Medienspiegel 19. Oktober 2019

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++ZÜRICH
tagesanzeiger.ch 19.10.2019

Missstände in Asylzentren: Zürich zieht sich aus Untersuchung zurück

Der Kanton hat sich nachträglich entschieden, nun doch keine Auskunft zu geben. Die Forschungsleitung reagiert irritiert.

Liliane Minor

Diese Woche deckte ein Bericht des Kompetenzzentrums für Menschenrechte erschreckende Zustände in kantonalen Asylzentren auf: Viele Frauen und Mädchen werden dort Opfer von Übergriffen und sexueller Gewalt. Der Bericht hat Einrichtungen in den fünf Kantonen Genf, Bern, Thurgau, Neuenburg und Nidwalden untersucht. Nicht dabei ist Zürich – trotz anfänglicher Zusage.

«Zürich hat sich nachträglich aus der Untersuchung zurückgezogen», heisst es im Bericht. Der Kanton habe zum Zeitpunkt der Befragung den Betrieb der Unterkünfte neu ausgeschrieben, ist als Grund angegeben. Rainer Linsbauer vom Kantonalen Sozialamt bestätigt diese Darstellung auf Anfrage: «Mit der Neuvergabe der Mandate war eine Untersuchung der aktuellen Lage nicht sinnvoll.»

Absage kam sehr spät

Für Forschungsleiterin Tina Büchler ist die Absage bedauerlich: «Zürich wäre für uns wichtig gewesen, unter anderem, weil der Kanton als einer der wenigen grossflächig mit einem privaten Anbieter zusammenarbeitet.» Ausserdem hätten die Forscher gern die Situation in Genf und Zürich verglichen.

Einen Ersatz für Zürich gab es nicht. Weil sich das Kantonale Sozialamt erst spät aus der Befragung zurückgezogen habe, habe die Zeit gefehlt, um Asylzentren in einem anderen Kanton zu befragen.

Die Begründung für die Zürcher Absage kann Büchler zumindest aus wissenschaftlicher Sicht nicht nachvollziehen: «Die Neuausschreibung wäre aus unserer Sicht kein Problem gewesen. Und unser Bericht hätte dem Kanton gerade im Hinblick auf allfällige Betreiberwechsel wertvolle Hinweise für die künftige Gestaltung der Unterbringung geben können.» Im Kanton Bern sei man in einer vergleichbaren Lage gewesen, dort aber war die laufende Neuausschreibung kein Grund, nicht an der Befragung teilzunehmen.

Irritiert ist auch Georgiana Ursprung vom Hilfswerk Terre des Femmes. Die Begründung wirke vorgeschoben, findet sie: «Auf dem Platz Zürich gibt es ohnehin nur zwei grosse Anbieter, ORS und AOZ, welche Flüchtlinge betreuen, ein Umbruch war also nicht zu erwarten.» Der Rückzug passe aber in die Informationspolitik der Sicherheitsdirektion: «Es ist nicht das erste Mal, dass Zürich mit Informationen sehr zurückhaltend ist – als wollte der Kanton nicht, dass man genauer hinschaut.»

Prekäre Bedingungen?

Rainer Linsbauer weist diese Darstellung zurück: Mit der Neuvergabe sei zum Beispiel das Gesundheitskonzept stark verbessert worden. Der Kanton Zürich spiele damit, aber auch mit den Angeboten für Gewaltbetroffene und «insgesamt bezüglich der Sensibilität für das Thema» im interkantonalen Vergleich eine Vorreiterrolle. Die Forderungen, welche im Bericht erhoben werden – etwa nach getrennten sanitären Einrichtungen und von innen abschliessbaren Zimmern –, seien in den Zürcher Zentren allesamt erfüllt.

«Gut, wenn es so ist», sagt Georgiana Ursprung. Sie ist dennoch skeptisch. Die Situation in den Asylzentren sei das eine: «Aber in den Nothilfeunterkünften sind die Bedingungen für Frauen nach wie vor prekär.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/keine-infos-ueber-zuercher-asylzentren-fuer-forscher/story/14686282)


+++SCHWEIZ
Folter-Flug nach Bagdad – Iraker erhebt schwere Vorwürfe gegen die Schweiz: Mit Gewalt in die alte Heimat
Gefesselt, geschlagen, gewürgt: Ein Iraker erhebt nach seiner Ausschaffung schwere Vorwürfe.
https://www.blick.ch/news/schweiz/folter-flug-nach-bagdad-iraker-erhebt-schwere-vorwuerfe-gegen-die-schweiz-mit-gewalt-in-die-alte-heimat-id15574243.html


Das neue Bundeslager ist eröffnet!
Ein kritischer Bericht der Recherchegruppe Embrach – Oktober 2019
Dieser Text ist bereits als Broschüre erschienen und infomiert über das neu eröffnete Bundeslager am Römerweg 21 in Embrach, Kanton Zürich. Der Bericht bietet Einblick in den Lageralltag in Embrach und platziert eine grundsätzliche Kritik an dieser Lagerpolitik.*
https://barrikade.info/article/2748


+++EUROPA
ARCI: Security and Migration
Sara Prestianni hat bei ARCI eine Studie herausgebracht, welche die EU-Politik und insbesondere die italienische Politik der Migrationsabwehr, die ausufernde Rolle von FRONTEX und Eindrücke von Konferenzen der Sicherheitsindustrie, Stand März 2019, untersucht. Die Broschüre  konzentriert sich auf drei Fallbeispiele: Libyen, Niger und Ägypten.
Die Broschüre HIER als PDF: https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2019/10/ARCI-SECURITY-and-MIGRATION_20191018_0001.pdf
https://ffm-online.org/arci-security-and-migration/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kritik an Erdoğans Krieg wächst
Der türkische Einmarsch in Nordsyrien geht in die zweite Woche. Mittlerweile hat in der Schweiz das Ringen um die Deutungshoheit begonnen.
https://telebasel.ch/2019/10/19/kritik-an-erdoans-krieg-waechst/?channel=105100


In Luzern protestieren an die Tausend Menschen gegen die türkischen Kriegstreiber in Nordsyrien
Viele hundert Personen haben am Samstagnachmittag in Bern, Luzern und Genf gegen die Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien demonstriert. Sie forderten ein sofortiges Ende des Nordsyrien-Kriegs und ein Ende der Unterdrückung der Kurden.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/in-luzern-protestieren-hunderte-gegen-die-tuerkischen-kriegstreiber-in-nordsyrien-ld.1161321
-> https://www.zentralplus.ch/in-luzern-brauchts-bis-zur-bewilligung-nur-wenige-stunden-1636617/
-> https://www.tele1.ch/sendungen/1/Nachrichten#515829_3
-> https://www.tele1.ch/artikel/157417/in-luzern-demonstrierten-hunderte-gegen-den-krieg-in-nordsyrien
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/mahnwache-wird-zum-zuger-politikum-ld.1161206
-> https://www.zentralplus.ch/organisatoren-wollen-antworten-zum-zuger-mahnwache-verbot-1636363/
-> https://www.zentralplus.ch/mahnwache-fuer-syrien-abgesagt-aus-sicherheitsgruenden-1634531/


Proteste gegen Krieg in Syrien – Wie Schweizer Linksextreme die Kurden-Demos missbrauchen
Seit Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien mehren sich in der Schweiz gewalttätige Aktionen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/proteste-gegen-krieg-in-syrien-wie-schweizer-linksextreme-die-kurden-demos-missbrauchen
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=f171a956-9dfc-4128-8c85-14bb9d4e136f&startTime=559.145


