Medienspiegel 3. September 2019

+++GROSSBRITANNIEN
Großbritannien lehnt über 3.000 LGBT-Asylbewerber aus Verfolgerstaaten ab
Ein erschreckender Bericht einer britischen Oppositionspartei legt nahe, dass die konservative Regierung pro Jahr mehr als 1.000 mutmaßlich queere Menschen in Staaten abschieben will, in denen ihnen Gefängnis droht.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=34389

+++GRIECHENLAND
Die steigende Zahl von Flüchtlingen in der Ägäis drängt Griechenlands neue Regierung zum Handeln
Die Gründe für den Anstieg der Flüchtlingszahlen sind unklar, die humanitären Konsequenzen aber bekannt. Bereits lange vor Winterbeginn kündigt sich in den Auffangzentren auf den griechischen Inseln eine dramatische Situation an.
https://www.nzz.ch/international/die-steigende-zahl-von-fluechtlingen-in-der-aegaeis-draengt-griechenlands-neue-regierung-zum-handeln-ld.1506110

Flüchtlinge in Griechenland – «Langfristig keine Lösung, die Menschen von A nach B zu bringen»
Um das überfüllte Camp auf Lesbos zu entlasten, werden Flüchtlinge auf das Festland gebracht. Eine umstrittene Praxis.
https://www.srf.ch/news/international/fluechtlinge-in-griechenland-langfristig-keine-loesung-die-menschen-von-a-nach-b-zu-bringen

+++MITTELMEER
„Kämpfende Verwaltung“ gegen Boat-people
In Italien gebiert die untergehende flüchtlingsfeindliche Politik des scheidenden Innenministers Matteo Salvini ein altbekanntes Ungeheuer: „Kämpfende Verwaltungen“, die sich an keine Normen gebunden sehen, attackieren andere Institutionen, die rechtsstaatlich vorgehen. Die militärische maritime Zollbehörde („Guardia di Finanza“) hat heute gegen die „Mare Jonio“ ein Zwangsgeld in Höhe von 300.000 Euro verhängt und das Schiff beschlagnahmt, nachdem die italienische Hafenbehörde  („Capitaneria di Porto“) und die Küstenwache („Guardia Costiera“) der „Mare Jonio“ die Einfahrt und das Anlanden der Geretteten in Lampedusa gestern erlaubt hatten.
https://ffm-online.org/kaempfende-verwaltung-gegen-boat-people/

Rettungsschiff beschlagnahmt: 300.000 Euro Bußgeld für „Mare Jonio“
Kaum durften die letzten an Bord verbliebenen Migranten an Land gehen, haben italienische Behörden das Rettungsschiff „Mare Jonio“ beschlagnahmt. Die Besatzung wurde mit 300.000 Euro Bußgeld belegt.
https://www.tagesschau.de/ausland/mare-jonio-107.html
-> https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5623085/

Spanien: Küstenwache rettet fast 200 Migranten
Bei einem Einsatz in der Straße von Gibraltar und im Alboran-Meer haben Rettungskräfte der spanischen Küstenwache mehrere Flüchtlingsboote entdeckt. Fast 200 Menschen nahmen sie auf und brachten sie nach Malaga.
https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-spanien-109.html

»Ocean Viking« wieder im Rettungseinsatz
Marseille. Das Rettungsschiff »Ocean Viking« ist wieder im Einsatz, um vor Libyen Migranten aufzunehmen. Das Schiff sei am Montagabend in Marseille losgefahren, twitterte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die die »Ocean« zusammen mit SOS Méditerranée betreibt. »Das Schiff wird ins zentrale Mittelmeer fahren, wo Menschen aus Libyen fliehen und auf der Suche nach Sicherheit ertrinken.«
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1125246.seenotrettung-ocean-viking-wieder-im-rettungseinsatz.html

+++GASSE
Steigender Konsum von Partydrogen: Stadt Luzern unterstützt Tests von Pillen und Pülverchen
Ein Qualitäts-Check für Partydrogen – das tönt erst einmal nach einer Einladung zum Konsum illegaler Substanzen. Dahinter steckt aber Präventionspolitik. Das erkennt nun auch die Stadt Luzern. Noch diesen Herbst soll es losgehen.
https://www.zentralplus.ch/stadt-luzern-unterstuetzt-tests-von-pillen-und-puelverchen-1604517/
-> https://www.zentralplus.ch/luzerner-helfen-beim-feiern-gerne-mit-partydrogen-nach-1605179/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/immer-mehr-partydrogen-stadt-luzern-reagiert-mit-kostenlosen-drogentests-ld.1148575

