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+++ZÜRICH
tagesanzeiger.ch 19.10.2019
Missstände in Asylzentren: Zürich zieht sich aus Untersuchung zurück
Der Kanton hat sich nachträglich entschieden, nun doch keine Auskunft zu geben. Die Forschungsleitung reagiert irritiert.
Liliane Minor
Diese Woche deckte ein Bericht des Kompetenzzentrums für Menschenrechte
erschreckende Zustände in kantonalen Asylzentren auf: Viele Frauen und
Mädchen werden dort Opfer von Übergriffen und sexueller Gewalt. Der
Bericht hat Einrichtungen in den fünf Kantonen Genf, Bern, Thurgau,
Neuenburg und Nidwalden untersucht. Nicht dabei ist Zürich – trotz
anfänglicher Zusage.
«Zürich hat sich nachträglich aus der Untersuchung zurückgezogen»,
heisst es im Bericht. Der Kanton habe zum Zeitpunkt der Befragung den
Betrieb der Unterkünfte neu ausgeschrieben, ist als Grund angegeben.
Rainer Linsbauer vom Kantonalen Sozialamt bestätigt diese Darstellung
auf Anfrage: «Mit der Neuvergabe der Mandate war eine Untersuchung der
aktuellen Lage nicht sinnvoll.»
Absage kam sehr spät
Für Forschungsleiterin Tina Büchler ist die Absage bedauerlich: «Zürich
wäre für uns wichtig gewesen, unter anderem, weil der Kanton als einer
der wenigen grossflächig mit einem privaten Anbieter zusammenarbeitet.»
Ausserdem hätten die Forscher gern die Situation in Genf und Zürich
verglichen.
Einen Ersatz für Zürich gab es nicht. Weil sich das Kantonale Sozialamt
erst spät aus der Befragung zurückgezogen habe, habe die Zeit gefehlt,
um Asylzentren in einem anderen Kanton zu befragen.
Die Begründung für die Zürcher Absage kann Büchler zumindest aus
wissenschaftlicher Sicht nicht nachvollziehen: «Die Neuausschreibung
wäre aus unserer Sicht kein Problem gewesen. Und unser Bericht hätte dem
Kanton gerade im Hinblick auf allfällige Betreiberwechsel wertvolle
Hinweise für die künftige Gestaltung der Unterbringung geben können.» Im
Kanton Bern sei man in einer vergleichbaren Lage gewesen, dort aber war
die laufende Neuausschreibung kein Grund, nicht an der Befragung
teilzunehmen.
Irritiert ist auch Georgiana Ursprung vom Hilfswerk Terre des Femmes.
Die Begründung wirke vorgeschoben, findet sie: «Auf dem Platz Zürich
gibt es ohnehin nur zwei grosse Anbieter, ORS und AOZ, welche
Flüchtlinge betreuen, ein Umbruch war also nicht zu erwarten.» Der
Rückzug passe aber in die Informationspolitik der Sicherheitsdirektion:
«Es ist nicht das erste Mal, dass Zürich mit Informationen sehr
zurückhaltend ist – als wollte der Kanton nicht, dass man genauer
hinschaut.»
Prekäre Bedingungen?
Rainer Linsbauer weist diese Darstellung zurück: Mit der Neuvergabe sei
zum Beispiel das Gesundheitskonzept stark verbessert worden. Der Kanton
Zürich spiele damit, aber auch mit den Angeboten für Gewaltbetroffene
und «insgesamt bezüglich der Sensibilität für das Thema» im
interkantonalen Vergleich eine Vorreiterrolle. Die Forderungen, welche
im Bericht erhoben werden – etwa nach getrennten sanitären Einrichtungen
und von innen abschliessbaren Zimmern –, seien in den Zürcher Zentren
allesamt erfüllt.
«Gut, wenn es so ist», sagt Georgiana Ursprung. Sie ist dennoch
skeptisch. Die Situation in den Asylzentren sei das eine: «Aber in den
Nothilfeunterkünften sind die Bedingungen für Frauen nach wie vor
prekär.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/keine-infos-ueber-zuercher-asylzentren-fuer-forscher/story/14686282)
+++SCHWEIZ
Folter-Flug nach Bagdad – Iraker erhebt schwere Vorwürfe gegen die Schweiz: Mit Gewalt in die alte Heimat
Gefesselt, geschlagen, gewürgt: Ein Iraker erhebt nach seiner Ausschaffung schwere Vorwürfe.
https://www.blick.ch/news/schweiz/folter-flug-nach-bagdad-iraker-erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-die-schweiz-mit-gewalt-in-die-alte-heimat-id15574243.html
Das neue Bundeslager ist eröffnet!
Ein kritischer Bericht der Recherchegruppe Embrach – Oktober 2019
Dieser Text ist bereits als Broschüre erschienen und infomiert über das
neu eröffnete Bundeslager am Römerweg 21 in Embrach, Kanton Zürich. Der
Bericht bietet Einblick in den Lageralltag in Embrach und platziert eine
grundsätzliche Kritik an dieser Lagerpolitik.*
https://barrikade.info/article/2748
+++EUROPA
ARCI: Security and Migration
Sara Prestianni hat bei ARCI eine Studie herausgebracht, welche die
EU-Politik und insbesondere die italienische Politik der
Migrationsabwehr, die ausufernde Rolle von FRONTEX und Eindrücke von
Konferenzen der Sicherheitsindustrie, Stand März 2019, untersucht. Die
Broschüre konzentriert sich auf drei Fallbeispiele: Libyen, Niger und
Ägypten.
Die Broschüre HIER als PDF: https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2019/10/ARCI-SECURITY-and-MIGRATION_20191018_0001.pdf
https://ffm-online.org/arci-security-and-migration/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kritik an Erdoğans Krieg wächst
Der türkische Einmarsch in Nordsyrien geht in die zweite Woche.
Mittlerweile hat in der Schweiz das Ringen um die Deutungshoheit
begonnen.
https://telebasel.ch/2019/10/19/kritik-an-erdoans-krieg-waechst/?channel=105100
In Luzern protestieren an die Tausend Menschen gegen die türkischen Kriegstreiber in Nordsyrien
Viele hundert Personen haben am Samstagnachmittag in Bern, Luzern und
Genf gegen die Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien demonstriert.
Sie forderten ein sofortiges Ende des Nordsyrien-Kriegs und ein Ende der
Unterdrückung der Kurden.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/in-luzern-protestieren-hunderte-gegen-die-tuerkischen-kriegstreiber-in-nordsyrien-ld.1161321
-> https://www.zentralplus.ch/in-luzern-brauchts-bis-zur-bewilligung-nur-wenige-stunden-1636617/
-> https://www.tele1.ch/sendungen/1/Nachrichten#515829_3
-> https://www.tele1.ch/artikel/157417/in-luzern-demonstrierten-hunderte-gegen-den-krieg-in-nordsyrien
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/mahnwache-wird-zum-zuger-politikum-ld.1161206
-> https://www.zentralplus.ch/organisatoren-wollen-antworten-zum-zuger-mahnwache-verbot-1636363/
-> https://www.zentralplus.ch/mahnwache-fuer-syrien-abgesagt-aus-sicherheitsgruenden-1634531/
Proteste gegen Krieg in Syrien – Wie Schweizer Linksextreme die Kurden-Demos missbrauchen
Seit Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien mehren sich in der Schweiz gewalttätige Aktionen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/proteste-gegen-krieg-in-syrien-wie-schweizer-linksextreme-die-kurden-demos-missbrauchen
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=f171a956-9dfc-4128-8c85-14bb9d4e136f&startTime=559.145
(FB RJG Bern)
Heute haben etwa 2000 solidarische Menschen ihre Wut gegen Erdogans
Genozid auf die Strassen Berns getragen. Unsere Arbeit endet natürlich
nicht hier. Nicht nur in Rojava fallen die Bomben: Bis das System zum
Einsturz gebracht wird, werden die Vermögenden das Blut der Menschen zu
Profiten machen.