(FB RJG Bern)
Heute haben etwa 2000 solidarische Menschen ihre Wut gegen Erdogans Genozid auf die Strassen Berns getragen. Unsere Arbeit endet natürlich nicht hier. Nicht nur in Rojava fallen die Bomben: Bis das System zum Einsturz gebracht wird, werden die Vermögenden das Blut der Menschen zu Profiten machen.
Lautstark haben wir ein Zeichen gesetzt gegen die Tötungindustrie der Waffenkonzerne, gegen den Angriffskrieg auf die Menschen Rojavas. Immer wieder müssen wir die Menschen in ihrem grauen Alltag mit einem Schimmer Farbe daran errinnern, dass eine emanzipatorische, solidarische Gesellschaft keine Utopie bleiben muss. In Rojava haben es die Menschen geschafft, ein Stück näher an die Utopie zu rücken. Dieses solidarische Projekt will der Faschist* Erdogan zerstören. Um das zu verhindern darf nicht mehr geschwiegen werden. Hinter der vermeintlichen Neutralität der Schweiz stecken bloss die Interessen der Konzerne und Institutionen des Staates. Dem muss nun sofort ein Ende gesetzt werden! Die Zukunft gehört nicht Nationen mit Grenzen für Menschen, sondern den Menschen selbst.
Nicht nur hier, nicht nur jetzt sind wir laut: wir kommen wieder. Genauso wie sich überall auf dem Globus Menschen aller Hintergründe solidarisieren, werden wir diesem Kampf für Rojava und die Freiheit wieder auf die Strassen ziehen.
Biji berxwedana Rojava!
Krieg dem Krieg!
#riseup4rojava
#fight4rojava
https://www.facebook.com/rjgbern/posts/1480067428812439
-> https://barrikade.info/article/2753



Rojava-Demo durch Innenstadt verlief friedlich
Am Samstagnachmittag zogen in Bern rund 2000 Demonstranten für eine Solidaritätskundgebung für Rojava von der Grossen Schanze via US-Botschaft zum Bundesplatz.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/demonstration-fuer-rojava-auf-der-grossen-schanze/story/19897263
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/kritik-an-syrien-offensive-turkei-solidaritats-demos-in-der-schweiz-65600874
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/angespannte-lage-an-krieg-dem-krieg-demo-135832733
-> https://www.nzz.ch/schweiz/hunderte-protestieren-in-der-schweiz-gegen-krieg-in-nordsyrien-ld.1516520
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/1000-menschen-demonstrieren-in-bern-gegen-krieg-in-nordsyrien-135832545
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/hunderte-protestieren-in-der-schweiz-gegen-krieg-in-nordsyrien-135832406
-> Demo-Aufruf: https://barrikade.info/article/2752


Sachbeschädigung: Anzeige gegen Demonstrant
Die Basler Polizei hat im Rahmen der Kurden-Demonstration vom Freitag einen jungen Deutschen angehalten, der mehrere Sachbeschädigungen begangen hat.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/anzeige-gegen-randalierer-nach-demo/story/30052506
-> http://www.onlinereports.ch/News.117+M5a6f14c80d6.0.html
-> https://www.polizei.bs.ch/nm/2019-person-nach-unbewilligter-kundgebung-angehalten-jsd.html


+++BIG BROTHER
UN-Bericht kritisiert Einsatz neuer Technologien in Sozialsystemen
Es gibt ein hohes Risiko, dass die Digitalisierung des Wohlfahrtstaates die Ärmsten noch stärker benachteiligt als bisher. Davor warnt ein neuer UN-Bericht über den Einsatz digitaler Technologien in den Sozialsystemen. Der Bericht mahnt fundamentales Umdenken an.
https://netzpolitik.org/2019/un-bericht-kritisiert-einsatz-neuer-technologien-in-sozialsystemen/



tagesanzeiger.ch 19.10.2019

Mit 50 Fragen Gewalttäter erkennen

Die Zürcher Polizei arbeitet mit einer Web-App, die Gewalt verhindern hilft. Wie funktioniert das System?

Patrice Siegrist

Auf die schrecklichen Taten folgen stets die gleichen Fragen:

Zürich, 31. Mai. Ein 60-jähriger Mann verschanzt sich in einer Wohnung und tötet zwei Frauen. – Wie konnte das passieren?

Au ZH, 28. Juli. Ein 33-Jähriger meldet der Polizei, er habe einen Streit mit seiner Frau gehabt, die Einsatzkräfte finden den leblosen Körper der 24-Jährigen in ihrer Wohnung. – War der Täter aktenkundig?

Dietikon, 26. August. Die Polizei findet in einer Wohnung die Leiche einer Frau. Das Kontaktverbot des mutmasslichen Täters, des 37-jährigen Ehemanns, lief wenige Wochen zuvor aus. – Hat die Polizei versagt?

Reinhard Brunner sagt dazu: «So viel wie heute hat die Polizei im Bereich der häuslichen Gewalt und des Gewaltschutzes noch nie unternommen.» Brunner ist Chef der Präventionsabteilung bei der Zürcher Kantonspolizei und hat die Gewaltschutzabteilung mitaufgebaut. Seit 2018 setzt die Kantonspolizei auf das Instrument Octagon, um die Gewaltbereitschaft gemeldeter Personen besser beurteilen zu können.

Octagon ist ein Fragebogen, den das Amt für Justizvollzug entwickelt hat. Er besteht aus 50 definierten Fragen (zum Fragebogen geht es hier lang) zu acht Themenbereichen: «Späht die Person ein potenzielles Opfer aus?», «Rechtfertigt die Person Gewaltanwendung mit Weltanschauungen?», «Konsumierte die Person Drogen, die aggressives Verhalten fördern?» Ein mit dem Fall betrauter Polizist beantwortet die Fragen und überträgt die Werte in ein Achteck, ein Oktagon. Es entsteht eine Art Smart-Spider für mögliche Gewalttäter.

Octagon funktioniert ohne Algorithmen, ohne riesige Datenbank, ohne Wahrscheinlichkeitsaussagen. Angezeigt wird nicht die Gefährlichkeit einer Person, sondern wo Risiken bestehen. Das Tool empfiehlt dann konkrete Handlungen. Zum Beispiel: Paartherapie, Entzug von Waffen, Deradikalisierung, Hausdurchsuchung. Abhängig sind diese auch von der Art der Gewaltdynamik. Rechtfertigt eine Person Gewalt aufgrund ihres Weltbildes? Liegt eine psychische Störung vor? Oder hängt die Gewaltbereitschaft mit der aktuellen Lebenssituation zusammen?

Octagon interessiert über die Kantonsgrenzen hinaus. Im Frühling stellte die Kantonspolizei auf ein digitales System um. Sieben andere Kantone und das Fürstentum Liechtenstein nehmen nun die Web-Applikation bis Ende Oktober in Betrieb. Vereinbarungen mit weiteren Kantonen stehen aus. Die anderen Korps bezahlten bloss «eine symbolische Installationsgebühr», sagt Brunner. Die Kantonspolizei betreibe das System sowieso, Mehrkosten entstünden kaum.

Jährlich rund 350 Fälle

Um das Vorgehen zu illustrieren, skizziert Brunner «eine Arbeitsplatzsituation», wie er es nennt. Zwei Angestellte bemühen sich um die gleiche Führungsposition, der Verlierer droht dem Gewinner. Bei der Polizei geht eine Meldung ein, der Gewaltschutz wird involviert, die Abklärungen beginnen. Hat der Mann eine Waffe? Was sagt der Arbeitgeber? Octagon kommt zum Zug. «Wir fragen uns durch die Themengebiete, versuchen den Fragebogen bereits so gut wie möglich auszufüllen und arbeiten mit Szenarien. Gehen wir von einer möglichen Schlägerei, einer schweren Körperverletzung oder gar einer Tötung aus?»

Kommen die Beamten zum Schluss, bei einer Person bestehe eine hohe Gewaltbereitschaft und es drohe die Ausführung eines schweren Verbrechens, kann die Polizei die Person verhaften. Das komme aber selten vor, sagt Brunner. Mildere Massnahmen seien häufiger. «Manchmal genügt es, den Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen, dass er Grenzen setzt.»