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Wie dumm ist die Menschheit?»
(Interlaken) – Zum ersten Mal hielten die Aktivisten der Klimastreikbewegung eine Kundgebung auf dem Marktplatz ab. Der Protest wurde nicht nur mit offenen Armen empfangen. Die Demonstranten wollten sich Gehör verschaffen, trafen aber hauptsächlich auf taube Ohren.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/176253/

+++REPRESSION DE
Bayerisches Polizeigesetz: 19 Personen wochenlang in Präventivgewahrsam
Das bayerische Polizeiaufgabengesetz erlangte letztes Jahr bundesweite Bekanntheit. Im Eilverfahren führte die CSU damit den zeitlich unbegrenzten Präventivgewahrsam ein. Seit das Gesetz in Kraft ist, sind mindestens 19 Personen für mehrere Wochen eingesperrt worden – ohne Anklage und oft ohne den Beistand einer Anwältin. Nun wurde bekannt, dass fast ausschließlich Ausländer:innen betroffen sind.
https://netzpolitik.org/2019/bayerisches-polizeigesetz-19-personen-wochenlang-in-praeventivgewahrsam/

+++REPRESSION FR
Gefängnis statt Urlaub für politisch Aktive (#Die3vonderAutobahn)
Drei Freunde fahren von Nürnberg aus ins Baskenland, um dort ihre Ferien zu verbringen. Auf dem Weg passieren sie die Hochsicherheitszone rund um den G7 Gipfel in Biarritz. An einer Mautstelle werden sie von der französischen Polizei festgenommen und per Schnellverfahren abgeurteilt. Der Tatvorwurf: Bildung einer gewalttätigen Bande. Die drei verschwinden im Gefängnis ohne die Möglichkeit zu haben, einen Anwalt oder ihre Familie zu kontaktieren. Glaubt Ihr nicht? True Story! Wir sprachen mit dem langjährigen Polit-Aktivisten Michael Kronawitter in Berlin über den Fall, der anscheinend kein Einzelfall ist. Zur Zeit sitzen in Frankreich nämlich mehrere Politaktivisten „präventiv“ im Gefängnis, unter anderem auch Menschen, die im Hambacher Forst aktiv sind und einfach mal so nach Frankreich gefahren sind. Ein Trend, der sich mit den neu verabschiedeten Polizeigesetzen in Bayern, Sachsen und anderen Bundesländern unter Umständen bald auch in Deutschland verbreiten könnte.

Mehr Infos unter https://www.rote-hilfe.de/77-news/992-drei-nuernberger-auf-dem-weg-ins-baskenland-inhaftiert
Solikonto unter https://www.redside.tk/2019/08/28/solikonto-fuer-die-3-von-der-autobahn-eingerichtet/

+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Anforderungen an Integration weiter verschärft
Fallbeispiele zeigen, wie sich das revidierte AusländerInnen- und Integrationsgesetz (AIG) auf die betroffenen Personen auswirkt.
https://beobachtungsstelle.ch/news/anforderungen-an-integration-weiter-verschaerft/

+++BIG BROTHER
Fischen auf Vorrat
Zum Beispiel 14. August 2019: Wie die Zürcher Stadtpolizei nach einem Fussballspiel und einer kaputten Fensterscheibe fleissig ihre Datenbank füttert.
https://www.saiten.ch/fischen-auf-vorrat/

+++POLIZEI DE
Ehemaliger Bremer Polizist wirft Polizei rassistische Kontrollen vor
Laut Polizei wird in Bremen niemand nur aufgrund seiner Hautfarbe kontrolliert. Rassistische Kontrollen finden statt, behauptet aber der Beamte, der sie einst verhindern sollte.
https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/vorwurf-rassistische-kontrollen-polizei-bremen-100.html

+++ANTIFA
Schweiz: Einreiseverbot für russischen Neonazi-Hooligan
Denis Kapustin, einer der einflussreichsten Akteure der rechtsextremen Kampfsportszene, darf nicht mehr in die Schweiz einreisen.
https://www.infosperber.ch/Artikel/FreiheitRecht/Schweiz-Einreiseverbot-fur-russischen-Neonazi-Hooligan