Lautstark haben wir ein Zeichen gesetzt gegen die Tötungindustrie der
Waffenkonzerne, gegen den Angriffskrieg auf die Menschen Rojavas. Immer
wieder müssen wir die Menschen in ihrem grauen Alltag mit einem Schimmer
Farbe daran errinnern, dass eine emanzipatorische, solidarische
Gesellschaft keine Utopie bleiben muss. In Rojava haben es die Menschen
geschafft, ein Stück näher an die Utopie zu rücken. Dieses solidarische
Projekt will der Faschist* Erdogan zerstören. Um das zu verhindern darf
nicht mehr geschwiegen werden. Hinter der vermeintlichen Neutralität der
Schweiz stecken bloss die Interessen der Konzerne und Institutionen des
Staates. Dem muss nun sofort ein Ende gesetzt werden! Die Zukunft
gehört nicht Nationen mit Grenzen für Menschen, sondern den Menschen
selbst.
Nicht nur hier, nicht nur jetzt sind wir laut: wir kommen wieder.
Genauso wie sich überall auf dem Globus Menschen aller Hintergründe
solidarisieren, werden wir diesem Kampf für Rojava und die Freiheit
wieder auf die Strassen ziehen.
Biji berxwedana Rojava!
Krieg dem Krieg!
#riseup4rojava
#fight4rojava
https://www.facebook.com/rjgbern/posts/1480067428812439
-> https://barrikade.info/article/2753
—
Rojava-Demo durch Innenstadt verlief friedlich
Am Samstagnachmittag zogen in Bern rund 2000 Demonstranten für eine
Solidaritätskundgebung für Rojava von der Grossen Schanze via
US-Botschaft zum Bundesplatz.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/demonstration-fuer-rojava-auf-der-grossen-schanze/story/19897263
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/kritik-an-syrien-offensive-turkei-solidaritats-demos-in-der-schweiz-65600874
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/angespannte-lage-an-krieg-dem-krieg-demo-135832733
-> https://www.nzz.ch/schweiz/hunderte-protestieren-in-der-schweiz-gegen-krieg-in-nordsyrien-ld.1516520
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/1000-menschen-demonstrieren-in-bern-gegen-krieg-in-nordsyrien-135832545
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/hunderte-protestieren-in-der-schweiz-gegen-krieg-in-nordsyrien-135832406
-> Demo-Aufruf: https://barrikade.info/article/2752
Sachbeschädigung: Anzeige gegen Demonstrant
Die Basler Polizei hat im Rahmen der Kurden-Demonstration vom Freitag
einen jungen Deutschen angehalten, der mehrere Sachbeschädigungen
begangen hat.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/anzeige-gegen-randalierer-nach-demo/story/30052506
-> http://www.onlinereports.ch/News.117+M5a6f14c80d6.0.html
-> https://www.polizei.bs.ch/nm/2019-person-nach-unbewilligter-kundgebung-angehalten-jsd.html
+++BIG BROTHER
UN-Bericht kritisiert Einsatz neuer Technologien in Sozialsystemen
Es gibt ein hohes Risiko, dass die Digitalisierung des Wohlfahrtstaates
die Ärmsten noch stärker benachteiligt als bisher. Davor warnt ein neuer
UN-Bericht über den Einsatz digitaler Technologien in den
Sozialsystemen. Der Bericht mahnt fundamentales Umdenken an.
https://netzpolitik.org/2019/un-bericht-kritisiert-einsatz-neuer-technologien-in-sozialsystemen/
—
tagesanzeiger.ch 19.10.2019
Mit 50 Fragen Gewalttäter erkennen
Die Zürcher Polizei arbeitet mit einer Web-App, die Gewalt verhindern hilft. Wie funktioniert das System?
Patrice Siegrist
Auf die schrecklichen Taten folgen stets die gleichen Fragen:
Zürich, 31. Mai. Ein 60-jähriger Mann verschanzt sich in einer Wohnung und tötet zwei Frauen. – Wie konnte das passieren?
Au ZH, 28. Juli. Ein 33-Jähriger meldet der Polizei, er habe einen
Streit mit seiner Frau gehabt, die Einsatzkräfte finden den leblosen
Körper der 24-Jährigen in ihrer Wohnung. – War der Täter aktenkundig?
Dietikon, 26. August. Die Polizei findet in einer Wohnung die Leiche
einer Frau. Das Kontaktverbot des mutmasslichen Täters, des 37-jährigen
Ehemanns, lief wenige Wochen zuvor aus. – Hat die Polizei versagt?
Reinhard Brunner sagt dazu: «So viel wie heute hat die Polizei im
Bereich der häuslichen Gewalt und des Gewaltschutzes noch nie
unternommen.» Brunner ist Chef der Präventionsabteilung bei der Zürcher
Kantonspolizei und hat die Gewaltschutzabteilung mitaufgebaut. Seit 2018
setzt die Kantonspolizei auf das Instrument Octagon, um die
Gewaltbereitschaft gemeldeter Personen besser beurteilen zu können.
Octagon ist ein Fragebogen, den das Amt für Justizvollzug entwickelt
hat. Er besteht aus 50 definierten Fragen (zum Fragebogen geht es hier
lang) zu acht Themenbereichen: «Späht die Person ein potenzielles Opfer
aus?», «Rechtfertigt die Person Gewaltanwendung mit Weltanschauungen?»,
«Konsumierte die Person Drogen, die aggressives Verhalten fördern?» Ein
mit dem Fall betrauter Polizist beantwortet die Fragen und überträgt die
Werte in ein Achteck, ein Oktagon. Es entsteht eine Art Smart-Spider
für mögliche Gewalttäter.
Octagon funktioniert ohne Algorithmen, ohne riesige Datenbank, ohne
Wahrscheinlichkeitsaussagen. Angezeigt wird nicht die Gefährlichkeit
einer Person, sondern wo Risiken bestehen. Das Tool empfiehlt dann
konkrete Handlungen. Zum Beispiel: Paartherapie, Entzug von Waffen,
Deradikalisierung, Hausdurchsuchung. Abhängig sind diese auch von der
Art der Gewaltdynamik. Rechtfertigt eine Person Gewalt aufgrund ihres
Weltbildes? Liegt eine psychische Störung vor? Oder hängt die
Gewaltbereitschaft mit der aktuellen Lebenssituation zusammen?
Octagon interessiert über die Kantonsgrenzen hinaus. Im Frühling stellte
die Kantonspolizei auf ein digitales System um. Sieben andere Kantone
und das Fürstentum Liechtenstein nehmen nun die Web-Applikation bis Ende
Oktober in Betrieb. Vereinbarungen mit weiteren Kantonen stehen aus.
Die anderen Korps bezahlten bloss «eine symbolische
Installationsgebühr», sagt Brunner. Die Kantonspolizei betreibe das
System sowieso, Mehrkosten entstünden kaum.
Jährlich rund 350 Fälle
Um das Vorgehen zu illustrieren, skizziert Brunner «eine
Arbeitsplatzsituation», wie er es nennt. Zwei Angestellte bemühen sich
um die gleiche Führungsposition, der Verlierer droht dem Gewinner. Bei
der Polizei geht eine Meldung ein, der Gewaltschutz wird involviert, die
Abklärungen beginnen. Hat der Mann eine Waffe? Was sagt der
Arbeitgeber? Octagon kommt zum Zug. «Wir fragen uns durch die
Themengebiete, versuchen den Fragebogen bereits so gut wie möglich
auszufüllen und arbeiten mit Szenarien. Gehen wir von einer möglichen
Schlägerei, einer schweren Körperverletzung oder gar einer Tötung aus?»
Kommen die Beamten zum Schluss, bei einer Person bestehe eine hohe
Gewaltbereitschaft und es drohe die Ausführung eines schweren
Verbrechens, kann die Polizei die Person verhaften. Das komme aber
selten vor, sagt Brunner. Mildere Massnahmen seien häufiger. «Manchmal
genügt es, den Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen, dass er Grenzen
setzt.»