Zuvor versucht die Polizei, mit dem Gefährder zu reden. «Wenn zum Beispiel Beamte innert kurzer Zeit dreimal wegen eines Streits an eine Adresse ausrücken müssen, versuchen wir herauszufinden, wie die Person tickt», sagt Brunner. Dazu verabrede man sich – zu Hause, in einem Restaurant, auf einen Spaziergang. «Es geht darum mit dieser Person zu reden, wenn kein Streit im Gang ist.» Das habe oft eine deeskalierende Wirkung und liefert Informationen für Octagon. Ausserdem signalisiert die Polizei: «Wir wissen um dein Verhalten und sitzen dir im Nacken.»

Jährlich bearbeitet die Zürcher Polizei rund 350 solche Fälle mit Octagon und Gefährderansprachen. Ein Dossier wird erstellt, die Daten zehn Jahre aufbewahrt. Menschenrechtsaktivisten kritisieren das. Es gibt grundrechtliche Bedenken, weil ein Dossier angelegt werden kann, obwohl kein Strafverfahren läuft. So hat ein Beschuldigter nicht die gleichen Rechte wie im Strafprozess.

Im Alltag sei die Gefährder­ansprache gar nicht umstritten, sagt Reinhard Brunner. «Wir erklären der Person offen, worum es geht, dass wir eine Gewalteskalation verhindern wollen und uns dabei auf das Polizeigesetz stützen. Die Person ist nicht zur Mitwirkung verpflichtet. Die meisten willigen aber in ein Gespräch ein; viele sind danach sogar dankbar.» Die Akten würden gemäss Dokumentationspflicht im Rapportsystem erfasst.

Informationen über gefährliche Personen erhalten Brunners Gewaltschützer nicht nur von Polizisten an der Front, sondern auch von einem kantonsweiten Netzwerk von Mitgliedern bei Behörden und Institutionen. Anfänglich machten rund 400 Personen mit, mittlerweile sind es bereits 550. Sie arbeiten für RAV, Sozialzentren, Kesb oder Schulen. «Sie stellen sicher, dass Vorfälle, die ernsthaft Anlass zur Sorge geben, intern richtig gemeldet und der Polizei weitergeleitet werden», sagt Brunner.

Funktioniert das System?

Trotz Octagon: Zürich, Au, Dietikon. Femizide machen weiterhin Schlagzeilen. Funktioniert das System überhaupt? Brunner sagt: «Ja.» Das mit Zahlen zu belegen, sei aber schwierig. «Für uns sind alle Fälle, die wir abschliessen können, ein Erfolg», sagt er, da sich dann die Situation beruhigt habe. Meist seien 90 bis 120 Fälle pendent.

In Dietikon war der mutmassliche Täter der Polizei bekannt. Der «Blick» titelte: «Die Polizei hat versagt». Brunner widerspricht vehement. Niederschwelliger könne die Arbeit der Polizei im Gewaltschutz kaum mehr werden. «Was wir nicht können, ist Leute in ihren eigenen vier Wänden schützen», sagt er. Die Polizei könne die gesellschaftliche Entwicklungen nicht beeinflussen oder Menschen auf Dauer wegsperren – erst recht nicht, wenn noch keine strafrechtlichen Handlungen vorliegen.

Octagon helfe den Polizistinnen und Polizisten, Fälle strukturierter anzugehen. Und: Früher tat die Polizei wenig, solange keine Straftat vorlag. «Heute gehört die Prävention zur Polizeiaufgabe.» Er, der einstige «Vollblutstrafverfolger», wie er sagt, habe diesen Wandel selbst durchgemacht. «Wir dürfen heute nicht mehr nur ans Aufräumen nach einer Tat denken, wir müssen uns fragen: Was können wir tun, um eine Tat zu verhindern?»



Wieso Octagon anders ist
Bereits vor Octagon arbeitete die Polizei mit Prognose-Tools. Diese haben aber gewisse Nachteile. Erstens neigten sie dazu, zu viele Personen als potenziell gefährlich einzustufen, wie SRF-Recherchen zeigten. Würde man den Algorithmus anpassen, damit weniger Personen als potenziell gefährlich erscheinen, würde man aber das Risiko erhöhen, wirkliche Gefährder zu verpassen. Das zweite Problem war, dass solche Programme nur eine Wahrscheinlichkeitsprognose und keine Handlungsempfehlung lieferten, wie das Octagon tut. «Sagt die Wetterprognose eine Regenwahrscheinlichkeit von 60 Prozent vorher, nehmen Sie den Schirm mit. Und was tun Sie, wenn die Rückfallwahrscheinlichkeit bei einem Gewalttäter in den nächsten fünf Jahren bei 60 Prozent liegt?», fragt Reinhard Brunner, Chef der Präventions¬abteilung bei der Kantonspolizei. Der Umgang mit solchen Prognosen sei sehr schwierig. Diese Systeme stünden heute nur noch als Ergänzung im Einsatz. (sip)
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/mit-50-fragen-gewalttaeter-erkennen/story/11757987)


+++ANTIRA
antira-Wochenschau: Feuer auf Samos, Solidarität mit Rojava, Nazi-Konzert trotz Verbot
https://antira.org/2019/10/19/antira-wochenschau-4/


+++RECHTSPOPULISMUS
Vom Hass im Netz überrollt
Auto-Tuner Christopher Grau hat die Facebook-Gruppe «Fridays for Hubraum» gegründet, die viele als Anti-Greta-Revolution verstehen. Ein Missverständnis, sagt er.
https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/vom-hass-im-netz-ueberrollt/story/23755799


+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechtsextreme Online-Angebote: Rechte Esoteriker im Krieg gegen 5G und das Impfen
Schamanismus, Impfkritik, dunkle Kräfte, dazu Verschwörungstheorien: Auf Internetplattformen werden esoterische, rassistische und antisemitische Inhalte zunehmend vermischt. Über Videos werden diese Verschwörungsnachrichten zigtausenfach verbreitet – an Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden vorbei.
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextreme-online-angebote-rechte-esoteriker-im-krieg.724.de.html?dram:article_id=461384


+++DNA
derbund.ch 19.10.2019

Zu ungenau: Datenschützer kritisiert neue DNA-Analyse

Die Bürgerlichen sind für die neue DNA-Analyse, Datenschützer und Linke haben Einwände: Die Treffsicherheit der Analysemethode sei zu gering.

Sophie Reinhardt

Bei schweren Verbrechen soll die Polizei künftig Haar-, Augen- und Hautfarbe, Alter und Herkunft anhand der vorgefunden DNA bei Ermittlungen auslesen dürfen – sofern die Staatsanwaltschaft die Auswertung genehmigt. Die Ideen des Bundesrats kommen vor allem bei linken Berner Nationalrätinnen nicht gut an. Die zuständige Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) betont aber, die Daten würden nur für Ermittlungen und Fahndungen genutzt.

Aber auch der eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger hat ­Vorbehalte, besonders aufgrund der Ungenauigkeit der Methode. Laut Bundesamt für Polizei liegt beispielsweise die Treffsicherheit der Analysemethode bei schwarzen Haaren bei 87 Prozent, bei blonden Haaren aber nur bei 69 Prozent.

Auch die Einschränkung auf schwere Verbrechen geht Lobsiger nicht weit genug. «Mit dieser Regelung ist eine Phänotypisierung theoretisch auch bei Betrug möglich. Sie sollte aber nur zum Einsatz kommen, wenn es um Schwerstdelikte geht.» Grundsätzlich seien Vermögensdelikte auszuschliessen. Lobsiger plädiert zudem dafür, dass nicht die Staatsanwaltschaft, sondern ein Zwangsmassnahmengericht über den Einsatz der sogenannten Phänotypisierung entscheidet.