+++ANTIRA
Hass im Internet und im Job: Bundesstudie: Rassismus unter Schweizer Jugendlichen nimmt zu
Rassismus unter Jugendlichen in der Schweiz nimmt zu. Das hält eine neue Studie des Bundes fest. Schlüsselprobleme sind Hassreden auf Social Media und Probleme am Arbeitsplatz.
https://www.blick.ch/news/schweiz/hass-im-internet-und-im-job-bundesstudie-rassismus-unter-schweizer-jugendlichen-nimmt-zu-id15496657.html

+++RECHTSPOPULISMUS
Wo sind die Flüchtlinge, Herr Gobbi?
Er wollte die Grenzen schliessen und warnte vor Ausländerkriminalität. Doch die Prognosen des Tessiner Sicherheitsdirektors Norman Gobbi bewahrheiteten sich bisher nicht. Ein Gespräch über den ausbleibenden Flüchtlingsansturm, Matteo Salvini und das Tessin.
https://www.watson.ch/schweiz/interview/526763156-norman-gobbi-spricht-im-interview-ueber-die-ausbleibende-fluechtlingswelle

AfD-Frau Alice Weidel ist in Einsiedeln ein Phantom
Ihre Partei feiert grosse Erfolge – doch AfD-Frontfrau Alice Weidel wohnt seit Kurzem in Einsiedeln SZ. Doch nicht mal der bekannteste Einsiedler hat Kenntnis.
https://www.nau.ch/news/schweiz/afd-frau-alice-weidel-ist-in-einsiedeln-ein-phantom-65578437
-> https://www.blick.ch/news/politik/gemeindepraesident-erfuhr-erst-von-blick-dass-die-deutsche-afd-fraktionschefin-bei-ihm-wohnt-alice-weidel-ist-jetzt-eine-einsiedlerin-id15494652.html

+++HISTORY
Ein Haus der anderen Schweiz? Ja, in Bümpliz!
Die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen empfiehlt, einen Ort für die Betroffenen und ihre Geschichte zu schaffen. Wir sagen, wo er entstehen und wie er heissen könnte.
http://www.journal-b.ch/de/082013/politik/3376/Ein-Haus-der-anderen-Schweiz-Ja-in-B%C3%BCmpliz!.htm

+++SOZIALES
Kritik an Verordnung der Aargauer Regierung: «Sozial schwache Personen werden diskriminiert»
Im Kanton Aargau formiert sich Widerstand gegen die vom Regierungsrat beschlossene Möglichkeit, wonach Armutsbetroffene gegen deren Willen in Heimen untergebracht werden können. Kritiker befürchten Willkür, der Kanton relativiert.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/kritik-an-verordnung-der-aargauer-regierung-sozial-schwache-personen-werden-diskriminiert-135560810
-> -> https://www.srf.ch/news/regional/aargau-solothurn/umstrittene-verordnung-im-aargau-geht-die-angst-um-im-heim-versorgt-zu-werden
-> https://www.telem1.ch/aktuell/demo-gegen-zwangseinweisungen-von-armen-135563089
-> Petition: http://www.armenhaeuser-nein.ch/

+++PSYCHIATRIE
bernerzeitung.ch 03.09.2019

UPD-Chefpsychologe verteidigt lasche Kontrollen

Nach einem Bericht dieser Zeitung über die leichte Verfügbarkeit von Drogen in den Berner UPD stellt sich die Frage: Welche Rolle spielen Kontrollen bei der Therapie von Süchtigen?

Benjamin Bitoun

Die Aussagen liessen aufhorchen: Ausgerechnet in den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD), wo sich auch Patientinnen und Patienten mit Suchtproblemen therapieren lassen, seien Drogen allgegenwärtig.

Mitte August publizierte diese Zeitung einen Artikel, in dem mehrere Besucher und Patienten, aber auch UPD-Mitarbeitende von Missständen berichten.

Suchtkranke und andere Personen könnten Drogen in die Klinik bringen, ohne kontrolliert zu werden, oder diese direkt auf dem Areal kaufen. Die Personen werfen der Klinikleitung vor, von dem Problem zu wissen, aber nichts dagegen zu tun.

Die UPD-Leitung bestreitet die Präsenz von Drogen in und um die Klinik nicht. Der Vorwurf der Untätigkeit treffe aber nicht zu. «Seit 2011 beschäftigen wir einen internen Sicherheitsdienst», sagt Stefan Aebi, Vorsitzender der UPD-Geschäftsleitung. Der 15-köpfige Sicherheitsdienst habe zwar keine hoheitlichen Befugnisse, sei aber auf dem Areal präsent.