Zuvor versucht die Polizei, mit dem Gefährder zu reden. «Wenn zum
Beispiel Beamte innert kurzer Zeit dreimal wegen eines Streits an eine
Adresse ausrücken müssen, versuchen wir herauszufinden, wie die Person
tickt», sagt Brunner. Dazu verabrede man sich – zu Hause, in einem
Restaurant, auf einen Spaziergang. «Es geht darum mit dieser Person zu
reden, wenn kein Streit im Gang ist.» Das habe oft eine deeskalierende
Wirkung und liefert Informationen für Octagon. Ausserdem signalisiert
die Polizei: «Wir wissen um dein Verhalten und sitzen dir im Nacken.»
Jährlich bearbeitet die Zürcher Polizei rund 350 solche Fälle mit
Octagon und Gefährderansprachen. Ein Dossier wird erstellt, die Daten
zehn Jahre aufbewahrt. Menschenrechtsaktivisten kritisieren das. Es gibt
grundrechtliche Bedenken, weil ein Dossier angelegt werden kann, obwohl
kein Strafverfahren läuft. So hat ein Beschuldigter nicht die gleichen
Rechte wie im Strafprozess.
Im Alltag sei die Gefährderansprache gar nicht umstritten, sagt
Reinhard Brunner. «Wir erklären der Person offen, worum es geht, dass
wir eine Gewalteskalation verhindern wollen und uns dabei auf das
Polizeigesetz stützen. Die Person ist nicht zur Mitwirkung verpflichtet.
Die meisten willigen aber in ein Gespräch ein; viele sind danach sogar
dankbar.» Die Akten würden gemäss Dokumentationspflicht im Rapportsystem
erfasst.
Informationen über gefährliche Personen erhalten Brunners Gewaltschützer
nicht nur von Polizisten an der Front, sondern auch von einem
kantonsweiten Netzwerk von Mitgliedern bei Behörden und Institutionen.
Anfänglich machten rund 400 Personen mit, mittlerweile sind es bereits
550. Sie arbeiten für RAV, Sozialzentren, Kesb oder Schulen. «Sie
stellen sicher, dass Vorfälle, die ernsthaft Anlass zur Sorge geben,
intern richtig gemeldet und der Polizei weitergeleitet werden», sagt
Brunner.
Funktioniert das System?
Trotz Octagon: Zürich, Au, Dietikon. Femizide machen weiterhin
Schlagzeilen. Funktioniert das System überhaupt? Brunner sagt: «Ja.» Das
mit Zahlen zu belegen, sei aber schwierig. «Für uns sind alle Fälle,
die wir abschliessen können, ein Erfolg», sagt er, da sich dann die
Situation beruhigt habe. Meist seien 90 bis 120 Fälle pendent.
In Dietikon war der mutmassliche Täter der Polizei bekannt. Der «Blick»
titelte: «Die Polizei hat versagt». Brunner widerspricht vehement.
Niederschwelliger könne die Arbeit der Polizei im Gewaltschutz kaum mehr
werden. «Was wir nicht können, ist Leute in ihren eigenen vier Wänden
schützen», sagt er. Die Polizei könne die gesellschaftliche
Entwicklungen nicht beeinflussen oder Menschen auf Dauer wegsperren –
erst recht nicht, wenn noch keine strafrechtlichen Handlungen vorliegen.
Octagon helfe den Polizistinnen und Polizisten, Fälle strukturierter
anzugehen. Und: Früher tat die Polizei wenig, solange keine Straftat
vorlag. «Heute gehört die Prävention zur Polizeiaufgabe.» Er, der
einstige «Vollblutstrafverfolger», wie er sagt, habe diesen Wandel
selbst durchgemacht. «Wir dürfen heute nicht mehr nur ans Aufräumen nach
einer Tat denken, wir müssen uns fragen: Was können wir tun, um eine
Tat zu verhindern?»
–
Wieso Octagon anders ist
Bereits vor Octagon arbeitete die Polizei mit Prognose-Tools. Diese
haben aber gewisse Nachteile. Erstens neigten sie dazu, zu viele
Personen als potenziell gefährlich einzustufen, wie SRF-Recherchen
zeigten. Würde man den Algorithmus anpassen, damit weniger Personen als
potenziell gefährlich erscheinen, würde man aber das Risiko erhöhen,
wirkliche Gefährder zu verpassen. Das zweite Problem war, dass solche
Programme nur eine Wahrscheinlichkeitsprognose und keine
Handlungsempfehlung lieferten, wie das Octagon tut. «Sagt die
Wetterprognose eine Regenwahrscheinlichkeit von 60 Prozent vorher,
nehmen Sie den Schirm mit. Und was tun Sie, wenn die
Rückfallwahrscheinlichkeit bei einem Gewalttäter in den nächsten fünf
Jahren bei 60 Prozent liegt?», fragt Reinhard Brunner, Chef der
Präventions¬abteilung bei der Kantonspolizei. Der Umgang mit solchen
Prognosen sei sehr schwierig. Diese Systeme stünden heute nur noch als
Ergänzung im Einsatz. (sip)
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/mit-50-fragen-gewalttaeter-erkennen/story/11757987)
+++ANTIRA
antira-Wochenschau: Feuer auf Samos, Solidarität mit Rojava, Nazi-Konzert trotz Verbot
https://antira.org/2019/10/19/antira-wochenschau-4/
+++RECHTSPOPULISMUS
Vom Hass im Netz überrollt
Auto-Tuner Christopher Grau hat die Facebook-Gruppe «Fridays for
Hubraum» gegründet, die viele als Anti-Greta-Revolution verstehen. Ein
Missverständnis, sagt er.
https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/vom-hass-im-netz-ueberrollt/story/23755799
+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechtsextreme Online-Angebote: Rechte Esoteriker im Krieg gegen 5G und das Impfen
Schamanismus, Impfkritik, dunkle Kräfte, dazu Verschwörungstheorien: Auf
Internetplattformen werden esoterische, rassistische und antisemitische
Inhalte zunehmend vermischt. Über Videos werden diese
Verschwörungsnachrichten zigtausenfach verbreitet – an Verfassungsschutz
und Sicherheitsbehörden vorbei.
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextreme-online-angebote-rechte-esoteriker-im-krieg.724.de.html?dram:article_id=461384
+++DNA
derbund.ch 19.10.2019
Zu ungenau: Datenschützer kritisiert neue DNA-Analyse
Die Bürgerlichen sind für die neue DNA-Analyse, Datenschützer und Linke
haben Einwände: Die Treffsicherheit der Analysemethode sei zu gering.
Sophie Reinhardt
Bei schweren Verbrechen soll die Polizei künftig Haar-, Augen- und
Hautfarbe, Alter und Herkunft anhand der vorgefunden DNA bei
Ermittlungen auslesen dürfen – sofern die Staatsanwaltschaft die
Auswertung genehmigt. Die Ideen des Bundesrats kommen vor allem bei
linken Berner Nationalrätinnen nicht gut an. Die zuständige
Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) betont aber, die Daten würden
nur für Ermittlungen und Fahndungen genutzt.
Aber auch der eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger hat
Vorbehalte, besonders aufgrund der Ungenauigkeit der Methode. Laut
Bundesamt für Polizei liegt beispielsweise die Treffsicherheit der
Analysemethode bei schwarzen Haaren bei 87 Prozent, bei blonden Haaren
aber nur bei 69 Prozent.
Auch die Einschränkung auf schwere Verbrechen geht Lobsiger nicht weit
genug. «Mit dieser Regelung ist eine Phänotypisierung theoretisch auch
bei Betrug möglich. Sie sollte aber nur zum Einsatz kommen, wenn es um
Schwerstdelikte geht.» Grundsätzlich seien Vermögensdelikte
auszuschliessen. Lobsiger plädiert zudem dafür, dass nicht die
Staatsanwaltschaft, sondern ein Zwangsmassnahmengericht über den Einsatz
der sogenannten Phänotypisierung entscheidet.