Pauschale Verdächtigung

Auch SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen sagt, der Einsatz der neuen Methode erfordere grosse Zurückhaltung. «Sie ist aus Sicht des Daten- und Persönlichkeitsschutz nur als letztes Mittel denkbar.» Es brauche deshalb eine klare und strenge Gesetzesgrundlage, damit sie nur zur Fahndung und Aufklärung besonders schwerer Verbrechen wie vorsätzliche Tötung oder Vergewaltigung zur Anwendung komme. Für die Aufklärung von kleinen bis mittleren Delikten dürfe dieses Verfahren nicht zum Einsatz kommen, da der Persönlichkeitsschutz im Umgang mit sensiblen Daten höher zu gewichten sei: «Insbesondere die Auswertung der Hautfarbe des Tatverdächtigen birgt enormes Risiko von fremdenfeindlich geprägten Pauschalverdächtigungen», sagt Flavia Wasserfallen.

Regula Rytz, Präsidentin der Grünen, sagt auf Anfrage, die neuen technischen Möglichkeiten könnten schon von Nutzen sein. «Sie werden aber von ihrer Wirkung her überschätzt und können zur pauschalen Stigmatisierung und Diskriminierung von unschuldigen Menschen führen.» Die Grünen wollen nun den Gesetzesvorschlag mit Fachleuten aus dem Bereich Strafrecht besprechen, ehe sie sich Ende November dazu äussern. Bis dahin läuft die ordentliche Vernehmlassungsfrist. «Die Anwendung unter restriktiven Bedingungen sowie die Genehmigung durch ein Zwangsmassnahmengericht könnte ein Weg sein», erklärt Rytz.

SVP begrüsst Gesetz

Fürsprecher findet der Gesetzesentwurf bei der SVP. Ihr Nationalrat Werner Salzmann sagt, das Gesetz sei ein Schritt in die richtige Richtung. «Wenn wir Techniken kennen, mit welchen Täter schneller gefasst werden können, dann müssen wir diese nutzen.» Er würde es sogar begrüssen, wenn auch bei weniger schwerwiegenden Taten künftig Phänotypisierungen möglich wären – wenn damit schwerere Verbrechen verhindert werden könnten. Als Beispiel nennt er den Diebstahl einer Waffe, die der Täter später für ein Tötungsdelikt einsetzen will. Zur teils noch beschränkten Aussagekraft der Methode sagt er: «Je öfter wir die Analyse einsetzen, desto besser wird die Methode.»

Weniger Entnahmen

Schon heute gelten DNA-Spuren als wichtige Indizien, um Verbrecher aufzuklären. Ende 2018 enthielt die nationale Datenbank 193857 Profile von Menschen und 84139 Tatortspuren. Doch schon bisher werden die DNA-Profile von Menschen nicht nur bei schweren Taten erstellt und mit der Datenbank abgeglichen. Ende Juli mussten beispielsweise in Zürich und Basel 83 Klimaaktivisten DNA-Proben abgeben, weil sie die Eingänge einer Grossbank blockiert hatten.

Beim Grossteil der erfolgreichen DNA-Ermittlungen handelte es sich bisher um Fälle von kleiner bis mittlerer Kriminalität. 2018 wurden in der DNA-Datenbank schweizweit 5054 Treffer erzielt, in mehr als der Hälfte dieser aufgeklärten Fälle ging es um Diebstahl und Einbrüche, in 651 um Drogendelikte. Fahndungserfolge dank DNA-Spuren gab es bei 76 Fällen aus dem Bereich Mord oder Tötung, bei 104 Fällen im Bereich der Sexualstraftaten. Bei Entführung, Geiselnahme und Menschenhandel gab es keine Treffer.

Entnommen dürfen nach heutiger Rechtslage DNA-Proben bei Verdächtigen nur, um eine sogenannte «Anlasstat» aufzuklären – oder bei jemandem, der rechtskräftig wegen einer vorsätzlich begangen Tat zu mindestens einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Präventiv dürfen diese Proben eigentlich nicht angeordnet werden.

Gegen diese Rechtsprechung hat die Kantonspolizei Bern verstossen. Deshalb wurde sie 2014 auch vom Bundesgericht gerügt. Die Polizei hatte ein DNA-Profil einer Aktivistin erstellt, die an der Uni Bern aus Protest Mist deponiert hatte. Seit diesem Urteil sind die DNA-Entnahmen bei der Berner Kantonspolizei massiv zurückgegangen – von 2800 im Jahr 2014 auf 1200 im Jahr 2018. In den vergangenen Jahren wurden dank DNA jedes Jahr etwa 500 Taten aufgeklärt.
(https://www.derbund.ch/bern/zu-ungenau-kritisiert-der-datenschuetzer/story/20005358)



derbund.ch 19.10.2019

«Nach einer Vergewaltigung sollte man alle Möglichkeiten ausschöpfen»

Mit DNA-Analysen die Hautfarbe der Täter herausfinden: Das soll künftig erlaubt sein. Genügt das Stefan Blättler, Kommandant der Berner Polizei?

Sophie Reinhardt

Die Berner Rechtsmedizin erhält neue Mittel: das dank dem neuen DNA-Gesetz, das der Bundesrat verabschiedet hat. Bei schweren Verbrechen sollen Tatortspuren auf Merkmale wie Augen-, Haar- und Hautfarbe, Alter und «biogeografische Herkunft» der Täter ausgewertet werden. Was erhofft sich Stephan Blättler, der hier in seiner Funktion als Präsident der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten Auskunft gibt, von der sogenannten Phänotypisierung?

Herr Blättler, was bedeutet es für die Arbeit der Polizei, wenn künftig Haut- und Augenfarbe aus DNA-Spuren herausgelesen werden können?

Bei einem schweren Delikt können wir bislang nur prüfen, ob die vorgefundene DNA bereits in der nationalen Datenbank erfasst ist. Es ist grundsätzlich immer hilfreich, wenn man mehr Informationen über die Täterschaft erhält. Daher kann es sehr interessant sein, wenn Hinweise von DNA-Spuren auf das Signalement hindeuten.

Was macht die Polizei mit der ungenauen Aussage aus dem Labor, der Täter sei zu 80 Prozent dunkelhäutig?

Nichts. Wenn man in diesem Fall dann mittels Medienmitteilung nach einer dunkelhäutigen Person fahndet, denunziert man im dümmsten Fall ziemlich viele Menschen, und es könnte die Ermittlungen auch behindern. Stellen Sie sich vor, der Täter stellt sich dann im Nachhinein als hellhäutig heraus. Das bringt uns nicht weiter. Und wenn man nach einer hellhäutigen Person suchen soll, schliesst das in der Schweiz auch nicht sonderlich viele Personen aus.

Was bringen also denn diese Angaben bei der Fahndung?

Sie helfen im Einzelfall. Wenn man beispielsweise eine Personengruppe eingrenzen kann, die für ein Verbrechen infrage kommt. Wenn dann die DNA-Phänotypisierung auf einen asiatischen Typ hinweist und in der Gruppe von zwanzig Personen nur zwei asiatischstämmige Menschen sind, dann ist die Aussage hilfreich. Zudem könnte das Verfahren auch dazu beitragen, Personen auszuschliessen, die nicht infrage kommen.

Aber können die fehleranfälligen Aussagen aus dem Labor die Polizei nicht sogar auf eine falsche Spur führen?

Das müssen Ermittlungsleiter bei ihrer Arbeit immer vor Augen haben. Man darf nie nur in eine Richtung ermitteln. Aber das gehört zum Polizeialltag. Etwa auch ein geäussertes Geständnis darf man nicht einfach so als stichfeste Beweislage verstehen. Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Mensch die Schuld auf sich nehmen will. Alle mutmasslichen Beweise müssen immer überprüft werden.

Warum befürworten Sie also die Phänotypisierung, auch wenn sie nicht immer zielführend ist?

