+++FRANKREICH
Geflüchtete in Paris
Protest der Papierlosen
In Paris haben hunderte Geflüchtete das Panthéon besetzt. Viele von ihnen leben auf der Straße, während tausende Wohnungen leer stehen.
https://jungle.world/artikel/2019/33/protest-der-papierlosen?page=all
+++BALKANROUTE
Die IOM in Bosnien – Hüterin der Festung
Im Beitrag Perspektivlos & entrechtet in Bosnien: Die Folgen der Abschottungspolitik schreibt Dr. Sascha Schießl vom Flüchtlingsrat Niedersachsen über die Flüchtlingslager in Bosnien-Herzegowina. Die Zustände sind bekannt: unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser, kaum Sanitäranlagen und fehlende medizinische Versorgung sowie keinen Zugang zu rechtlicher Unterstützung. Die Wartezeit bei Behörden zieht sich über Tage. Illegale PushBacks im „Game“ der Grenzüberquerung gehören zum Alltag Geflüchteter. Besonders das Lager Vucjak ist wegen seines Standorts auf einer ehemaligen Mülldeponie bekannt.
Besonderen Fokus wirft der Beitrag auf die Rolle der Internationalen Organisation für Migration, der IOM, die für die Unterbringung der Migrant*innen und Geflüchteten zuständig ist. Schießl schreibt
https://ffm-online.org/die-iom-in-bosnien-hueterin-der-festung/
+++MITTELMEER
„Flüchtlinge im Mittelmeer und ihr Recht auf Zugang zum Asylverfahren der Europäischen Union“
Was würde passieren, wenn ein Flüchtlingsschiff an einer deutschen Küste ankommen würde? Der Zugang zum Asylverfahren müsste gewährt werden. Dies schreiben nationales und europäisches Recht vor. Die Verbote Italiens und Maltas, in den Hafen einzufahren, verletzen EU-Recht.
https://ffm-online.org/fluechtlinge-im-mittelmeer-und-ihr-recht-auf-zugang-zum-asylverfahren-der-europaeischen-union/
Rettungsschiffe im Mittelmeer: 400 Migranten – und kein Hafen
Wieder nehmen Rettungsschiffe Flüchtlinge im Mittelmeer auf, wieder bleiben die Häfen geschlossen. Insgesamt rund 400 Migranten harren derzeit auf NGO-Schiffen aus – die Lage an Bord wird offenbar immer schwieriger.
https://www.tagesschau.de/ausland/rettungsschiffe-open-arms-ocean-viking-101.html
28 Minderjährige verlassen «Open Arms» – Salvini in Bedrängnis
Die italienische Behörden haben der Landung von 28 minderjährigen Migranten, die sich noch an Bord des Rettungsschiffes «Open Arms» vor der Insel Lampedusa befinden, Grünes Licht gegeben. Damit verbleiben noch 106 Migranten an Bord des Rettungsschiffs.
https://www.luzernerzeitung.ch/newsticker/international/28-minderjahrige-verlassen-open-arms-salvini-in-bedrangnis-ld.1143975
-> https://kurier.at/politik/ausland/28-minderjaehrige-fluechtlinge-in-italien-salvini-unter-druck/400580531
-> https://www.spiegel.de/politik/ausland/open-arms-matteo-salvini-laesst-minderjaehrige-fluechtlinge-an-land-a-1282451.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-migranten-schiff-101.html
-> https://www.srf.ch/news/international/nach-ueber-zwei-wochen-minderjaehrige-duerfen-die-open-arms-verlassen
-> https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/28-minderjaehrige-verlassen-open-arms-salvini-in-bedraengnis/story/14261214
Kapitän der Open Arms warnt vor Eskalation an Bord
Die Lage ist dem Kapitän zufolge „explosiv“. Lampedusa sei in Sicht, Italiens Innenminister Salvini verweigert dem Schiff aber die Einfahrt
https://www.derstandard.at/story/2000107503525/kapitaen-der-open-arms-warnt-vor-eskalation-an-bord?ref=rss
-> https://de.euronews.com/2019/08/17/open-arms-will-notfalls-anlegen-erzwingen
+++TÜRKEI
Brutalste Abschiebungen aus der Türkei – und die EU schweigt
Am 24. Juli kündigte der türkische Innenminister Süleyman Soylu an, dass türkische Autoritäten damit begonnen haben, illegalisierte Migrant*innen und Geflüchtete abzuschieben. Und nur wenig später berichteten unter anderem die taz und Aljazeera bereits von über 6.000 Inhaftierungen und Deportationen innerhalb der Türkei sowie nach Syrien und in den Iran.