Pauschale Verdächtigung
Auch SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen sagt, der Einsatz der neuen
Methode erfordere grosse Zurückhaltung. «Sie ist aus Sicht des Daten-
und Persönlichkeitsschutz nur als letztes Mittel denkbar.» Es brauche
deshalb eine klare und strenge Gesetzesgrundlage, damit sie nur zur
Fahndung und Aufklärung besonders schwerer Verbrechen wie vorsätzliche
Tötung oder Vergewaltigung zur Anwendung komme. Für die Aufklärung von
kleinen bis mittleren Delikten dürfe dieses Verfahren nicht zum Einsatz
kommen, da der Persönlichkeitsschutz im Umgang mit sensiblen Daten höher
zu gewichten sei: «Insbesondere die Auswertung der Hautfarbe des
Tatverdächtigen birgt enormes Risiko von fremdenfeindlich geprägten
Pauschalverdächtigungen», sagt Flavia Wasserfallen.
Regula Rytz, Präsidentin der Grünen, sagt auf Anfrage, die neuen
technischen Möglichkeiten könnten schon von Nutzen sein. «Sie werden
aber von ihrer Wirkung her überschätzt und können zur pauschalen
Stigmatisierung und Diskriminierung von unschuldigen Menschen führen.»
Die Grünen wollen nun den Gesetzesvorschlag mit Fachleuten aus dem
Bereich Strafrecht besprechen, ehe sie sich Ende November dazu äussern.
Bis dahin läuft die ordentliche Vernehmlassungsfrist. «Die Anwendung
unter restriktiven Bedingungen sowie die Genehmigung durch ein
Zwangsmassnahmengericht könnte ein Weg sein», erklärt Rytz.
SVP begrüsst Gesetz
Fürsprecher findet der Gesetzesentwurf bei der SVP. Ihr Nationalrat
Werner Salzmann sagt, das Gesetz sei ein Schritt in die richtige
Richtung. «Wenn wir Techniken kennen, mit welchen Täter schneller
gefasst werden können, dann müssen wir diese nutzen.» Er würde es sogar
begrüssen, wenn auch bei weniger schwerwiegenden Taten künftig
Phänotypisierungen möglich wären – wenn damit schwerere Verbrechen
verhindert werden könnten. Als Beispiel nennt er den Diebstahl einer
Waffe, die der Täter später für ein Tötungsdelikt einsetzen will. Zur
teils noch beschränkten Aussagekraft der Methode sagt er: «Je öfter wir
die Analyse einsetzen, desto besser wird die Methode.»
Weniger Entnahmen
Schon heute gelten DNA-Spuren als wichtige Indizien, um Verbrecher
aufzuklären. Ende 2018 enthielt die nationale Datenbank 193857 Profile
von Menschen und 84139 Tatortspuren. Doch schon bisher werden die
DNA-Profile von Menschen nicht nur bei schweren Taten erstellt und mit
der Datenbank abgeglichen. Ende Juli mussten beispielsweise in Zürich
und Basel 83 Klimaaktivisten DNA-Proben abgeben, weil sie die Eingänge
einer Grossbank blockiert hatten.
Beim Grossteil der erfolgreichen DNA-Ermittlungen handelte es sich
bisher um Fälle von kleiner bis mittlerer Kriminalität. 2018 wurden in
der DNA-Datenbank schweizweit 5054 Treffer erzielt, in mehr als der
Hälfte dieser aufgeklärten Fälle ging es um Diebstahl und Einbrüche, in
651 um Drogendelikte. Fahndungserfolge dank DNA-Spuren gab es bei 76
Fällen aus dem Bereich Mord oder Tötung, bei 104 Fällen im Bereich der
Sexualstraftaten. Bei Entführung, Geiselnahme und Menschenhandel gab es
keine Treffer.
Entnommen dürfen nach heutiger Rechtslage DNA-Proben bei Verdächtigen
nur, um eine sogenannte «Anlasstat» aufzuklären – oder bei jemandem, der
rechtskräftig wegen einer vorsätzlich begangen Tat zu mindestens einem
Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Präventiv dürfen diese Proben
eigentlich nicht angeordnet werden.
Gegen diese Rechtsprechung hat die Kantonspolizei Bern verstossen.
Deshalb wurde sie 2014 auch vom Bundesgericht gerügt. Die Polizei hatte
ein DNA-Profil einer Aktivistin erstellt, die an der Uni Bern aus
Protest Mist deponiert hatte. Seit diesem Urteil sind die DNA-Entnahmen
bei der Berner Kantonspolizei massiv zurückgegangen – von 2800 im Jahr
2014 auf 1200 im Jahr 2018. In den vergangenen Jahren wurden dank DNA
jedes Jahr etwa 500 Taten aufgeklärt.
(https://www.derbund.ch/bern/zu-ungenau-kritisiert-der-datenschuetzer/story/20005358)
—
derbund.ch 19.10.2019
«Nach einer Vergewaltigung sollte man alle Möglichkeiten ausschöpfen»
Mit DNA-Analysen die Hautfarbe der Täter herausfinden: Das soll künftig
erlaubt sein. Genügt das Stefan Blättler, Kommandant der Berner Polizei?
Sophie Reinhardt
Die Berner Rechtsmedizin erhält neue Mittel: das dank dem neuen
DNA-Gesetz, das der Bundesrat verabschiedet hat. Bei schweren Verbrechen
sollen Tatortspuren auf Merkmale wie Augen-, Haar- und Hautfarbe, Alter
und «biogeografische Herkunft» der Täter ausgewertet werden. Was
erhofft sich Stephan Blättler, der hier in seiner Funktion als Präsident
der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten Auskunft gibt, von der
sogenannten Phänotypisierung?
Herr Blättler, was bedeutet es für die Arbeit der Polizei, wenn künftig
Haut- und Augenfarbe aus DNA-Spuren herausgelesen werden können?
Bei einem schweren Delikt können wir bislang nur prüfen, ob die
vorgefundene DNA bereits in der nationalen Datenbank erfasst ist. Es ist
grundsätzlich immer hilfreich, wenn man mehr Informationen über die
Täterschaft erhält. Daher kann es sehr interessant sein, wenn Hinweise
von DNA-Spuren auf das Signalement hindeuten.
Was macht die Polizei mit der ungenauen Aussage aus dem Labor, der Täter sei zu 80 Prozent dunkelhäutig?
Nichts. Wenn man in diesem Fall dann mittels Medienmitteilung nach einer
dunkelhäutigen Person fahndet, denunziert man im dümmsten Fall ziemlich
viele Menschen, und es könnte die Ermittlungen auch behindern. Stellen
Sie sich vor, der Täter stellt sich dann im Nachhinein als hellhäutig
heraus. Das bringt uns nicht weiter. Und wenn man nach einer
hellhäutigen Person suchen soll, schliesst das in der Schweiz auch nicht
sonderlich viele Personen aus.
Was bringen also denn diese Angaben bei der Fahndung?
Sie helfen im Einzelfall. Wenn man beispielsweise eine Personengruppe
eingrenzen kann, die für ein Verbrechen infrage kommt. Wenn dann die
DNA-Phänotypisierung auf einen asiatischen Typ hinweist und in der
Gruppe von zwanzig Personen nur zwei asiatischstämmige Menschen sind,
dann ist die Aussage hilfreich. Zudem könnte das Verfahren auch dazu
beitragen, Personen auszuschliessen, die nicht infrage kommen.
Aber können die fehleranfälligen Aussagen aus dem Labor die Polizei nicht sogar auf eine falsche Spur führen?
Das müssen Ermittlungsleiter bei ihrer Arbeit immer vor Augen haben. Man
darf nie nur in eine Richtung ermitteln. Aber das gehört zum
Polizeialltag. Etwa auch ein geäussertes Geständnis darf man nicht
einfach so als stichfeste Beweislage verstehen. Es gibt verschiedene
Gründe, warum ein Mensch die Schuld auf sich nehmen will. Alle
mutmasslichen Beweise müssen immer überprüft werden.
Warum befürworten Sie also die Phänotypisierung, auch wenn sie nicht immer zielführend ist?
Die Strafprozessordnung kennt verschiedene Massnahmen, etwa auch die
Telefonüberwachung oder die Untersuchungshaft. Diese Massnahmen werden
allerdings nur eingesetzt, wenn es Sinn macht. Auch die Phänotypisierung
kann in einigen Fällen sinnvoll eingesetzt werden. Wir begrüssen die
Methode, aber in der Praxis wird das Mittel allein vermutlich nicht zum
Erfolg führen.