Die Strafprozessordnung kennt verschiedene Massnahmen, etwa auch die Telefonüberwachung oder die Untersuchungshaft. Diese Massnahmen werden allerdings nur eingesetzt, wenn es Sinn macht. Auch die Phänotypisierung kann in einigen Fällen sinnvoll eingesetzt werden. Wir begrüssen die Methode, aber in der Praxis wird das Mittel allein vermutlich nicht zum Erfolg führen.

Was bringt die neue DNA-Methode beispielsweise bei einer Vergewaltigung wie der von Emmen, die den Anstoss für das neue Gesetz gab?

Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die geplante Revision des DNA-Profil-Gesetzes nicht dem entspricht, was sich die Strafverfolgungsbehörden erhofft haben, zumal das Gesetz sehr restriktiv formuliert ist. So werden wir immer dem wissenschaftlichen Fortschritt hinterherhinken. In einem derart schweren Vergewaltigungsfall wie Emmen sollte man doch alle Möglichkeiten ausschöpfen dürfen, um die Bevölkerung vor weiteren Taten schützen zu können. Mit der restriktiven Handhabung schützt man dann jedoch nicht die Bevölkerung, sondern effektiv die Täterschaft.

Die Kantonspolizei Bern wurde vom Bundesgericht gerügt, weil sie in einigen Fällen DNA entnommen hatte, die nicht rechtens waren. Was bedeutete das Urteil?

Seit dem Urteil sind die DNA-Profil-Erstellungen massiv zurückgegangen. Die aktuelle Strafprozessordnung sagt, die DNA darf nur entnommen werden, um das Verbrechen oder Vergehen aufzuklären, das Gegenstand des Verfahrens ist. Das Bundesgericht konkretisierte in der Folge, dass eine Entnahme zur Aufklärung anderer – bereits begangener oder künftiger – Delikte von gewisser Schwere nur gerechtfertigt ist, wenn erhebliche und konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen. Wird jemand in flagranti bei einem Einbruchdiebstahl angehalten, führt diese Regelung in vielen Fällen dazu, dass keine DNA-Profil-Erstellung verfügt wird, da diese zur Klärung der Anlasstat nicht nötig ist. Dies obwohl man annehmen muss, dass dieser Einbruch kaum der erste und der letzte gewesen sein wird, doch fehlen meist die geforderten erheblichen und konkreten Anhaltspunkte dazu.

Die Zahl der Treffer blieb aber trotz weniger angeordneter Tests in Bern gleich hoch. Das zeigt doch, dass zu oft Proben entnommen wurden?

Das Gerichtsurteil schränkt uns ein. Mittelfristig führt es dazu, dass wir weniger Verbrechen aufklären können, weil DNA-Treffer teils erst Jahre später folgen.
(https://www.derbund.ch/bern/nach-einer-vergewaltigung-sollte-man-alle-moeglichkeiten-ausschoepfen/story/14123809)



derbund.ch 19.10.2019

Mit Wattestäbchen dem Täter auf der Spur

Was lässt sich auch DNA-Spuren alles herauslesen? Ein Besuch im kriminaltechnischen Labor der Berner Ermittler.

Sophie Reinhardt

Das Büro von Christian Zingg ist keineswegs peinlich genau aufgeräumt. Der Chef des Kriminaltechnischen Dienstes der Kantonspolizei Bern weiss, dass man selbst bei einer Clean Desk Policy viele Spuren hinterlässt. Denn mit Spuren kennt er sich aus. Seit 13 Jahren ist der Chemiker Chef der Abteilung, die bei aussergewöhnlichen Todesfällen, schweren Einbrüchen oder Gewaltverbrechen ausrückt. Er und seine rund 70 Mitarbeitenden sind darauf spezialisiert, an einem Tatort Spuren zu sichern – auch solche, die mit blossem Auge gar nicht zu erkennen sind.

Zingg hat den Aufstieg der DNA-Analyse als Fahndungsmittel miterlebt. Heute sind Wattestäbchen, die etwa Hautschuppen oder Speichel aufnehmen können, ein wichtiges Arbeitsinstrument der Polizei. Worauf achten die Emitter am Tatort? Nach einem Einbruch wird beispielsweise auf Türgriffen nach DNA-Spuren gesucht. Verwertbare biologische Spuren sind auch Blutspritzer oder Spermaflecken. Bisweilen werden auch Gegenstände eingepackt, um sie im Labor der Ermittler genauer zu analysieren.

Genetischer Fingerabdruck

Die Polizei schickt die Wattestäbchen, von denen sie hofft, sie würden Information erhalten, ans Berner Institut für Rechtsmedizin (IRM). Dort wird in kurzer Zeit aus nur wenigen Hautschuppen ein DNA-Profil erstellt. Dieser genetische Fingerabdruck wird danach in der nationalen Datenbank abgeglichen.

So kann festgestellt werden, ob die Polizei die vorgefundene DNA einer Person oder auch anderen Deliktsfällen zuordnen kann. Jährlich stimmen schweizweit gegen 6000 Tatortspuren mit einer bereits in der Datenbank verzeichneten Person oder Spur überein – meist handelt es sich um Einbrecher, welchen die Polizei mit diesem Verfahren auf die Spur kommt.

Zingg sieht die Aufgabe seiner Abteilung aber nicht primär im Spurensammeln: «Unsere Aufgabe reduziert sich nicht auf die Sicherung von DNA, sondern wir möchten dank Spuren die Identität des Täters, aber auch den Ablauf der Tat besser verstehen», sagt er. Die Kriminalermittler suchen darum auch nach Fingerabdrücken, Schuh- und sogar Sockenspuren. Denn die vorgefundene DNA an einem Tatort beweist selten direkt die Schuld, sondern lediglich die Anwesenheit einer bestimmten Person. «DNA sagt auch nichts über die Motivation aus», sagt Zingg. Die Kombination verschiedener Spuren sei deshalb wichtig. Im besten Fall fügten sie sich wie ein Puzzle zusammen und führten zum Täter.

Phantombild dank DNA

Heute darf die Polizei einzig prüfen, ob die DNA-Spur am Tatort in der nationalen Datenbank erfasst ist und ob eine Frau oder ein Mann die Spur hinterlassen hat. Ist das DNA-Profil nicht erfasst, ist die Probe im Moment so gut wie wertlos. In Zukunft soll die Polizei aber noch viel mehr mit der aufgefundenen DNA tun dürfen als bisher.

Künftig soll die Rechtsmedizin aus den Spuren beispielsweise auch Haar- und Hautfarbe herauslesen können. Der Hintergrund der Forderung nach neuen Fahndungsmitteln ist ein schlimmes Verbrechen: 2015 wurde eine damals 26-jährige Frau im luzernischen Emmen vergewaltigt. Bis heute ist der Täter nicht gefasst, obwohl man sein DNA-Profil erstellen konnte. Er war in der Datenbank nicht erfasst.

Nach der Tat verlangte der Luzerner FDP-Nationalrat Albert Vitali in einem Vorstoss, das Gesetz sei an die neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten anzupassen. Das nationale Parlament folgte dem Vorschlag. Vitali regte an, dass man aus der im Sperma gefundenen DNA des Täters in Emmen eine Art Phantombild herauslesen könnte. In den Niederlanden wird dieses Verfahren bereits angewendet.

«Für Hinweise dankbar»

Noch ist die Wissenschaft nicht so weit, dass aus wenigen Hautschuppen ein Phantombild erstellt werden kann. Auch gilt die Methode noch als fehleranfällig.

Hofft Zingg, dass künftig mit der neuen Methode mehr Verbrecher gefasst werden? «Wenn wir einen Kriminalfall lösen sollen, sind wir für jeden Hinweis dankbar, der zu einem Täter führt.» Zingg trennt aber strikt zwischen seiner Arbeit als Polizist und der Politik: «Es ist Aufgabe der Politik, die Vorgaben zu bestimmen, wie weit die Rechtsmedizin gehen darf.»