https://ffm-online.org/brutalste-abschiebungen-aus-der-tuerkei-und-die-eu-schweigt/
+++TUNESIEN
Tunesien: Odyssee subsaharischer Migrant*innen
Vor gut einer Woche stellte die tunesische Menschenrechtsorganisation FTDES ein Video ins Netz, mit dem eine Gruppe von Geflüchteten von der Elfenbeiküste, die sich in einer militärischen Sperrzone an der Grenze von Tunesien zu Libyen befand, um Hilfe sucht – wir haben darüber berichtet. Die Gruppe war Anfang August in Sfax verhaftet und nach Medenine gebracht worden, bevor sie von der Nationalgarde in die Wüstenregion nahe der libyschen Grenze deportiert worden war: 36 Menschen, darunter elf Frauen und vier Kinder ohne Lebensmittel und Wasser. Nur dem Engagement tunesischer und internationaler Aktivist*innen ist es zu verdanken, dass sie gerettet werden konnten. Lettera 43 berichtet in einer ausführlichen Reportage über die Odyssee dieser Menschen.
https://ffm-online.org/tunesien-odyssee-subsaharischer-migrantinnen/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Grösste Tierrechts-Demo der Schweiz in Zürich
In Zürich demonstrierten heute Veganer für ein Ende der Tiernutzung. Zum ersten Mal fand der «Animal Rights March» auch in der Schweiz statt. Der Zürcher Bauernverband hält wenig von den Forderungen der Veganer.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/groesste-tierrechts-demo-der-schweiz-in-zuerich-00117780/
-> https://www.nau.ch/news/videos/demonstration-gegen-tierausbeutung-darum-ist-sara-bachmann-dabei-65569293
Farbe für die UBS
Am Mittwochmorgen haben wir eine Filiale der UBS in Basel mit Farbe dekoriert. Mit diesem Angriff solidarisieren wir uns mit den von Repression betroffenen Aktivist_innen der Klimaaktionstage in Basel und Zürich vom 8. und 9. Juli 2019
https://barrikade.info/article/2530
+++POLIZEI DE
Zwölf-Jahre-Bilanz: Bundespolizisten fielen 30 Mal durch Rechtsextremismus auf
Es ging um Äußerungen, Symbole und szenetypische Kleidung: In insgesamt 30 Fällen hat die Bundespolizei seit 2007 Verfahren wegen rechtsextremer Umtriebe eingeleitet. Meist schlugen Kollegen Alarm.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundespolizei-30-interne-verfahren-wegen-rechtsextremismus-a-1282409.html
-> https://taz.de/Rechtsextremismus-bei-der-Bundespolizei/!5618701/
Fragwürdiger Einsatz der BKA-Drohnenabwehr
Die Justiz- und Innenbehörden rüsten ihr Arsenal zur Bekämpfung von kleinen Drohnen auf. Für die Abwehr stehen „weiche“ und „harte“ Methoden zur Verfügung, darunter Störsender und Netzwerfer. Bei den zwei bekanntgewordenen Einsätzen des BKA half die Technik aber nicht. Einer davon richtete sich gegen eine Aktion des Seebrücke-Netzwerks.
https://netzpolitik.org/2019/anti-terror-drohnenabwehr-erfolgloser-einsatz-gegen-seebruecke-berlin/
Polizei in der Kritik: Entfremdete Bürger in Uniform?
Ein Kommentar von Nils Zurawski
Polizeigewalt, Rassismusvorwürfe, rechte Netzwerke: Das Image der bürgernahen Polizei bröckelt, beobachtet der Sozialforscher Nils Zurawski. Er fordert eine moderne, vertrauenswürdige Polizei, die ihre Fehler transparent reflektiert.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/polizei-in-der-kritik-entfremdete-buerger-in-uniform.1005.de.html
+++POLIZEI MEX
Mexiko-Stadt: 17 Verletzte bei Frauendemonstration gegen Polizeigewalt
In Mexiko-Stadt haben erneut zahlreiche Frauen gegen Vergewaltigungen und andere Übergriffe durch Polizisten demonstriert. Mehrere hundert Frauen versammelten sich im Zentrum der Hauptstadt und skandierten Sprechchöre.
https://de.euronews.com/2019/08/17/mexiko-stadt-17-verletzte-bei-frauendemonstration-gegen-polizeigewalt
-> https://www.srf.ch/news/international/polizeiuebergriffe-an-frauen-demonstration-gegen-polizeigewalt-in-mexiko-eskaliert
+++ANTIRA
Multikulti ist der Kern von Rassismus
Davon, was ein Afroamerikaner im Alltag in Berlin erlebt, können Weiße sich keine Vorstellung machen. Ein Gastbeitrag.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/als-afroamerikaner-in-berlin-multikulti-ist-der-kern-von-rassismus/24912998.html
+++RECHTSPOPULISMUS
Strafrechts-Professorin analysiert Kriminal-Papier der SVP
Mit ihrem Strategiepapier hat die SVP diese Woche vor der kriminellen Schweiz gewarnt. Eine Strafrechts-Professorin schüttelt jedoch den Kopf und korrigiert.