Was bringt die neue DNA-Methode beispielsweise bei einer Vergewaltigung
wie der von Emmen, die den Anstoss für das neue Gesetz gab?
Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die geplante Revision des
DNA-Profil-Gesetzes nicht dem entspricht, was sich die
Strafverfolgungsbehörden erhofft haben, zumal das Gesetz sehr restriktiv
formuliert ist. So werden wir immer dem wissenschaftlichen Fortschritt
hinterherhinken. In einem derart schweren Vergewaltigungsfall wie Emmen
sollte man doch alle Möglichkeiten ausschöpfen dürfen, um die
Bevölkerung vor weiteren Taten schützen zu können. Mit der restriktiven
Handhabung schützt man dann jedoch nicht die Bevölkerung, sondern
effektiv die Täterschaft.
Die Kantonspolizei Bern wurde vom Bundesgericht gerügt, weil sie in
einigen Fällen DNA entnommen hatte, die nicht rechtens waren. Was
bedeutete das Urteil?
Seit dem Urteil sind die DNA-Profil-Erstellungen massiv zurückgegangen.
Die aktuelle Strafprozessordnung sagt, die DNA darf nur entnommen
werden, um das Verbrechen oder Vergehen aufzuklären, das Gegenstand des
Verfahrens ist. Das Bundesgericht konkretisierte in der Folge, dass eine
Entnahme zur Aufklärung anderer – bereits begangener oder künftiger –
Delikte von gewisser Schwere nur gerechtfertigt ist, wenn erhebliche und
konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen. Wird jemand in flagranti bei
einem Einbruchdiebstahl angehalten, führt diese Regelung in vielen
Fällen dazu, dass keine DNA-Profil-Erstellung verfügt wird, da diese zur
Klärung der Anlasstat nicht nötig ist. Dies obwohl man annehmen muss,
dass dieser Einbruch kaum der erste und der letzte gewesen sein wird,
doch fehlen meist die geforderten erheblichen und konkreten
Anhaltspunkte dazu.
Die Zahl der Treffer blieb aber trotz weniger angeordneter Tests in Bern
gleich hoch. Das zeigt doch, dass zu oft Proben entnommen wurden?
Das Gerichtsurteil schränkt uns ein. Mittelfristig führt es dazu, dass
wir weniger Verbrechen aufklären können, weil DNA-Treffer teils erst
Jahre später folgen.
(https://www.derbund.ch/bern/nach-einer-vergewaltigung-sollte-man-alle-moeglichkeiten-ausschoepfen/story/14123809)
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derbund.ch 19.10.2019
Mit Wattestäbchen dem Täter auf der Spur
Was lässt sich auch DNA-Spuren alles herauslesen? Ein Besuch im kriminaltechnischen Labor der Berner Ermittler.
Sophie Reinhardt
Das Büro von Christian Zingg ist keineswegs peinlich genau aufgeräumt.
Der Chef des Kriminaltechnischen Dienstes der Kantonspolizei Bern weiss,
dass man selbst bei einer Clean Desk Policy viele Spuren hinterlässt.
Denn mit Spuren kennt er sich aus. Seit 13 Jahren ist der Chemiker Chef
der Abteilung, die bei aussergewöhnlichen Todesfällen, schweren
Einbrüchen oder Gewaltverbrechen ausrückt. Er und seine rund 70
Mitarbeitenden sind darauf spezialisiert, an einem Tatort Spuren zu
sichern – auch solche, die mit blossem Auge gar nicht zu erkennen sind.
Zingg hat den Aufstieg der DNA-Analyse als Fahndungsmittel miterlebt.
Heute sind Wattestäbchen, die etwa Hautschuppen oder Speichel aufnehmen
können, ein wichtiges Arbeitsinstrument der Polizei. Worauf achten die
Emitter am Tatort? Nach einem Einbruch wird beispielsweise auf
Türgriffen nach DNA-Spuren gesucht. Verwertbare biologische Spuren sind
auch Blutspritzer oder Spermaflecken. Bisweilen werden auch Gegenstände
eingepackt, um sie im Labor der Ermittler genauer zu analysieren.
Genetischer Fingerabdruck
Die Polizei schickt die Wattestäbchen, von denen sie hofft, sie würden
Information erhalten, ans Berner Institut für Rechtsmedizin (IRM). Dort
wird in kurzer Zeit aus nur wenigen Hautschuppen ein DNA-Profil
erstellt. Dieser genetische Fingerabdruck wird danach in der nationalen
Datenbank abgeglichen.
So kann festgestellt werden, ob die Polizei die vorgefundene DNA einer
Person oder auch anderen Deliktsfällen zuordnen kann. Jährlich stimmen
schweizweit gegen 6000 Tatortspuren mit einer bereits in der Datenbank
verzeichneten Person oder Spur überein – meist handelt es sich um
Einbrecher, welchen die Polizei mit diesem Verfahren auf die Spur kommt.
Zingg sieht die Aufgabe seiner Abteilung aber nicht primär im
Spurensammeln: «Unsere Aufgabe reduziert sich nicht auf die Sicherung
von DNA, sondern wir möchten dank Spuren die Identität des Täters, aber
auch den Ablauf der Tat besser verstehen», sagt er. Die
Kriminalermittler suchen darum auch nach Fingerabdrücken, Schuh- und
sogar Sockenspuren. Denn die vorgefundene DNA an einem Tatort beweist
selten direkt die Schuld, sondern lediglich die Anwesenheit einer
bestimmten Person. «DNA sagt auch nichts über die Motivation aus», sagt
Zingg. Die Kombination verschiedener Spuren sei deshalb wichtig. Im
besten Fall fügten sie sich wie ein Puzzle zusammen und führten zum
Täter.
Phantombild dank DNA
Heute darf die Polizei einzig prüfen, ob die DNA-Spur am Tatort in der
nationalen Datenbank erfasst ist und ob eine Frau oder ein Mann die Spur
hinterlassen hat. Ist das DNA-Profil nicht erfasst, ist die Probe im
Moment so gut wie wertlos. In Zukunft soll die Polizei aber noch viel
mehr mit der aufgefundenen DNA tun dürfen als bisher.
Künftig soll die Rechtsmedizin aus den Spuren beispielsweise auch Haar-
und Hautfarbe herauslesen können. Der Hintergrund der Forderung nach
neuen Fahndungsmitteln ist ein schlimmes Verbrechen: 2015 wurde eine
damals 26-jährige Frau im luzernischen Emmen vergewaltigt. Bis heute ist
der Täter nicht gefasst, obwohl man sein DNA-Profil erstellen konnte.
Er war in der Datenbank nicht erfasst.
Nach der Tat verlangte der Luzerner FDP-Nationalrat Albert Vitali in
einem Vorstoss, das Gesetz sei an die neuen wissenschaftlichen
Möglichkeiten anzupassen. Das nationale Parlament folgte dem Vorschlag.
Vitali regte an, dass man aus der im Sperma gefundenen DNA des Täters in
Emmen eine Art Phantombild herauslesen könnte. In den Niederlanden wird
dieses Verfahren bereits angewendet.
«Für Hinweise dankbar»
Noch ist die Wissenschaft nicht so weit, dass aus wenigen Hautschuppen
ein Phantombild erstellt werden kann. Auch gilt die Methode noch als
fehleranfällig.
Hofft Zingg, dass künftig mit der neuen Methode mehr Verbrecher gefasst
werden? «Wenn wir einen Kriminalfall lösen sollen, sind wir für jeden
Hinweis dankbar, der zu einem Täter führt.» Zingg trennt aber strikt
zwischen seiner Arbeit als Polizist und der Politik: «Es ist Aufgabe der
Politik, die Vorgaben zu bestimmen, wie weit die Rechtsmedizin gehen
darf.»