Der Berner Rechtsmedizin gelang eine Weltpremiere

Es war eine weltweite Sensation und löste obendrein einen prominenten Kriminalfall: Anfang der 1990er-Jahre konnte der damalige Leiter des Berner Instituts für Rechtsmedizin (IRM), Richard Dirnhofer, das erste DNA-Profil aus einem Haar erstellen. Das Kopfhaar gehörte einer in Prag ermordeten Prostituierten und war im Auto von Johann «Jack» Unterweger gefunden worden. Dank der Berner Pioniertat wurde der österreichische Serienkiller überführt und 1994 in Graz wegen neunfachen Mordes verurteilt. Dirnhofer amtete in diesem Fall als Obergutachter, er hatte in Innsbruck Medizin studiert. 1991 wurde er an die Universität Bern berufen.

Der verurteilte Unterweger war kein Unbekannter. Er war bereits 1976 wegen Mordes an einer 18-Jährigen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Im Gefängnis begann er Gedichte und autobiografische Romane zu schreiben, und wenig später wurde er von prominenten Intellektuellen wie Elfriede Jelinek oder Erich Fried für seine Arbeit gefeiert. Der galante Unterweger galt bald als Liebling der Wiener Schickeria. Und diese machte Druck, dass er als Paradebeispiel gelungener Resozialisierung entlassen werden sollte. 1990 kam Unterweger tatsächlich vorzeitig frei.

Unterweger verneinte Morde

Sechs Monate nach Unterwegers Entlassung begann eine Serie von Prostituiertenmorden. Wien, Graz, Prag, Los Angeles: Immer dann, wenn eine Prostituierte mit ihrer eigenen Unterwäsche erdrosselt worden war, hatte sich Unterweger in der jeweiligen Region aufgehalten, um Lesungen zu halten oder zu recherchieren. Im Juli 1991 war er in Prag unterwegs, als die Prostituierte Blanka Bockova tot aufgefunden wurde. Von ihr stammt das Kopfhaar, das die Grazer Strafuntersuchungsbehörde nach Bern schickte, damit es vom Berner Rechtsmediziner «spurenkundlich untersucht» werde. «Zum ersten Mal hat damals ein Gericht die DNA-Analyse aus einem einzigen Haar als Beweismittel anerkannt», erzählte der emeritierte Professor Dirnhofer später dem «Bund». Die Wahrscheinlichkeit, dass das Haar vom Opfer stammt, habe bei eins zu drei Millionen gelegen.

Dennoch bestritt Unterweger die ihm zur Last gelegten Taten bis zuletzt. Wenige Tage nach seiner Verurteilung erhängte er sich in seiner Zelle. (sie)
(https://www.derbund.ch/bern/mit-den-wattestaebchen-den-taetern-auf-der-spur/story/13619716)


+++HISTORY
Westsahara: Die letzte Kolonie in Afrika
Wie die Schweiz sich am völkerrechtswidrigen Import aus der von Marokko besetzten Westsahara beteiligt.
https://barrikade.info/article/2749



derbund.ch 19.10.2019

Die Patrioten, die von Mao lernten

Vor 30 Jahren wurde die P-26 enttarnt. Die Empörung über diese «illegale Geheimarmee» war damals gross. Heute ist das Bild differenzierter, obwohl brisante Akten verschwunden sind.

Alexander Sury

«Der Kalte Krieg ist schon 30 Jahre zu Ende. Ich hoffe, die P-26 wird ihre Aufmerksamkeit erregen», rief die junge Frau ihren Ratskollegen im Saal zu. Mitte September trat die grüne Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone ans Mikrofon im Nationalratssaal und trug eine Motion ihrer Fraktion vor.

Annähernd 30 Jahre sind auch vergangen, seit im Nachgang des Fichen-Skandals die Geheimarmee P-26 im Februar 1990 in der «Schweizer Illustrierte» enttarnt wurde. In ihrer Motion fordert Lisa Mazzone, dass der als geheim klassifizierte «Bericht Cornu», der als Teil der «Parlamentarischen Untersuchung PUK EMD» 1991 die Auslandsbeziehungen der Schweizer Geheimorganisation untersuchte und bis 2041 einer Sperrfrist unterliegt, endlich in einer ungeschwärzten Version der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Verteidigungsministerin Viola Amherd beantragte in ihrer Stellungnahme Ablehnung der Motion und nannte als Gründe: Quellenschutz und das Interesse an guten Beziehungen zu befreundeten Staaten. Zahlreiche noch lebende Personen hätten Cornu damals unter Zusicherung der Vertraulichkeit Informationen zur Verfügung gestellt.

«Der Bundesrat ist der Ansicht, dass diese Personen auch heute noch ein Recht auf die Wahrung ihrer Anonymität haben», sagte die Bundesrätin gemäss «Amtlichem Bulletin». Mit 127 zu 50 Stimmen folgte der Rat der Empfehlung von Bundesrätin Amherd.

Spurlos verschwundene Akten

Die Verteidigungsministerin erwähnte in ihrer Replik auf die Motion noch einen anderen, irritierenden Sachverhalt. Nachdem die parlamentarische Geschäftsführungsdelegation im Januar 2018 publik gemacht hatte, dass Dokumente zur Geheimarmee P-26 nicht mehr auffindbar seien, wurde eine Suchaktion nach den fehlenden «Vorakten zum Cornu-Bericht» eingeleitet. Erfolglos. Über den Verbleib dieser Akten herrscht Unklarheit.

Diese inkriminierten Dokumente befassen sich ausgerechnet mit den neutralitätspolitisch heiklen Auslandsbeziehungen: Darunter sind 69 Einvernahmeprotokolle, die vor allem die Beziehungen zwischen der P-26 und ähnlichen paramilitärischen Widerstandsorganisationen im Ausland betreffen.

Mit Schreiben vom 16. Mai 2019 informierte Viola Amherd die Geschäftsführungsdelegation des Nationalrates, «dass das VBS im Einvernehmen mit dem Bundesarchiv die aktive Suche nach diesen Dokumenten beendet hat».

Der Hauptteil der Akten zum «Projekt 26» befinde sich ordnungsgemäss im Bundesarchiv, hält VBS-Mediensprecher Lorenz Frischknecht auf Anfrage fest. Nicht gesucht, aber im Zuge der Nachforschungen gefunden wurde dagegen eine Liste der P-26-Mitglieder; sie befindet sich im Bundesarchiv und unterliegt ebenfalls einer Schutzfrist von 50 Jahren.

Einige wenige Dokumente wurden laut Frischknecht infolge einer von Bundesrat Guy Parmelin in Auftrag gegebenen Suche Ende 2018 ebenfalls dem Bundesarchiv übergeben. Warum diese Ablieferung nicht früher vollzogen worden sei, kann der VBS-Sprecher nicht sagen. Zur Möglichkeit, dass die Einvernahmeprotokolle vernichtet wurden, weil sie sensitive Personendaten und Angaben zu ausländischen Geheimdiensten enthielten, will sich das VBS nicht äussern.

«Plausibelgeschichte» bereithalten

Etliche der Personen, die dem von FDP-Bundesrat Kaspar Villiger eingesetzten Neuenburger Parteifreund und Richter Pierre Cornu Anfang der 1990er-Jahre Red und Antwort standen, hatten sich einige Jahre zuvor in einem Bunker in Gstaad als Neumitglieder der P-26 eine Videobotschaft im Fernsehen angeschaut.

Im Dachgeschoss des Museums Altes Zeughaus in Solothurn kann der Besucher in der Ausstellung «P-26. Geheime Widerstandsvorbereitungen im Kalten Krieg» diese wenige Minuten dauernde Videobotschaft auch sehen. Ein hoher Offizier mit Brille und akkuratem Seitenscheitel sitzt vor einer Weltkarte, schaut ernst in die Kamera und gratuliert seinen Zuschauerinnen und Zuschauern zur Aufnahme in diesen besonderen Club.