https://www.nau.ch/news/schweiz/strafrechts-professorin-analysiert-kriminal-papier-der-svp-65569651
Heimlicher Umzug: Alice Weidel wohnt wieder in der Schweiz
Die umstrittene deutsche AFD-Politikerin lebt mit ihrer Partnerin in der Zentralschweiz – und hofft, dass es nicht wie in Biel endet.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/heimlicher-umzug-alice-weidel-wohnt-wieder-in-der-schweiz-135419165
-> https://www.watson.ch/schweiz/afd/384743874-afd-politikerin-alice-weidel-ist-heimlich-wieder-in-die-schweiz-gezogen
-> https://www.20min.ch/schweiz/zentralschweiz/story/AfD-Politikerin-wohnt-wieder-in-der-Schweiz-28195816
-> https://www.blick.ch/incoming/aber-nicht-im-linken-biel-afd-politikerin-alice-weidel-wohnt-wieder-in-der-schweiz-id15470213.html
-> https://www.tele1.ch/artikel/156518/afd-vorsitzende-lebt-jetzt-in-der-zentralschweiz
-> https://www.tele1.ch/sendungen/1/Nachrichten#508446_7
Greta Thunberg wollte Panik säen, erntet nun aber Wut
Mit hasserfüllten Kommentaren zielen die Leser auf die Klimaaktivistin Greta-Thunberg. Warum tun sie das?
https://www.aargauerzeitung.ch/kommentare-aaz/greta-thunberg-wollte-panik-saehen-erntet-nun-aber-wut-135417489
-> https://www.watson.ch/!132426623
-> https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_86274890/hass-auf-greta-thunberg-niemand-darf-auf-mitgefuehl-hoffen.html
-> https://www.nzz.ch/spezial/meran-und-umgebung/greta-thunberg-versinkt-im-news-sumpf-ld.1502266
+++FUNDIS
ICF & Co.: Warum sich Freikirchen plötzlich öffnen
Ehe für alle, Scheidung, Sex vor der Ehe: Freikirchen geben sich vermehrt liberal. Dahinter steckt Kalkül.
https://www.beobachter.ch/gesellschaft/icf-co-warum-sich-freikirchen-plotzlich-offnen
+++PSYCHIATRIE
Krankenkasse verweigert einem Versicherten Hepatitis-C-Therapie
«Meine Krankenkasse Sanitas nimmt in Kauf, dass ich sterbe»
17.08.2019 21:21 Uhr
Paul Müller (55) hat seine Drogensucht überwunden. An einem normalen Leben hindert ihn nur noch das Virus Hepatitis C – und das Schweizer Gesundheitssystem.
https://www.blick.ch/news/wirtschaft/krankenkasse-verweigert-einem-versicherten-hepatitis-c-therapie-meine-krankenkasse-sanitas-nimmt-in-kauf-dass-ich-sterbe-id15470915.html
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bernerzeitung.ch 17.08.2019
Massives Drogenproblem in der psychiatrischen Klinik
Drogen auf den Zimmern, Dealer vor der Eingangstür und im Park: In den UPD sind Rauschmittel Alltag. Das berichten Patienten, Besucher und sogar auch Mitarbeitende.
Benjamin Bitoun
Das erste Mal liefert sich Alex* selbst ein. Es sind die Amphetamine, er hat zu viel davon genommen. «Falsch dosiert», sagt er. Nach einem Infusionsbeutel Kochsalzlösung geht es ihm besser. Er will gehen. Doch die Ärzte sagen Nein. «Sie wollten sich Hilfe holen, nun kriegen Sie sie», hätten sie zu ihm gesagt. Sie ordnen eine fürsorgerische Unterbringung an, eine Zwangseinweisung. So kommt Alex auf die Station Lehmann der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern.
Der Gemeinschaftsraum eines Wohnheims im Kanton Bern, es ist ein lichtdurchfluteter, heller Ort für Menschen mit dunklen Gedanken. Das Heim ist eine Anschlusslösung für diejenigen, die nach der Entlassung aus der psychiatrischen Klinik nicht allein klarkommen. Alex sitzt am Tisch.
Seine Trainingskleider und seine Statur lassen erahnen, dass er einmal sportlich war. Früher. Heute ist der 28-Jährige abgemagert, sein Gesicht übersät mit Akne – Speedpickel –, eine Folge des Amphetaminkonsums. Er will seine Geschichte erzählen. Das, was ihm in der UPD widerfahren ist.