–
Der Berner Rechtsmedizin gelang eine Weltpremiere
Es war eine weltweite Sensation und löste obendrein einen prominenten
Kriminalfall: Anfang der 1990er-Jahre konnte der damalige Leiter des
Berner Instituts für Rechtsmedizin (IRM), Richard Dirnhofer, das erste
DNA-Profil aus einem Haar erstellen. Das Kopfhaar gehörte einer in Prag
ermordeten Prostituierten und war im Auto von Johann «Jack» Unterweger
gefunden worden. Dank der Berner Pioniertat wurde der österreichische
Serienkiller überführt und 1994 in Graz wegen neunfachen Mordes
verurteilt. Dirnhofer amtete in diesem Fall als Obergutachter, er hatte
in Innsbruck Medizin studiert. 1991 wurde er an die Universität Bern
berufen.
Der verurteilte Unterweger war kein Unbekannter. Er war bereits 1976
wegen Mordes an einer 18-Jährigen zu lebenslanger Haft verurteilt
worden. Im Gefängnis begann er Gedichte und autobiografische Romane zu
schreiben, und wenig später wurde er von prominenten Intellektuellen wie
Elfriede Jelinek oder Erich Fried für seine Arbeit gefeiert. Der
galante Unterweger galt bald als Liebling der Wiener Schickeria. Und
diese machte Druck, dass er als Paradebeispiel gelungener
Resozialisierung entlassen werden sollte. 1990 kam Unterweger
tatsächlich vorzeitig frei.
Unterweger verneinte Morde
Sechs Monate nach Unterwegers Entlassung begann eine Serie von
Prostituiertenmorden. Wien, Graz, Prag, Los Angeles: Immer dann, wenn
eine Prostituierte mit ihrer eigenen Unterwäsche erdrosselt worden war,
hatte sich Unterweger in der jeweiligen Region aufgehalten, um Lesungen
zu halten oder zu recherchieren. Im Juli 1991 war er in Prag unterwegs,
als die Prostituierte Blanka Bockova tot aufgefunden wurde. Von ihr
stammt das Kopfhaar, das die Grazer Strafuntersuchungsbehörde nach Bern
schickte, damit es vom Berner Rechtsmediziner «spurenkundlich
untersucht» werde. «Zum ersten Mal hat damals ein Gericht die
DNA-Analyse aus einem einzigen Haar als Beweismittel anerkannt»,
erzählte der emeritierte Professor Dirnhofer später dem «Bund». Die
Wahrscheinlichkeit, dass das Haar vom Opfer stammt, habe bei eins zu
drei Millionen gelegen.
Dennoch bestritt Unterweger die ihm zur Last gelegten Taten bis zuletzt.
Wenige Tage nach seiner Verurteilung erhängte er sich in seiner Zelle.
(sie)
(https://www.derbund.ch/bern/mit-den-wattestaebchen-den-taetern-auf-der-spur/story/13619716)
+++HISTORY
Westsahara: Die letzte Kolonie in Afrika
Wie die Schweiz sich am völkerrechtswidrigen Import aus der von Marokko besetzten Westsahara beteiligt.
https://barrikade.info/article/2749
—
derbund.ch 19.10.2019
Die Patrioten, die von Mao lernten
Vor 30 Jahren wurde die P-26 enttarnt. Die Empörung über diese «illegale
Geheimarmee» war damals gross. Heute ist das Bild differenzierter,
obwohl brisante Akten verschwunden sind.
Alexander Sury
«Der Kalte Krieg ist schon 30 Jahre zu Ende. Ich hoffe, die P-26 wird
ihre Aufmerksamkeit erregen», rief die junge Frau ihren Ratskollegen im
Saal zu. Mitte September trat die grüne Genfer Nationalrätin Lisa
Mazzone ans Mikrofon im Nationalratssaal und trug eine Motion ihrer
Fraktion vor.
Annähernd 30 Jahre sind auch vergangen, seit im Nachgang des
Fichen-Skandals die Geheimarmee P-26 im Februar 1990 in der «Schweizer
Illustrierte» enttarnt wurde. In ihrer Motion fordert Lisa Mazzone, dass
der als geheim klassifizierte «Bericht Cornu», der als Teil der
«Parlamentarischen Untersuchung PUK EMD» 1991 die Auslandsbeziehungen
der Schweizer Geheimorganisation untersuchte und bis 2041 einer
Sperrfrist unterliegt, endlich in einer ungeschwärzten Version der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Verteidigungsministerin Viola Amherd beantragte in ihrer Stellungnahme
Ablehnung der Motion und nannte als Gründe: Quellenschutz und das
Interesse an guten Beziehungen zu befreundeten Staaten. Zahlreiche noch
lebende Personen hätten Cornu damals unter Zusicherung der
Vertraulichkeit Informationen zur Verfügung gestellt.
«Der Bundesrat ist der Ansicht, dass diese Personen auch heute noch ein
Recht auf die Wahrung ihrer Anonymität haben», sagte die Bundesrätin
gemäss «Amtlichem Bulletin». Mit 127 zu 50 Stimmen folgte der Rat der
Empfehlung von Bundesrätin Amherd.
Spurlos verschwundene Akten
Die Verteidigungsministerin erwähnte in ihrer Replik auf die Motion noch
einen anderen, irritierenden Sachverhalt. Nachdem die parlamentarische
Geschäftsführungsdelegation im Januar 2018 publik gemacht hatte, dass
Dokumente zur Geheimarmee P-26 nicht mehr auffindbar seien, wurde eine
Suchaktion nach den fehlenden «Vorakten zum Cornu-Bericht» eingeleitet.
Erfolglos. Über den Verbleib dieser Akten herrscht Unklarheit.
Diese inkriminierten Dokumente befassen sich ausgerechnet mit den
neutralitätspolitisch heiklen Auslandsbeziehungen: Darunter sind 69
Einvernahmeprotokolle, die vor allem die Beziehungen zwischen der P-26
und ähnlichen paramilitärischen Widerstandsorganisationen im Ausland
betreffen.
Mit Schreiben vom 16. Mai 2019 informierte Viola Amherd die
Geschäftsführungsdelegation des Nationalrates, «dass das VBS im
Einvernehmen mit dem Bundesarchiv die aktive Suche nach diesen
Dokumenten beendet hat».
Der Hauptteil der Akten zum «Projekt 26» befinde sich ordnungsgemäss im
Bundesarchiv, hält VBS-Mediensprecher Lorenz Frischknecht auf Anfrage
fest. Nicht gesucht, aber im Zuge der Nachforschungen gefunden wurde
dagegen eine Liste der P-26-Mitglieder; sie befindet sich im
Bundesarchiv und unterliegt ebenfalls einer Schutzfrist von 50 Jahren.
Einige wenige Dokumente wurden laut Frischknecht infolge einer von
Bundesrat Guy Parmelin in Auftrag gegebenen Suche Ende 2018 ebenfalls
dem Bundesarchiv übergeben. Warum diese Ablieferung nicht früher
vollzogen worden sei, kann der VBS-Sprecher nicht sagen. Zur
Möglichkeit, dass die Einvernahmeprotokolle vernichtet wurden, weil sie
sensitive Personendaten und Angaben zu ausländischen Geheimdiensten
enthielten, will sich das VBS nicht äussern.
«Plausibelgeschichte» bereithalten
Etliche der Personen, die dem von FDP-Bundesrat Kaspar Villiger
eingesetzten Neuenburger Parteifreund und Richter Pierre Cornu Anfang
der 1990er-Jahre Red und Antwort standen, hatten sich einige Jahre zuvor
in einem Bunker in Gstaad als Neumitglieder der P-26 eine
Videobotschaft im Fernsehen angeschaut.
Im Dachgeschoss des Museums Altes Zeughaus in Solothurn kann der
Besucher in der Ausstellung «P-26. Geheime Widerstandsvorbereitungen im
Kalten Krieg» diese wenige Minuten dauernde Videobotschaft auch sehen.
Ein hoher Offizier mit Brille und akkuratem Seitenscheitel sitzt vor
einer Weltkarte, schaut ernst in die Kamera und gratuliert seinen
Zuschauerinnen und Zuschauern zur Aufnahme in diesen besonderen Club.