100 Franken Spesen pro Kurstag gehörten ebenso dazu wie die Ermahnun
g, sich schon vor Antritt der Reise eine «Plausibelgeschichte» zu überlegen für den Fall, dass einem auf dem Weg zur Schulung im Berner Oberland ein Bekannter begegnen sollte.

«Keine Dorfkönige»

Wenn ein neues Mitglied erstmals im unterirdischen Bunker «Schweizerhof» bei Gstaad zu einem Ausbildungsgang eintraf (und etwa lernte, wie man «tote Briefkästen» anlegt), wurde es von einem hohen Offizier der Schweizer Armee begrüsst. Die Aufzeichnung stammt vom Januar 1986, und der Mann, der da spricht, ist der damalige Generalstabschef Eugen Lüthy: «Sie nehmen Verantwortung wahr. Eine Verantwortung, die nicht jedermann übertragen werden kann.»

Verantwortung übernehmen: Das hiess vor allem, sich auf den Besetzungsfall vorbereiten. Eine kommunistische Aggression aus dem Osten, im Zuge derer die Schweiz militärisch besiegt und besetzt worden wäre: Das war das Szenario, an dem sich die 400 Mitglieder der ab 1979 aufgebauten Geheimorganisation P-26 im Kalten Krieg orientierten.

Das «Projekt 26» geht auf die Ziffer 426 in der Konzeption der Gesamtverteidigung aus dem Jahr 1973 zurück, wo es um «Widerstand im feindbesetzten Gebiet» geht. Die zivile Kader und Ausbildungsorganisation wäre sodann auf den Plan getreten mit Vorbereitungen für den Widerstand im feindbesetzten Gebiet.

Das «Hydra»-Prinzip

Der Chef dieser Organisation, Efrem Cattelan alias «Rico», liess sich – so erfährt man in der Ausstellung – ausgerechnet von der Devise eines Kommunisten leiten, wenn es um die Grundkonzeption der Geheimorganisation ging: An Mao Zedongs Ausspruch nämlich: «Der Revolutionär muss sich in den Volksmassen bewegen wie ein Fisch im Wasser.»

Dazu gehörte auch das «Hydra»-Prinzip. In jeder Region der Schweiz gab es zwei Einsatztruppen der P-26, eine schlafende und eine aktive. Die beiden Gruppen hatten keine Kenntnis von der jeweils anderen. Die schlafende Gruppe wäre nach der Zerschlagung der aktiven «erwacht».

Und wie wurden diese patriotischen helvetischen «Revolutionäre» gefunden? Die Rekrutierung neuer Mitglieder – die meisten waren bereits über 50 Jahre alt und nicht mehr aktiv im Militärdienst – geschah meist durch Kooptation, also durch Vorschläge aus der P-26 heraus.

Eigenschaften wie Aufrichtigkeit, Disziplin, Sinn für Diskretion und Charakterstärke gehörten zum Anforderungsprofil. «Keine Prominenz oder ‹Dorfkönige›», heisst es in einem internen Dokument. Dort ist auch zu lesen, dass es sich als schwierig erweise, in der P-26 die Schweizer Bevölkerung in «ihrer Breite zu widerspiegeln».

Tatsächlich waren 95 Prozent Männer und 92 Prozent der P-26-Mitglieder im Zivilstand verheiratet. Bei den Berufsgruppen lagen Beamte und Personen mit technischen Berufen deutlich an der Spitze, während bei der politischen Gesinnung eindeutig eine bürgerliche Schlagseite herrschte, auch wenn es vereinzelt Mitglieder mit sozialdemokratischem Hintergrund gab.

Die Skandalisierung als Skandal?

Im Dachgeschoss des Alten Zeughauses in Solothurn fühlt man sich tatsächlich ein wenig an ein, ja: ein Zeughaus erinnert, denn szenografisch wird dezidiert mit nüchternen Metallgestellen und den Farben braun und grün gearbeitet: Es mutet an wie der Gang durch ein Archiv oder ein Warenlager.

Es wird viel Wert gelegt auf den historischen Hintergrund nach 1945, zu den Stationen der Ausstellung gehören etwa der Ungarn-Aufstand 1956, der Sputnik-Schock 1957, das Buch «Zivilverteidigung» (1965 in alle Schweizer Haushalte verschickt), die Anti-Atom-Bewegung, der Subversivenjäger Cincera oder die Gründung der GSoA.

Diese historische Dimension, die Einbettung in den Kontext des Kalten Krieges, wurde vor fast 30 Jahren im Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission kaum berücksichtigt. Der Publizist Martin Matter hielt 2012 in seinem Buch fest: Vor dem Hintergrund des veränderten innenpolitischen Klimas nach dem Ende des Kalten Krieges habe die P-26 «schlicht keine Chance» gehabt, «nüchtern und fair beurteilt zu werden». Die PUK habe die Widerstandsorganisation nur durch die «Brille der Gegenwart, ihrer Ansprüche und Empfindungen» beurteilt.

Mittlerweile hat der Wind gedreht, kaum jemand spricht mehr von einer illegalen, kriminellen Organisation, die ohne demokratische Kontrolle und rechtliche Grundlage im Verborgenen agierte.

Der Aargauer Historiker Titus Meier hat in seiner als Buch 2018 veröffentlichten Dissertation der These von der «Geheimarmee» eine klare Absage erteilt. Meier führte zahlreiche Interviews mit ehemaligen P-26-Mitgliedern und erhielt exklusiven Zugang zu privatem Material und für die Öffentlichkeit noch gesperrten Akten im Bundesarchiv.

Er erlebte die ehemaligen P-26-Mitglieder ausnahmslos als «bodenständige Demokraten», die sich nie gegen die eigene Regierung gestellt hätten. Meiers Fazit: Die P-26 sei keine «Kampftruppe» gewesen, sondern für «moralischen Widerstand» und «psychologische Kriegführung» ausgebildet worden; weder sei sie verfassungsmässig illegal gewesen noch gefährlich für den inneren Frieden. Der eigentliche Skandal für Titus Meier war nicht die Existenz der P-26, sondern der skandalisierende Umgang mit ihr durch Medien und Politik.

«Einseitiger» Bericht?

Überhaupt nicht einverstanden mit den Schlussfolgerungen von Titus Meier ist der Berner Autor Peter Beutler, der immer wieder reale,oft ungeklärte oder umstrittene Schweizer Kriminalfälle wie zum «Jahrhundertspion» Jeanmaire oder zum Fall Zwahlen in brisante Geschichten zu übersetzen weiss und mitunter auch spekulative, aber plausibel wirkende Täteralternativen präsentiert. «Wie konnte Titus Meier über die P-26 überhaupt schreiben,wenn er einen wesentlichen Teil ihrer Akten gar nicht zur Hand hatte?», fragt Beutler. Andernfalls hätte er Einsicht gehabt in die offiziellverschwundenen Unterlagen aus dem «Cornu-Bericht».

Die Bücher von Martin Matter und Titus Meier hält Beutler für «einseitig», sie kämen einer «Weisswaschung» dieser Geheimarmee gleich. Der 77-jährige pensionierte Gymnasiallehrer hat für seinen neuen Roman «Der Bunker von Gstaad» auch ehemalige P-26-Mitglieder kontaktiert. «Aber natürlich wollte niemand direkt mit mir sprechen.»

Dabei hätte er eine Anzeige eines ehemaligen P-26-Mitglieds gegen ihn begrüsst, nachdem Beutler in einer Facebook-Chatgruppe die P-26 als «illegal und kriminell» bezeichnet hatte. «Dann hätte man den Fall endlich in der Öffentlichkeit verhandeln müssen, aber bis jetzt ist nichts passiert.»

Wer tötete Herbert Alboth?