Drogen in der Klinik
Fünf Wochen dauert sein erster Zwangsaufenthalt. Kurz nach der Einweisung diagnostiziert der Arzt bei ihm eine Schizophrenie. «Das wollen sie allein an meinem Sprachgebrauch festgestellt haben», sagt Alex. Therapiert worden sei er jedoch nicht, nur ruhiggestellt mit starken Medikamenten. Wochenlang.
In der Folge verfällt Alex der Langeweile und konsumiert wieder Drogen – in der UPD. «Die Amphetamine habe ich mir von draussen organisiert und reinbringen lassen», sagt er, als wäre es das Einfachste der Welt, sich auf einer Station einer Psychiatrie zuzudröhnen.
Das zweite Mal wird er von einem Spitalarzt zwangseingewiesen. Ein Totalabsturz mit Psychose, es geht ihm «richtig dreckig». Er landet auf der Station Schneeberger, der Station für Suchtkranke. «Sieben Wochen war ich eingesperrt. Ohne Ausgang, ohne Aussicht auf Entlassung», sagt Alex.
Aber auch ohne Therapie. Ohne Plan und Informationen. Und ohne Bewegung. «Ich sagte dem Arzt: Ich will gesund werden, will Sport treiben. Er sagte, das solle ich mir aus dem Kopf schlagen. Nicht im Arrest.» So vertreibt er sich die Zeit mit Zigarettenrauchen. Und konsumiert wieder Drogen. Er kifft und nimmt Amphetamine.
«Drogen sind in der UPD allgegenwärtig», sagt Alex. «Weil so viele mit Suchtproblemen eingeliefert werden, ist der Hunger danach riesig. Auf den Gängen vor den Zimmern, draussen im Park oder beim Eingang: «Überall wird man angesprochen, ob man etwas hat oder etwas will», sagt er.
Der Dealer vor der Haustür
Neun Monate lang geht Tina* regelmässig in der UPD ein und aus. Die 45-Jährige besucht Alex und andere Patienten. Sie erzählt von sich selbst überlassenen Männern und Frauen, die ob des Gebrülls des Zimmergenossen «fix und fertig» seien, von Strafmassnahmen wie Ausgangssperren oder Zeit in der Isolationszelle. Davon, dass die UPD für viele nicht Neustart, sondern Gefängnis sei.
Und ein Ort, der regiert wird von Drogen, verschriebenen und illegalen. Den Stoff würden sich die Patienten durch Bekannte bringen lassen. Oder von den dreisten Dealern gleich vor dem Eingang der Klinik am Rand von Bern kaufen.
Ein anderer Hotspot sei der dahinterliegende Park. «Einmal kam einer mit einem golfballgrossen Stück Amphetamin in einer Socke aus dem Busch. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie vor dem Pflegepersonal zu verstecken», sagt sie. «Scheissegal» sei das dem Personal, so der junge Mann.
Die fehlenden Kontrollen
Tatsächlich sieht das UPD-Personal weg – oder besser gesagt: gar nicht erst hin. «Es gibt gar keine Kontrollen am Eingang», sagt Tina. Besucher gelangen zu den Patienten, ohne angehalten zu werden. Ein einziges Mal habe eine Pflegerin einen Blick in ihre Tasche werfen wollen – und sich deswegen auch noch bei ihr entschuldigt. Ansonsten gelte: «Egal, ob Alkohol, Drogen oder Waffen: In die UPD kannst du alles reinbringen.»
Deswegen habe sie sich überhaupt bei dieser Zeitung gemeldet. Nachdem sie gelesen habe, dass vor kurzem ein entlaufener Patient mit einer Schusswaffe in der Hand von der Polizei erschossen worden sei, sei es ihr kalt den Rücken runtergelaufen. All die jungen Männer, wie Alex zum Nichtstun verdammt, die Verzweiflung, die angestauten Aggressionen in Kombination mit den fehlenden Kontrollen: «Das ist eine tickende Zeitbombe», sagt Tina.
Die Dealer, die Drogen, der Konsum der Patienten: Darüber wisse das UPD-Personal sehr wohl Bescheid, sagt eine Pflegerin gegenüber dieser Zeitung. Selbst auf der Station für Suchtkranke sei es ein Leichtes, an Amphetamine, Gras oder Kokain zu kommen. Es habe deswegen auch schon Beschwerden von Angehörigen gegeben.
Ein heisses Eisen. «Doch was soll man tun?», fragt sie mit einem Achselzucken. «Drogen finden immer ihren Weg.» Ihre Kollegin, die früher im Strafvollzug arbeitete, geht sogar noch weiter: «Die UPD samt Wohnverbund gilt als bester Drogenumschlagplatz im Kanton Bern», sagt sie.