Bleibt der Vorwurf der zu laschen Eingangskontrollen. Hierzu stellt sich die Frage: Wie viel Kontrolle und Schutz vor der Aussenwelt brauchen suchtkranke Menschen, um gesund zu werden? Professor Franz Moggi, der Chefpsychologe der UPD, nimmt dazu im Interview Stellung.

Was spricht gegen strikte Personenkontrollen, um zu verhindern, dass Drogen in die UPD geschmuggelt werden?

Franz Moggi: Dagegen sprechen viele Gründe, wissenschaftliche und therapeutische. Ausserdem haben wir dafür gar keine rechtliche Grundlage. Die meisten Patienten kommen freiwillig zu uns. Auch bei Besuchern wären zwangsweise Kontrollen gar nicht legal. Selbst wenn jemand unfreiwillig bei uns ist, müssen wir immer die mildeste Methode anwenden. Das kann auch eine klare Vereinbarung für den Ausgang oder eine zuverlässige Unterstützung durch Angehörige sein.

Wie werden Personen in den UPD aktuell kontrolliert?

Wir vereinbaren mit Patienten Behandlungspläne, zu denen auch Kontrollen bei der Rückkehr in die Klinik gehören können, sporadisch oder auf Verdacht. Nur in Ausnahmen können diese gegen ihren Willen durchgeführt werden. Zu Suchtkrankheiten gehört, dass Patienten trotz bester Absichten «schwach werden» und Drogen verstecken, zum Teil an Orten, die man, gelinde gesagt, kaum kontrollieren kann.

Das heisst, selbst wenn Sie dürften, wären strengere Kontrollen kaum durchführbar?

Genau. Nehmen wir einmal an, wir möchten nur eine einzige Station streng kontrollieren. 18 Patienten gehen hier täglich ein und aus. Dazu kommen Ärzte, Besucher und Personal wie etwa der Essens- und der Wäschedienst. Wie oft geht die Tür auf und zu? Selbst wenn wir dürften: Für solche strikten Kontrollen bräuchten wir zwei Polizisten pro Station. Das wiederum würde der Therapie schaden, die sich auf medizinische und psychologische Hilfe, Ruhe und ein freundliches Milieu stützt.

Hardliner würden sagen, dass trotzdem um jeden Preis verhindert werden muss, dass Süchtige im Entzug an Drogen kommen.

Das war die Doktrin bis in die 1980er-Jahre. Patientinnen und Patienten in der Suchtbehandlung erhielten keinen Ausgang. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Nicht umsonst wurden die Mauern rund um die UPD Anfang der 1980er abgerissen.

Was spricht aus wissenschaftlicher Sicht gegen schärfere Kontrollen?

Vor allem eines: Sie bringen nichts. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Kontrolle und Restriktion nicht wirksam sind, um Suchtverhalten nachhaltig zu verändern. In den 1960er-Jahren etwa versuchte man, Alkoholsüchtige «gegenzukonditionieren», indem man ihnen beim Anblick von Alkohol Stromschläge versetzte. Und noch in den 1990er-Jahren, der Zeit der offenen Drogenszene auf dem Platzspitz, hat man Süchtige eingesperrt. Das hat alles nichts genützt, sondern individuell und gesellschaftlich sogar geschadet.

Wenn Repression nicht wirkt: Was funktioniert denn sonst?

Im Zentrum der Suchttherapie steht die Verhaltensänderung, mit dem Patienten zusammen zu erreichen, dass er sein Verhalten, seine Lebensgewohnheiten ändert – und zwar selbst. Bei einem Süchtigen beinhaltet das beispielsweise, dass er eben nicht mehr auf die Schützenmatte oder in seine Lieblingskneipe geht.

Wie läuft eine stationäre Suchttherapie genau ab?

Das kommt stark auf den Patienten an und darauf, in welcher Situation er zu uns kommt. Als Universitätsklinik mit 24-Stunden-Notfalldienst nehmen wir oft akute, komplexe Fälle auf. Es beginnt oft mit der Entgiftung, einem für Süchtige kaum zu ertragenden Zustand. Nach oder schon während des Entzugs gehen wir zur Phase der Motivierung über.

Bei welchen Substanzen ist der Entzug am schlimmsten?