Klar ist: Peter Beutler will nicht nur unterhalten, sondern auch aufklären und etwas auslösen. Bewirkt hat er in einem anderen Fall durchaus schon etwas: In seinem Kriminalroman «Hohle Gasse» verarbeitete er den «Fall Luchs». Beim Einsatz einer Spezialeinheit der Luzerner Kantonspolizei wurden 2005 zwei unschuldige Männer brutal verhaftet. Passagen aus dem Verhaftungsvideo waren plötzlich nicht mehr auffindbar. In einem Vorstoss verlangte der damalige Luzerner SP-Grossrat Beutler Antworten zum Einsatz der Sondereinheit «Luchs». Später musste der zuständige Polizeikommandant zurücktreten.

Dass ausgerechnet die Handakten mit den Befragungen über allfällige Kontakte zwischen der P-26 und ausländischen Organisationen verschwunden sind, hält Beutler für alles andere als einen Zufall. Man müsse sich nur einmal vor Augen halten, dass mit dem damaligen EMD-Informationschef Hans-Rudolf Strasser ein Mann die Untersuchung der P-26-Aktivitäten koordinieren sollte, der gleichzeitig als «Franz» im Führungsstab der P-26 sass. Als Strasser von Radio DRS enttarnt wurde, stellte ihn sein Vorgesetzter Villiger – der nichts von dieser Doppelfunktion wusste – umgehend frei.

Für Beutler ist es wahrscheinlich, dass die Akten geschreddert worden sind. Er setzt den Einschätzungen von Matter und Meier in der Tat eine alternative Version entgegen, die es in sich hat.

Im Zentrum steht der «Fall Herbert Alboth». Der ehemalige Oberstleutnant der Luftschutztruppen war im April 1990 von der Wäschefrau tot in seinem Bett in der Wohnung in Liebefeld aufgefunden worden. Der spärlich bekleidete Leichnam wies Stichwunden auf, die von seinem eigenen Armee-Bajonett herrührten. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.

Im Juni beschloss die Berner Staatsanwaltschaft, dass der Fall ein knappes Jahr vor Ablauf der regulären Frist verjährt ist. Brisant: Alboth war nicht nur Oberstleutnant der Luftschutztruppen, sondern auch Mitglied der P-26-Vorgängerorganisation «Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr» UNA.

Wollte Alboth auspacken?

In Beutlers Roman wird Jules Abel alias Herbert Alboth von Mitgliedern der P-26 ermordet, weil er als «Verräter» über die Auslandsbeziehungen der P-26 sprechen wollte. Auch Jean-Louis Jeanmaire kommt zu einem Auftritt. Der 1988 vorzeitig entlassene Jeanmaire war als Chef der Luftschutztruppen Alboths Vorgesetzter und ein enger Freund.

Belegt ist, dass Jeanmaire sich nach dem gewaltsamen Tod des Freundes bei der Berner Kantonspolizei meldete und berichtete, Alboth habe sich brieflich an Bundesrat Villiger gewandt und seine Hilfe angeboten bei der Aufdeckung der ganzen Wahrheit über die P-26. Villiger lehnte offenbar ab.

Alboth verkehrte erwiesenermassen auch im Schwulenmilieu. Für Beutler ist allerdings die in Umlauf gebrachte Tatversion mit einem Strichjungen, der Alboth erstochen und ihm mit Blut noch «Love» auf dessen Bauch geschrieben haben soll, «ein lächerliches Ablenkungsmanöver».

Nur eine Möglichkeit?

Beutler bringt in seinem Roman noch eine andere, schillernde Person ins Spiel, den 2015 verstorbenen Licio Gelli. Der italienische Faschist war Gründer der 1982 aufgelösten, einflussreichen italienischen Freimaurerloge Propaganda Due (P2).

Für Peter Beutler ist es erwiesen, dass die Nato-Geheimarmeen «Gladio» mit den P2-Logen zusammenarbeiteten. «Es gab auch Verbindungen zur P-26», sagt Beutler. Der Terroranschlag in Bologna etwa, bei dem am 2. August 1980 85 Menschen bei einem Sprengstoffanschlag starben, sei von diesen Kreisen verübt worden, um das Bedrohungsbild des Linksterrorismus aufrechtzuerhalten.

Grenzt das nicht alles an eine ziemlich wilde Verschwörungstheorie, Herr Beutler? Sein Buch sei ein Literaturprodukt und präsentiere eine Möglichkeit, entgegnet er ungerührt.

Flucht aus Champ-Dollon

P2-Gründer Gelli wurde im September 1982 in der Schweiz verhaftet, als er mit falschem Pass bei einer Bank Gelder der Vatikan-Bank abheben wollte. Ein knappes Jahr später gelang ihm die Flucht aus dem Genfer Hochsicherheitsgefängnis Champ-Dollon – angeblich hatte er einen Aufseher bestochen. «Auch hier habe ich meine Zweifel», sagt Beutler, «eine Involvierung der P-26 erscheint mir wahrscheinlich, auch wenn die Beweise fehlen.»

Was war sie denn jetzt, diese P-26? Das letzte Mittel des Bundesrates für den Versuch, die freiheitlich-demokratische Ordnung wiederherzustellen, wie Martin Matter in seinem Buch festhält?

Oder war sie eine Kaderorganisation, ohne Kampfauftrag, wie Historiker Titus Meier urteilt? Eine Organisation, die im Besetzungsfall politischen Widerstand organisiert und den Informationsfluss zur Schweizer Exilregierung gewährleistet hätte?

Pistole in der Schokoladebox

«Sie ist eindeutig eine Geheimarmee gewesen», sagt dagegen Peter Beutler, der im Nachwort sachlich den Stand der Forschung referiert und seine Quellen offenlegt. Allein wäre die P-26 zwar nicht schlagkräftig gewesen, sagt Beutler, «aber sie hätte als Vehikel für gewisse Leute in der P-26-Führung gedient, um in einer Situation mit inneren Unruhen oder einer Linksunterwanderung der Regierung auf die Armee zugreifen zu können».

«Nach Gorbatschows Machtantritt 1985 war die P-26 weiter im Aufbau begriffen», sagt Beutler, «das ist für mich ein klares Indiz dafür, dass es nicht nur um den äusseren Feind ging.»

Ein wenig ging es bei der P-26 am Rande wohl auch um das diskrete Ausleben von James-Bond-Fantasien, wie die Ausstellung in Solothurn vermuten lässt. Dort werden auch P-26-Eigenentwicklungen von Waffen gezeigt, die allesamt nie im Einsatz waren. Für das Modell «Tödi getarnt» hatte man sich etwas «Süsses» einfallen lassen: eine Pistole, eingebaut in eine edle Schokoladenbox.



Ausstellung und Bücher zum Thema

Die Ausstellung «P-26. Geheime Widerstandsvorbereitungen im Kalten Krieg» im Museum Altes Zeughaus in Solothurn läuft bis zum 13. April 2020. Im Begleitprogramm gibt es Themenabende (etwa zu den «Bedrohungsrezeptionen in der P-26»). Zudem stehen Gespräche mit Susi Noger (ehemaliges P-26-Mitglied, 24.11.), Peter Bertschi (ehemaliger Radio-Bundeshausredaktor, 19.1.) und dem Historiker Titus Meier (Autor des Buches «Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall.

Die Schweiz im Kalten Krieg», NZZ Libro, 2018, 5.4.) auf dem Programm. 2012 legte der Publizist Martin Matter mit dem Buch «P-26. Die Geheimarmee, die keine war» (Verlag Hier+Jetzt) die erste umfassende Darstellung von Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der Widerstandsorganisation P-26 vor. Der Kriminalroman «Der Bunker von Gstaad» über die Geheimarmee P-26 von Peter Beutler ist soeben im Emons-Verlag erschienen. (lex)
(https://www.derbund.ch/bern/stadt/die-patrioten-die-von-mao-lernten/story/22990111)