100 Franken Spesen pro Kurstag gehörten ebenso dazu wie die Ermahnun
g, sich schon vor Antritt der Reise eine «Plausibelgeschichte» zu
überlegen für den Fall, dass einem auf dem Weg zur Schulung im Berner
Oberland ein Bekannter begegnen sollte.
«Keine Dorfkönige»
Wenn ein neues Mitglied erstmals im unterirdischen Bunker «Schweizerhof»
bei Gstaad zu einem Ausbildungsgang eintraf (und etwa lernte, wie man
«tote Briefkästen» anlegt), wurde es von einem hohen Offizier der
Schweizer Armee begrüsst. Die Aufzeichnung stammt vom Januar 1986, und
der Mann, der da spricht, ist der damalige Generalstabschef Eugen Lüthy:
«Sie nehmen Verantwortung wahr. Eine Verantwortung, die nicht jedermann
übertragen werden kann.»
Verantwortung übernehmen: Das hiess vor allem, sich auf den
Besetzungsfall vorbereiten. Eine kommunistische Aggression aus dem
Osten, im Zuge derer die Schweiz militärisch besiegt und besetzt worden
wäre: Das war das Szenario, an dem sich die 400 Mitglieder der ab 1979
aufgebauten Geheimorganisation P-26 im Kalten Krieg orientierten.
Das «Projekt 26» geht auf die Ziffer 426 in der Konzeption der
Gesamtverteidigung aus dem Jahr 1973 zurück, wo es um «Widerstand im
feindbesetzten Gebiet» geht. Die zivile Kader und
Ausbildungsorganisation wäre sodann auf den Plan getreten mit
Vorbereitungen für den Widerstand im feindbesetzten Gebiet.
Das «Hydra»-Prinzip
Der Chef dieser Organisation, Efrem Cattelan alias «Rico», liess sich –
so erfährt man in der Ausstellung – ausgerechnet von der Devise eines
Kommunisten leiten, wenn es um die Grundkonzeption der
Geheimorganisation ging: An Mao Zedongs Ausspruch nämlich: «Der
Revolutionär muss sich in den Volksmassen bewegen wie ein Fisch im
Wasser.»
Dazu gehörte auch das «Hydra»-Prinzip. In jeder Region der Schweiz gab
es zwei Einsatztruppen der P-26, eine schlafende und eine aktive. Die
beiden Gruppen hatten keine Kenntnis von der jeweils anderen. Die
schlafende Gruppe wäre nach der Zerschlagung der aktiven «erwacht».
Und wie wurden diese patriotischen helvetischen «Revolutionäre»
gefunden? Die Rekrutierung neuer Mitglieder – die meisten waren bereits
über 50 Jahre alt und nicht mehr aktiv im Militärdienst – geschah meist
durch Kooptation, also durch Vorschläge aus der P-26 heraus.
Eigenschaften wie Aufrichtigkeit, Disziplin, Sinn für Diskretion und
Charakterstärke gehörten zum Anforderungsprofil. «Keine Prominenz oder
‹Dorfkönige›», heisst es in einem internen Dokument. Dort ist auch zu
lesen, dass es sich als schwierig erweise, in der P-26 die Schweizer
Bevölkerung in «ihrer Breite zu widerspiegeln».
Tatsächlich waren 95 Prozent Männer und 92 Prozent der P-26-Mitglieder
im Zivilstand verheiratet. Bei den Berufsgruppen lagen Beamte und
Personen mit technischen Berufen deutlich an der Spitze, während bei der
politischen Gesinnung eindeutig eine bürgerliche Schlagseite herrschte,
auch wenn es vereinzelt Mitglieder mit sozialdemokratischem Hintergrund
gab.
Die Skandalisierung als Skandal?
Im Dachgeschoss des Alten Zeughauses in Solothurn fühlt man sich
tatsächlich ein wenig an ein, ja: ein Zeughaus erinnert, denn
szenografisch wird dezidiert mit nüchternen Metallgestellen und den
Farben braun und grün gearbeitet: Es mutet an wie der Gang durch ein
Archiv oder ein Warenlager.
Es wird viel Wert gelegt auf den historischen Hintergrund nach 1945, zu
den Stationen der Ausstellung gehören etwa der Ungarn-Aufstand 1956, der
Sputnik-Schock 1957, das Buch «Zivilverteidigung» (1965 in alle
Schweizer Haushalte verschickt), die Anti-Atom-Bewegung, der
Subversivenjäger Cincera oder die Gründung der GSoA.
Diese historische Dimension, die Einbettung in den Kontext des Kalten
Krieges, wurde vor fast 30 Jahren im Bericht der Parlamentarischen
Untersuchungskommission kaum berücksichtigt. Der Publizist Martin Matter
hielt 2012 in seinem Buch fest: Vor dem Hintergrund des veränderten
innenpolitischen Klimas nach dem Ende des Kalten Krieges habe die P-26
«schlicht keine Chance» gehabt, «nüchtern und fair beurteilt zu werden».
Die PUK habe die Widerstandsorganisation nur durch die «Brille der
Gegenwart, ihrer Ansprüche und Empfindungen» beurteilt.
Mittlerweile hat der Wind gedreht, kaum jemand spricht mehr von einer
illegalen, kriminellen Organisation, die ohne demokratische Kontrolle
und rechtliche Grundlage im Verborgenen agierte.
Der Aargauer Historiker Titus Meier hat in seiner als Buch 2018
veröffentlichten Dissertation der These von der «Geheimarmee» eine klare
Absage erteilt. Meier führte zahlreiche Interviews mit ehemaligen
P-26-Mitgliedern und erhielt exklusiven Zugang zu privatem Material und
für die Öffentlichkeit noch gesperrten Akten im Bundesarchiv.
Er erlebte die ehemaligen P-26-Mitglieder ausnahmslos als «bodenständige
Demokraten», die sich nie gegen die eigene Regierung gestellt hätten.
Meiers Fazit: Die P-26 sei keine «Kampftruppe» gewesen, sondern für
«moralischen Widerstand» und «psychologische Kriegführung» ausgebildet
worden; weder sei sie verfassungsmässig illegal gewesen noch gefährlich
für den inneren Frieden. Der eigentliche Skandal für Titus Meier war
nicht die Existenz der P-26, sondern der skandalisierende Umgang mit ihr
durch Medien und Politik.
«Einseitiger» Bericht?
Überhaupt nicht einverstanden mit den Schlussfolgerungen von Titus Meier
ist der Berner Autor Peter Beutler, der immer wieder reale,oft
ungeklärte oder umstrittene Schweizer Kriminalfälle wie zum
«Jahrhundertspion» Jeanmaire oder zum Fall Zwahlen in brisante
Geschichten zu übersetzen weiss und mitunter auch spekulative, aber
plausibel wirkende Täteralternativen präsentiert. «Wie konnte Titus
Meier über die P-26 überhaupt schreiben,wenn er einen wesentlichen Teil
ihrer Akten gar nicht zur Hand hatte?», fragt Beutler. Andernfalls hätte
er Einsicht gehabt in die offiziellverschwundenen Unterlagen aus dem
«Cornu-Bericht».
Die Bücher von Martin Matter und Titus Meier hält Beutler für
«einseitig», sie kämen einer «Weisswaschung» dieser Geheimarmee gleich.
Der 77-jährige pensionierte Gymnasiallehrer hat für seinen neuen Roman
«Der Bunker von Gstaad» auch ehemalige P-26-Mitglieder kontaktiert.
«Aber natürlich wollte niemand direkt mit mir sprechen.»
Dabei hätte er eine Anzeige eines ehemaligen P-26-Mitglieds gegen ihn
begrüsst, nachdem Beutler in einer Facebook-Chatgruppe die P-26 als
«illegal und kriminell» bezeichnet hatte. «Dann hätte man den Fall
endlich in der Öffentlichkeit verhandeln müssen, aber bis jetzt ist
nichts passiert.»
Wer tötete Herbert Alboth?