Schlimm sind etwa Benzodiazepine (Beruhigungsmittel, Anm. d. Redaktion), hier kann ein Entzug drei, vier Wochen oder länger dauern. Ein Heroinentzug ist meist heftiger, dauert im Vergleich aber wesentlich weniger lang. Wobei man sagen muss, dass Heroin in der Gesellschaft kein grosses Thema mehr ist. Weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung konsumiert Heroin.

Was geschieht, wenn es während des Klinikaufenthalts zu einem Rückfall kommt?

Abstinenz ist das Ziel der Behandlung, Klinik und Areal sind drogenfreie Zonen. Das heisst aber nicht, dass Rückfälle und Verstösse nicht vorkommen, sie sind Teil der Erkrankung. Sie müssen verstehen: Nach einem Entzug ist der Patient an einer Therapie interessiert und schliesst mit uns eine Behandlungsvereinbarung ab. Er glaubt in dem Moment, dass er sich daran halten kann. Doch schon wenige Tage später kommen ihm Zweifel, und die Probleme kehren zurück. Gerade dann dürfen wir ihn nicht alleinlassen.

Doch was nützt eine Vereinbarung, wenn sie nicht konsequent eingehalten wird?

Dieser Frage geht ein Denkfehler voraus. Die Annahme, dass Alkohol- oder Drogenabhängigkeit etwas ist, das man freiwillig wählt und womit man auch einfach wieder aufhören kann, ist völlig falsch. Übermässiger Konsum führt zu einer biologischen Veränderung im Hirn, die in der Therapie rückgebildet werden muss. Dabei können Rückfälle vorkommen. Wird eine Behandlungsvereinbarung jedoch mehrmals verletzt, dann kann das durchaus zum Austritt des Patienten führen. Nich, weil man ihn zur Strafe rausschmeisst, sondern weil eine Therapie ohne Motivation sinnlos ist.

Was geschieht mit den Suchtpatienten nach Entzug und Therapie?

Wenn sein Zustand sich gebessert hat, dann tritt er aus, geht für eine längere Therapie in eine Fachklinik für Sucht, eine Tagesklinik oder in eine ambulante ­Behandlung. Dafür arbeiten wir mit dem kantonalen Netzwerk Suchtpsychiatrie zusammen, das wir gegründet haben.

Nun erwähnten Sie zu Beginn, dass die UPD als Universitätsspital die schwierigen Fälle behandeln. Was macht einen Patienten zum schwierigen Fall?

Ich würde eher von komplexen Fällen sprechen. Vielfach ist es die Kombination von verschiedenen psychischen Problemen. Patienten, die etwa nebst ihrer Sucht noch unter Psychosen ­leiden, für deren Behandlung wir das richtige Medikament und die richtige Dosierung finden müssen.

Also das, was einzelne Patienten als medikamentös «ruhigstellen» empfinden?

Dieser Ausdruck ärgert mich. Wenn jemand zum Beispiel unter einer schweren Depression leidet, muss diese gemäss Stand der Wissenschaft auch mit Medikamenten behandelt werden, welche die Lebensenergie wieder beleben können. Andere schwer psychisch Kranke leiden unter unvorstellbaren Vernichtungsängsten. Auch dafür gibt es sehr wirksame Medikamente, die einen klaren Kopf wiederherstellen können. Diese Therapien werden immer mit psychologischen und sozialen Methoden begleitet. Von einem einfachen Ruhigstellen kann also nicht die Rede sein.

Dazu kommen diejenigen Patienten, die nicht freiwillig hier sind, sondern zwangseingewiesen wurden. Auch solche ohne Drogenprobleme. Ebenfalls schwierige Fälle?

Nicht alle, aber ja: Die gibt es. Sie ecken in der Gesellschaft an, verweigern unsere vielfältigen Angebote, sie konsumieren Drogen, wenn sie können, und sie denken nicht daran, damit aufzuhören. Und trotzdem müssen wir versuchen, sie zu einer Behandlung zu motivieren, weil sie ärztlich oder behördlich eingewiesen wurden und wir wirksame Therapien haben.

Was geschieht mit Patienten, die nicht mitmachen?

In den meisten Fällen können wir therapeutisch trotzdem weiterhelfen und die Patienten werden gebessert oder geheilt entlassen. Manchmal können wir den Behandlungsauftrag aber nicht vollständig erfüllen. Dann ist eine andere Institution oder gar die Entlassung die bessere Lösung als ein langer Aufenthalt in der Akutpsychiatrie. In Einzelfällen kann aber keine andere Einrichtung die Patienten aufnehmen, und auch ein betreutes Wohnen ist nicht möglich. Dann bleiben sie hier und verweigern die Behandlung. Das ist für alle Beteiligten eine schwierige Situation, die für Aussenstehende schwer verständlich ist.