Ein Neustart
Alex ist müde – «immer noch von den Schizophrenie-Medikamenten», sagt er. Mit der UPD will er nichts mehr zu tun haben. Sondern vorwärtsschauen, an sich arbeiten, sein Leben Schritt für Schritt in den Griff kriegen.
«Ich muss selbst die Verantwortung für meinen Drogenkonsum übernehmen», sagt er. Das sei ihm hier im Wohnheim klar geworden. Die abgeschlossene Tür samt Gegensprechanlage und die Eingangskontrolle dürften ihm am Anfang dabei helfen.
* Namen der Redaktion bekannt
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Das sagen die UPD
Die Berner Zeitung hat mit Professor Franz Moggi, dem Chefpsychologen der UPD, über die Drogenproblematik rund um die Klinik gesprochen. Ein geführtes Kurzinterview hat Moggi jedoch am Freitagabend zurückgezogen. Er fühlte sich nicht korrekt wiedergegeben. Seine Antworten seien so verkürzt und selektiert worden, dass sie «den Sinn- und Wahrheitsgehalt meiner Informationen grundsätzlich verändern». (bit)
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Das sagt die Kantonspolizei
Der Berner Kantonspolizei ist die Drogenproblematik in psychiatrischen Kliniken nicht unbekannt. Die Polizei stellt allerdings punkto Drogenhandel rund um die UPD keine aussergewöhnliche Situation fest. «Wo potentielle Abnehmer weilen, findet auch ein Handel statt», teilt Kapo-Sprecher Dominik Jäggi auf Anfrage mit. Dies könne «mit Blick auf die Nachfrage an unterschiedlichen Örtlichkeiten» geschehen. (bit)
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Die fürsorgerische Unterbringung
Bei Alex* ordneten die Ärzte eine fürsorgerische Unterbringung (FU) an – er wurde gegen seinen Willen in die Klinik eingewiesen. Die Voraussetzungen für eine FU sind streng: Der Patient muss an einer psychischen Störung oder an einer geistigen Behinderung leiden oder schwer verwahrlost sein, und die nötige Behandlung oder Betreuung kann nur so sichergestellt werden.
Ist ein Patient nicht einverstanden, kann er schriftlich oder mündlich ein Entlassungsgesuch stellen. Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium sind mehr als ein Viertel der FU nach einer Woche beendet, nach sechs Wochen sind knapp vier Fünftel der Betroffenen wieder ausgetreten.
Zahlen des Gesundheitsobservatoriums aus dem Jahr 2016 zeigen, dass am häufigsten im Kanton Waadt eine FU angeordnet wird, am seltensten im Wallis. Der Kanton Bern lag mit rund 1,6 FU pro 1000 Einwohner im Mittelfeld. (jek)
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/bern/dealer-vor-dem-haupteingang-berner-psychiatrie-und-entzugsklinik-im-drogensumpf-id15470345.html
+++HOOLIGANS
tagesanzeiger.ch 17.08.2019
In der Schule des Hooligans
Es gibt einen Ort in Zürich, wo GC- auf FCZ-Ultras treffen und friedlich bleiben. Zu Besuch im Kampfsportclub von Dominik Wiederkehr.
Philippe Stalder
Ein gesichtsloses Industriegebäude, irgendwo zwischen Stadtrand und Flughafen: Aus dem Lautsprecher scheppern schrill die Klänge einer Pi Java, der traditionellen Thaibox-Klarinette. In der Luft liegen Ausdünstungen junger Körper, die sich an den Rand der Erschöpfung schinden. Dominik Wiederkehr drillt seine Zöglinge gerade mit einer Kombination aus Kraft- und Konditionsübungen. «Schlafen könnt ihr, wenn ihr tot seid», brüllt der Kampfsportlehrer durch den Raum.
Wir befinden uns im Fight Basement Zürich (FBZ), einem Kampfsportclub, der sich auf unorthodoxe Kampfstile spezialisiert hat. Gründer Wiederkehr zählte als Anführer der Hardturm-Front um die Jahrtausendwende zu den berüchtigtsten Hooligans des Landes.
Heute trainiert er neben Kampfsport-Enthusiasten auch zahlreiche Anhänger verfeindeter Sportclubs: Bei Wiederkehr treffen FCZ-, GC-, FCB-, ZSC-, Kloten- und HCD-Ultras aufeinander. Auch Leute aus der rechten Szene verkehren im FBZ – genauso wie Kinder von Migranten. Seit kurzem steht Wiederkehr ein syrischer Flüchtling als Assistenztrainer zur Seite. Gemeinsam mit den Ultras trainieren sie im Club den Strassenkampf. Denn die Bandagen, mit denen sich Anhänger der lokalen Rivalen Grasshoppers und FC Zürich auf der Strasse bekämpfen, werden immer härter.
