuel dieser Zeit bewusst bleiben
soll. Erfahrungsgemäss verblasst die Erinnerung, wenn die letzten
Zeitzeugen verstorben sind. Das wäre in diesem Fall besonders fatal,
erleben wir es doch gerade wieder, dass am rechten Rand der politischen
Parteien mit dem Thema Nationalsozialismus als «Vogelschiss» der
deutschen Geschichte gezündelt wird.
Zusammen mit dem Journalistenkollegen Benno Tuchschmid legen die Autoren
auf 300 Seiten in Text und Bild einen eindrücklichen Überblick über die
Schicksale der Schweizer KZ-Opfer vor. Sie wissen deren Geschichten so
zu erzählen, dass man 80 Jahre später noch davon erschüttert wird. Es
genügte, einen vorbeimarschierenden Sturmtrupp der SA nicht mit dem
Hitlergruss zu grüssen, um als Auslandschweizer zusammengeschlagen und
abgeführt zu werden; es genügte, homosexuell zu sein; wer in einem
kommunistischen Sportverein aktiv war, verlor den diplomatischen Schutz
des Heimatlandes, weil man solch vaterlandslose Gesellen hier nicht
zurückhaben wollte.
Das Buch zeichnet das Spektrum der Opfer mit zehn Lebensgeschichten
nach: Marcelle Giudici-Foks etwa, eine lebensfrohe junge Mutter und
Tanzlehrerin, nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis nach
Auschwitz deportiert und dort umgebracht; Fritz und Frieda Abegg, Sohn
und Tochter einer ausgewanderten Obwaldner Bauernfamilie, deportiert
wegen der Unterstützung österreichischer Partisanen und danach
verschollen; Gino Pezzani, ein Tessiner Maler, deportiert aus Frankreich
ins KZ Sachsenhausen unter dem Verdacht der Unterstützung der
Résistance, entlassen 1945 als gebrochener Mann.
Kaum Schutz aus der Schweiz
Die Reaktionen von Politik, Medien und Institutionen hierzulande auf
die wachsenden nationalsozialistischen Gräuel im Nachbarstaat schaffen
den Spannungsbogen durch das ganze Buch. Speziell deswegen, weil sie in
den verschiedenen Phasen der Konzentrationslager so unterschiedlich
ausfallen. Erst lassen Schweizer Funktionsträger Deutschland gegenüber
zeitweilig noch so etwas wie Mut erkennen, etwa der Gesandte Paul
Dinichert, der in einzelnen Fällen inhaftierter Schweizer in Berlin
furchtlos interveniert und auch die eine oder andere Freilassung
bewirkt. Die Lager dienen in dieser Phase in erster Linie der
Repression, Einschüchterung und Gehirnwäsche. Auch das Justizdepartement
in Bern kommt mehrfach zum Schluss, dass die Verhängung der
«Schutzhaft» gegen Schweizer Bürger, also die Inhaftierung nicht
zulässig sei.
Viele Schweizer Medien lassen allerdings die kritische Distanz zu dieser
Schreckensherrschaft schon früh vermissen, noch bevor die Schweiz die
Zensur einführte. Die Autoren dokumentieren eine Propagandareportage der
«Schweizer Illustrierten» aus dem KZ Oranienburg, publiziert zum
Frühlingsbeginn 1933 («Arbeit bietet Zerstreuung»). Auch das «Berner
Tagblatt» veröffentlicht einen lobenden Bericht, in dem der
Gefängnisdirektor in Witzwil seine Anstalt als Modell der deutschen
Lager sieht. Und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zeigt sich
noch 1940 nach einer Besichtigung des KZ Buchenwald befriedigt über die
Haftbedingungen – als das Programm der systematischen Vernichtung
dessen, was die Nazis als «unwertes Leben» definierten, schon im Gange
war.
Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis wird die Schweiz noch
vorsichtiger gegenüber dem grossen Nachbar, die Zahl ihrer bedrohten
Bürger im Ausland nimmt mit dem Vormarsch der deutschen Truppen zu. Und
wiewohl die Repression für Auslandschweizer mit jüdischen Wurzeln jetzt
lebensbedrohlich ist, erhöht die Schweiz den Schutz ihrer Bürger nicht.
In Berlin hat inzwischen Hans Frölicher den unbequemen Dinichert als
Schweizer Gesandten ersetzt. Er sympathisiert mit den totalitären
europäischen Regimen und ist alles andere als ein guter Schutzpatron für
deren Opfer.
Kontakte zur Politik waren äusserst hilfreich
Der Frage, was die Schweiz zu welcher Zeit über die Gräuel wissen konnte
und wie viel sie für die Betroffenen tat, beschäftigt die Autoren
über das gesamte Buch. Interessant vor allem, für welche Opfer sich die
offizielle Schweiz einsetzte: Am wenigsten tat sie für Randständige und
Linke, die sie auch als Feinde der Schweiz einstufte, und generell wenig
für die Juden, vor deren systematischer Verfolgung und Vernichtung sie
lange die Augen verschloss.
Am meisten setzte sich die Schweiz für jene ein, deren Angehörige mit
einem Funktionsträger in Politik oder Fremdenpolizei persönlich bekannt
waren. Im Nachhinein erscheint schon beinahe als Zufall, wer in den
letzten Tagen der zerfallenden Naziherrschaft noch vor den Todesmärschen
aufgespürt und gerettet werden konnte. Für die meisten war es zu spät.
Das Buch gibt in einer abschliessenden Memorialliste allen Opfern einen
Namen, einigen auch ein Gesicht. Im Ausland gibt es solche Listen
längst, für Schweiz ist diese ein Novum. Man kann sich heute kaum mehr
vorstellen, was diese Opfer durchlitten haben – geschweige denn, dass
jemals wieder eine Zeit kommen könnte, in der Menschen anderen unter
den Fiktionen Rasse, Normalität und politische Gesinnung millionenfach
Leid zufügen.
Balz Spörri, René Staubli,Benno Tuchschmid:«Die Schweizer KZ-Häftlinge.
Vergessene Opfer des Dritten Reichs», NZZ Libro, 318 S., ca. 48 Franken
Buchvernissage: 29. 10., 19.30 Uhr, Kosmos, Zürich
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/mahnmal-fuer-die-naechste-generation/story/23778281)