Aber wirken sich solche «Verweigerer» nicht negativ auf die Therapien anderer aus?

Das kommt vor, aber Isolation ist keine Lösung. Unsere Behandlungsteams sorgen für ein Tagesprogramm, Verhaltensregeln und für soziale Kontakte. Die Mitpatienten sind vielfach sehr verständnisvoll, weil sie das grosse Leid dieser Menschen erkennen. Jedenfalls streben wir an, nicht mehr als ein bis zwei dieser Patienten auf einer Station zu betreuen.

Wie viele Ihrer Patienten werden zwangseingewiesen?

Wir haben rund 4000 stationäre Eintritte pro Jahr. Etwa 16 Prozent davon sind fürsorgerische Unterbringungen (FU). Bei vielen gelingt es unseren Teams schnell, den Nutzen einer Therapie klarzumachen. Dann können wir die FU nach wenigen Stunden bis Tagen durch eine freiwillige Behandlungsvereinbarung ersetzen. In unserer Patientenbefragung gibt die grosse Mehrheit an, sie sei auch gegen ihren Willen korrekt und respektvoll behandelt worden, etwa die Hälfte findet die Zwangseinweisung im Nachhinein gerechtfertigt. Es gibt auch solche, die ausdrücklich dankbar dafür sind, dass sie vor sich selber gerettet wurden.

Wie viele Patienten betreuen Sie insgesamt auf den jeweiligen Abteilungen?

Wir haben 18-Betten-Stationen. Notfalls können wir die Belegung bis auf 20 Patienten erhöhen.

Und wie viel Personal steht für eine Station zur Verfügung?

Ein Oberarzt und zwei Assistenzärzte. Dazu 13 Pflegefachleute und je eine Psychologin und Sozialarbeitende. Es gibt ein Therapieteam, das unter anderem Physio-, Kunst-, Musik- und tiergestützte Therapien anbietet.

Hat das Betreuungsverhältnis abgenommen?

In den letzten zehn Jahren, ja. Ein Einschnitt war, als vor einigen Jahren durch einen Beschluss des Regierungsrates zwei Stationen geschlossen wurden. Dadurch fiel zwar Personal weg, aber die Patienten haben sich nicht einfach in Luft aufgelöst. In der Folge mussten wir das Patientenverhältnis von 16 auf 18 pro Station erhöhen.

Wie würde denn das ideale Verhältnis genau aussehen?

Das hängt von den jeweiligen Behandlungen ab. Doch sicher nicht das, was wir aktuell haben. Um noch differenzierter und intensiver helfen zu können, müssten wir mehr Personal haben.

Gibt es Pläne, beim Personal aufzustocken?

Für das laufende Jahr konnten wir die Personalressourcen etwas erhöhen.

Dennoch bräuchten Sie mehr Gelder, um Ihren Patienten gerecht zu werden?

Zeigen Sie mir ein Spital, das von sich sagt, es verfüge über genügend Mittel (lacht). Gerecht können wir den Patienten schon werden, aber wie gesagt, wir könnten noch mehr. Es geht letztlich um die Frage: Wie viel Geld will die Gesellschaft für die Therapie von psychisch kranken Menschen ausgeben?

Netzwerk für Suchtkranke

Psychiatrische Einrichtungen im Kanton Bern haben sich 2016 zu einem Netzwerk Suchtpsychiatrie zusammengeschlossen. Neben der UPD gehören dem Netzwerk Institutionen an wie die Kliniken Südhang und Selhofen in Bern, Burgdorf und Biel, das Psychiatriezentrum Münsingen oder die Privatklinik Meiringen. Der Sinn des Zusammenschlusses bestehe darin, die verstreut über den deutschsprachigen Kantonsteil angebotenen Leistungen zu erfassen, sagt Franz Moggi, Koordinator des Netzwerks. Zuweisende Ärzte könnten sich dadurch in kurzer Zeit einen Überblick verschaffen und ihre Patientinnen und Patienten der entsprechenden Institution in ihrer Region unkompliziert zuweisen. (bit)
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/waldau-chefpsychologe-verteidigt-lasche-kontrollen/story/31547885)


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