Blick zurück, November 2017: Vermummte Männer stürmen eine Turnhalle in Leimbach. Sie schlagen GC-Fans spitalreif, die dort Fussball spielen. Dezember 2017: In einem Stadtquartier erinnert ein Graffito an Bruno, eine kürzlich verstorbene Südkurven-Legende. GC-Anhänger übersprayen es mit: «Die Schwachen nimmt’s». Februar 2018: Cup-Halbfinal, Zürcher Stadtderby. Vor dem Prime Tower macht ein FCZ-Mob Jagd auf GC-Fans, auch auf am Boden liegende Menschen wird eingetreten. Juli 2019: Am Züri-Fäscht kommt es zu groben Auseinandersetzungen zwischen FCZ- und GC-Ultras. Es gibt Verletzte auf beiden Seiten.
«Die Gewaltbereitschaft der Ultras ist in den letzten Jahren gestiegen», sagt Michael Walker vom Mediendienst der Stadtpolizei Zürich. Gleichzeitig sei die Hemmschwelle gesunken, ernsthafte Verletzungen in Kauf zu nehmen. Anwohner fühlen sich in der Folge bedroht, Medien beschreiben eine Spirale sinnloser Gewalt, der Staatsanwalt spricht von einer «Verrohung der Gesellschaft».
Alles für den Club
Was sind das für Leute, die ihre eigene Stadt immer wieder in den Ausnahmezustand versetzen? Als Ultras werden eingefleischte Fans bezeichnet, die in ihrer Kurve mit Choreografien, Gesängen und Leuchtpetarden für Stimmung sorgen. Anders als Hooligans sind Ultras nicht per se gewalttätig. Fühlen sie sich jedoch provoziert, haben die militanten unter ihnen – die Stadtpolizei Zürich geht von mehreren Hundert aus – keine Hemmungen, die «Ehre» ihres Clubs mit Gewalt zu verteidigen.
So etwa GC-Ultra Thomas*. Der IT-Spezialist trainiert seit vielen Jahren im FBZ. Als vor dem GC-Fanlokal «Sächs Foif» eine Horde Basler aufkreuzen, nutzt er die Chance, sich in der Szene einen Namen zu machen. Bevor sich seine Freunde formieren, rennt Thomas alleine in die Meute. «Natürlich bekam ich komplett aufs Maul. Doch ich stand wieder auf, kotzte kurz auf die Strasse, liess den Mundschutz am Boden liegen und rannte den Baslern nochmals hinterher.» Thomas* ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt.
Mit ihm zusammen trainiert Yannick*. Der FCZ-Ultra strebt eine Karriere im Militär an, seit zweieinhalb Jahren trainiert er bei Wiederkehr. Dass dort auch GC-Ultras verkehren, kümmert ihn wenig. Im Gegenteil: «Das FBZ wurde für mich zur Familie. Es geht hier nicht um die Zugehörigkeit zu irgendeinem Fussballclub, sondern darum, gemeinsam etwas zu lernen.»
Während sie sich im Rest der Stadt die Köpfe einschlagen, begegnen sich die Anhänger der verfeindeten Sportclubs im FBZ mit Respekt. Doch wie kann es Wiederkehr überhaupt verantworten, gewaltbereiten Ultras Kampfsport beizubringen? Ist nicht davon auszugehen, dass seine Schüler das hier gelernte eines Tages auch auf der Strasse anwenden? «Ausschliessen kann ich das nicht», antwortet Wiederkehr. Schüler aufgrund der Club-Zugehörigkeit oder einer politischen Überzeugung vom Training zu verweisen und anderen Kreisen zu überlassen, hält er jedoch für die viel gefährlichere Lösung: «Du kannst Leute nur formen, wenn du sie bei dir hast.»
Welches ist das Ideal, nachdem der Kampfsportlehrer seine Schüler zu formen strebt? Wiederkehr war ein Hooligan alter Schule und somit ein Verfechter des Kodex. Dieser regelt die Umstände, unter denen sich Hooligans prügeln: Keine Gewalt gegenüber Unbeteiligten, keine Waffen, keine Überzahl, kein Nachtreten, wenn jemand am Boden liegt. «Leider wird der Kodex von vielen jungen Ultras schon lange nicht mehr eingehalten», sagt Wiederkehr.
Was das bedeutet, musste GC-Fan Patrick* am eigenen Leib erfahren. Der 26-jährige Autist wurde vor mehreren Monaten nach dem Stadtderby am Bahnhof Tiefenbrunnen von drei jungen FCZ-Anhängern angegriffen. «Sie wollten mir mein GC-Shirt wegnehmen», erinnert sich Patrick*. «Als ich mich gewehrt habe, schlugen sie mir unter anderem gegen den Kopf.» Patrick* war nach dem Angriff wegen eines gebrochenen Ellbogens zwei Wochen lang arbeitsunfähig. Der Fussballfan besucht weiterhin die Matches, versteckt seither aus Angst vor weiteren Attacken jedoch seine GC-Accessoires auf der An- und Abreise.