Klar ist: Peter Beutler will nicht nur unterhalten, sondern auch
aufklären und etwas auslösen. Bewirkt hat er in einem anderen Fall
durchaus schon etwas: In seinem Kriminalroman «Hohle Gasse» verarbeitete
er den «Fall Luchs». Beim Einsatz einer Spezialeinheit der Luzerner
Kantonspolizei wurden 2005 zwei unschuldige Männer brutal verhaftet.
Passagen aus dem Verhaftungsvideo waren plötzlich nicht mehr auffindbar.
In einem Vorstoss verlangte der damalige Luzerner SP-Grossrat Beutler
Antworten zum Einsatz der Sondereinheit «Luchs». Später musste der
zuständige Polizeikommandant zurücktreten.
Dass ausgerechnet die Handakten mit den Befragungen über allfällige
Kontakte zwischen der P-26 und ausländischen Organisationen verschwunden
sind, hält Beutler für alles andere als einen Zufall. Man müsse sich
nur einmal vor Augen halten, dass mit dem damaligen EMD-Informationschef
Hans-Rudolf Strasser ein Mann die Untersuchung der P-26-Aktivitäten
koordinieren sollte, der gleichzeitig als «Franz» im Führungsstab der
P-26 sass. Als Strasser von Radio DRS enttarnt wurde, stellte ihn sein
Vorgesetzter Villiger – der nichts von dieser Doppelfunktion wusste –
umgehend frei.
Für Beutler ist es wahrscheinlich, dass die Akten geschreddert worden
sind. Er setzt den Einschätzungen von Matter und Meier in der Tat eine
alternative Version entgegen, die es in sich hat.
Im Zentrum steht der «Fall Herbert Alboth». Der ehemalige Oberstleutnant
der Luftschutztruppen war im April 1990 von der Wäschefrau tot in
seinem Bett in der Wohnung in Liebefeld aufgefunden worden. Der spärlich
bekleidete Leichnam wies Stichwunden auf, die von seinem eigenen
Armee-Bajonett herrührten. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Im Juni beschloss die Berner Staatsanwaltschaft, dass der Fall ein
knappes Jahr vor Ablauf der regulären Frist verjährt ist. Brisant:
Alboth war nicht nur Oberstleutnant der Luftschutztruppen, sondern auch
Mitglied der P-26-Vorgängerorganisation «Untergruppe Nachrichtendienst
und Abwehr» UNA.
Wollte Alboth auspacken?
In Beutlers Roman wird Jules Abel alias Herbert Alboth von Mitgliedern
der P-26 ermordet, weil er als «Verräter» über die Auslandsbeziehungen
der P-26 sprechen wollte. Auch Jean-Louis Jeanmaire kommt zu einem
Auftritt. Der 1988 vorzeitig entlassene Jeanmaire war als Chef der
Luftschutztruppen Alboths Vorgesetzter und ein enger Freund.
Belegt ist, dass Jeanmaire sich nach dem gewaltsamen Tod des Freundes
bei der Berner Kantonspolizei meldete und berichtete, Alboth habe sich
brieflich an Bundesrat Villiger gewandt und seine Hilfe angeboten bei
der Aufdeckung der ganzen Wahrheit über die P-26. Villiger lehnte
offenbar ab.
Alboth verkehrte erwiesenermassen auch im Schwulenmilieu. Für Beutler
ist allerdings die in Umlauf gebrachte Tatversion mit einem
Strichjungen, der Alboth erstochen und ihm mit Blut noch «Love» auf
dessen Bauch geschrieben haben soll, «ein lächerliches
Ablenkungsmanöver».
Nur eine Möglichkeit?
Beutler bringt in seinem Roman noch eine andere, schillernde Person ins
Spiel, den 2015 verstorbenen Licio Gelli. Der italienische Faschist war
Gründer der 1982 aufgelösten, einflussreichen italienischen
Freimaurerloge Propaganda Due (P2).
Für Peter Beutler ist es erwiesen, dass die Nato-Geheimarmeen «Gladio»
mit den P2-Logen zusammenarbeiteten. «Es gab auch Verbindungen zur
P-26», sagt Beutler. Der Terroranschlag in Bologna etwa, bei dem am 2.
August 1980 85 Menschen bei einem Sprengstoffanschlag starben, sei von
diesen Kreisen verübt worden, um das Bedrohungsbild des Linksterrorismus
aufrechtzuerhalten.
Grenzt das nicht alles an eine ziemlich wilde Verschwörungstheorie, Herr
Beutler? Sein Buch sei ein Literaturprodukt und präsentiere eine
Möglichkeit, entgegnet er ungerührt.
Flucht aus Champ-Dollon
P2-Gründer Gelli wurde im September 1982 in der Schweiz verhaftet, als
er mit falschem Pass bei einer Bank Gelder der Vatikan-Bank abheben
wollte. Ein knappes Jahr später gelang ihm die Flucht aus dem Genfer
Hochsicherheitsgefängnis Champ-Dollon – angeblich hatte er einen
Aufseher bestochen. «Auch hier habe ich meine Zweifel», sagt Beutler,
«eine Involvierung der P-26 erscheint mir wahrscheinlich, auch wenn die
Beweise fehlen.»
Was war sie denn jetzt, diese P-26? Das letzte Mittel des Bundesrates
für den Versuch, die freiheitlich-demokratische Ordnung
wiederherzustellen, wie Martin Matter in seinem Buch festhält?
Oder war sie eine Kaderorganisation, ohne Kampfauftrag, wie Historiker
Titus Meier urteilt? Eine Organisation, die im Besetzungsfall
politischen Widerstand organisiert und den Informationsfluss zur
Schweizer Exilregierung gewährleistet hätte?
Pistole in der Schokoladebox
«Sie ist eindeutig eine Geheimarmee gewesen», sagt dagegen Peter
Beutler, der im Nachwort sachlich den Stand der Forschung referiert und
seine Quellen offenlegt. Allein wäre die P-26 zwar nicht schlagkräftig
gewesen, sagt Beutler, «aber sie hätte als Vehikel für gewisse Leute in
der P-26-Führung gedient, um in einer Situation mit inneren Unruhen oder
einer Linksunterwanderung der Regierung auf die Armee zugreifen zu
können».
«Nach Gorbatschows Machtantritt 1985 war die P-26 weiter im Aufbau
begriffen», sagt Beutler, «das ist für mich ein klares Indiz dafür, dass
es nicht nur um den äusseren Feind ging.»
Ein wenig ging es bei der P-26 am Rande wohl auch um das diskrete
Ausleben von James-Bond-Fantasien, wie die Ausstellung in Solothurn
vermuten lässt. Dort werden auch P-26-Eigenentwicklungen von Waffen
gezeigt, die allesamt nie im Einsatz waren. Für das Modell «Tödi
getarnt» hatte man sich etwas «Süsses» einfallen lassen: eine Pistole,
eingebaut in eine edle Schokoladenbox.
–
Ausstellung und Bücher zum Thema
Die Ausstellung «P-26. Geheime Widerstandsvorbereitungen im Kalten
Krieg» im Museum Altes Zeughaus in Solothurn läuft bis zum 13. April
2020. Im Begleitprogramm gibt es Themenabende (etwa zu den
«Bedrohungsrezeptionen in der P-26»). Zudem stehen Gespräche mit Susi
Noger (ehemaliges P-26-Mitglied, 24.11.), Peter Bertschi (ehemaliger
Radio-Bundeshausredaktor, 19.1.) und dem Historiker Titus Meier (Autor
des Buches «Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall.
Die Schweiz im Kalten Krieg», NZZ Libro, 2018, 5.4.) auf dem Programm.
2012 legte der Publizist Martin Matter mit dem Buch «P-26. Die
Geheimarmee, die keine war» (Verlag Hier+Jetzt) die erste umfassende
Darstellung von Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der
Widerstandsorganisation P-26 vor. Der Kriminalroman «Der Bunker von
Gstaad» über die Geheimarmee P-26 von Peter Beutler ist soeben im
Emons-Verlag erschienen. (lex)
(https://www.derbund.ch/bern/stadt/die-patrioten-die-von-mao-lernten/story/22990111)