Auf Menschenjagd im Niederdorf
Für Wiederkehr sind solche Vorfälle eine Schande, die mit seiner Vorstellung von Hooliganismus nichts mehr zu tun haben. Waren Hooligans früher etwa Ehrenmänner, die sich die ganze Zeit an einen Kodex hielten? Fragt man Adolf Brack, erster Hooligan-Spezialist der Stadtpolizei Zürich, seien die Schlägereien in den 90er-Jahren zwar auch schon brutal, jedoch fairer abgelaufen: «Damals war es einfach ein Kampf mit Regeln, heute ist es blanker Hass.» Doch sei der Kodex ab und an auch gebrochen worden, etwa als Basler Hooligans die versammelten Zürcher vor der Abreise nach Basel an ihrem Treffpunkt angegriffen, dabei Stichwaffen benutzt und mehrere Zürcher verletzt hatten.
In seinem Buch «Feld-Wald-Wiese» widerspricht der Journalist Daniel Ryser dieser Darstellung. Er beschreibt eine Zeit, als Hooligans im Niederdorf willkürlich Jagd auf Menschen machten. So zitiert er einen ehemaligen Hooligan der Hardturm-Front: «Wer die Fresse voll haben wollte, der konnte das kriegen. Wir waren klar rechts, aber das Ziel war uns eigentlich egal: Punks, Kiffer, Skins, Jugos, Neger, Popper, Yuppies.»
Heute macht Wiederkehr seinen Schülern klar, dass es an ihnen liege, den Kodex in den Kurven zu rehabilitieren. Doch das ist schwierig. Als der FCZ vor zwei Jahren aus der Challenge-League aufsteigt, durchlebt die Südkurve einen kritischen Moment: Zahlreiche neue Fans stossen hinzu. Viele von ihnen sind minderjährig, alle wollen sich beweisen.
Gemäss Wiederkehrs Schülern wird diese Entwicklung in den Kurven kontrovers diskutiert. «Heute sind wir bei GC an einem ähnlichen Punkt wie der FCZ vor ein paar Jahren», sagt ein GC-Ultra, der anonym bleiben möchte. «Die Jungen haben ihre eigenen Gruppierungen gebildet, sie nehmen einfach irgendwelche Leute auf, die von Fussball und der Fankultur keine Ahnung haben.»
Beim FCZ sieht Yannick* das Problem vor allem in der Masse der Südkurve: «Wir haben mittlerweile so viele Gruppierungen, dass es kurvenübergreifend eigentlich unmöglich geworden ist, gewisse Verhaltensregeln durchzusetzen.»
Wiederkehr glaubt nicht, dass seine Schüler in der Öffentlichkeit gewalttätig werden: «Im Training vermittle ich ja nicht nur Kampftechniken, sondern auch Werte wie Fairness und Respekt.» Ob seine Strategie tatsächlich aufgeht, lässt sich nicht überprüfen. Die Polizei lehnt auf Anfrage eine Einschätzung ab, da es sich offenbar um ein «reguläres Betreiben» einer Kampfsportschule handle und «keine strafrechtliche Relevanz» ersichtlich sei.
Am Pranger der Antifa
Wiederkehr trainiert seine Jungs jeden zweiten Abend. Die Beiträge der Schüler reichen gerade aus, um die Miete des Lokals zu bezahlen. Er suche sich nicht primär die besten Kämpfer aus, so Wiederkehr, sondern solche, denen er auch abseits vom Ring noch etwas mit auf den Weg geben könne: «Bei mir erhält grundsätzlich jeder eine Chance, solange er sich an die Regeln hält. Auch Leute aus der rechten Szene.» Zu den Regeln gehört: Kein Anwerben, kein Zurschaustellen von Symbolen, keine Angriffe auf Unbeteiligte. Bisher habe noch niemand gewagt, die Regeln zu brechen. Durch das gemeinsame Training kämen seine Schüler zudem in Kontakt mit Leuten aus anderen Szenen. Dadurch würden sie früher oder später merken, dass die anderen gar nicht so anders sind.
Die Antifaschistische Aktion (Antifa) glaubt nicht an die heilsame Wirkung ethnisch durchmischter Trainingsgruppen. Im Rahmen ihrer Kampagne «Runter von der Matte – kein Handshake mit Nazis» stellte sie Wiederkehr vor zwei Jahren auf ihrer Website an den Pranger. Auslöser war ein Kampfturnier, das Wiederkehr anlässlich seines Geburtstags im FBZ durchführte. Dabei kam es zu einer Begegnung zwischen einem Schüler Wiederkehrs und einem Mitglied der rechtsextremen Organisation Blood and Honour (B&H). Die Veranstaltung verlief friedlich, die Freunde des B&H-Kämpfers trugen auf ihren Westen jedoch entsprechende Symbole.
Wiederkehr versteht nicht, weshalb er dafür kritisiert wurde: «Die Antifa bezeichnete meine Schule anschliessend als Kampfsportkeller für Nazis. Dass an dem Tag auch zahlreiche Ausländer präsent waren und ein dunkelhäutiger Kämpfer am Turnier teilnahm, ist ihnen offenbar egal.»
Legitimiert das die Präsenz von Neonazis? Gemäss Wiederkehr trieb sich sein Schüler, der Gegner des B&H-Kämpfers, selber im Dunstkreis der rechten Szene herum. Als er im FBZ anfängt zu trainieren, lernt er neue Freunde kennen, fängt an, brasilianische Musik zu hören. Er möchte aus der rechten Szene aussteigen, hat jedoch Angst vor Vergeltung. Wiederkehr kontaktiert den Chef der Schweizer B&H-Sektion, um die Sache zu klären. Man einigt sich darauf, dass Wiederkehrs Schüler aussteigen darf, wenn er mit einem B&H-Kämpfer in den Ring steigt. Er braucht den Kampf nicht einmal zu gewinnen, er muss sich lediglich stellen. Kämpferehre und so.
Eigentlich sei auch abgemacht gewesen, dass die B&H-Supporter ihre Westen nicht hätten tragen dürfen. Darüber haben sie sich jedoch hinweggesetzt. «Um den Frieden zu wahren und die Durchführung des Events zu garantieren, liess ich die B&H-Supporter gewähren.»
Den Feind als Bruder
Will man verstehen, weshalb Wiederkehr Kontakte zu Organisationen wie B&H pflegt, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. In die Zeit, als er sich zum Anführer der Hardturm-Front der Grasshoppers hochprügelte – und diese mit dem stadtinternen Todfeind, den City Boys des FCZ, vereinte.
Obwohl Wiederkehr selbst ein FCZ-Fan war, schleppte ihn ein Freund eines Tages an einen GC-Match, stellte ihn den Hooligans der Hardturm-Front vor. Diese nahmen ihn mit an die dritte Halbzeit, eine organisierte Schlägerei verfeindeter Hooligan-Gruppierungen nach Ende des Spiels. Wiederkehr war sofort angefixt. Schnell kletterte er die Hooligan-Karriereleiter empor. «Es war nicht leicht, diesen 120-Kilo-Hünen aus der vordersten Reihe niederzustrecken», erinnert sich «Frosch», eine Basler Hooligan-Grösse aus den 90er-Jahren. Bald führte Wiederkehr die Hardturm-Front in den Schlachten an.
Damals galten die GC-Hooligans als Sammelbecken für Rechtsextreme. «Die Neonazis interessierten mich jedoch nicht. Ich hatte mit dieser Ideologie nichts am Hut, im Gegenteil, ich war eher links, wenn man denn solche Etiketten gebrauchen will, lief oft am 1. Mai an der Demo mit», so Wiederkehr. Die Rechtsextremen schienen ihn aber auch nicht zu stören. Man kannte und respektierte sich. Was ihn hingegen interessiert habe, war der Rausch im Kampf, das Adrenalin, der Zusammenhalt in der Gruppe: «Dass man auch mal gegen einen übermächtigen Gegner gemeinsam stehen bleibt, obwohl man genau weiss, dass man aufs Dach kriegen wird.»
Die unbestrittene Nummer eins war Ende der 90er-Jahre die Bande Basel. Um dieser Vormacht ein Ende zu setzen, schmiedete Wiederkehr, der ehemalige FCZ-Fan, einen kühnen Plan: Er wollte seine GC-Hooligans mit den Hooligans der City Boys des FCZ vereinen. Dass Zürich eine geteilte Stadt war, ging ihm einfach nicht in den Kopf: «Wir verprügelten uns gegenseitig, während sich die Basler ins Fäustchen lachten.»
Zum Zusammenschluss sei es 2003 gekommen, als ein Gründungsmitglied der Hardturm-Front seinen Geburtstag im Club Z, einem FCZ-Lokal in Altstetten feiern durfte und zur späten Stunde einige Hooligans der City Boys dazustiessen. Man habe beschlossen, den nächsten Match eines Zürcher Clubs gemeinsam zu besuchen. «Die Polizei erwartete uns bereits in Lugano», erinnert sich Wiederkehr. Die gemeinsame Carfahrt artete jedoch zu einem Saubannerzug aus, der Chauffeur weigerte sich weiterzufahren. «Also beschlossen wir, statt nach Lugano nach Bern zu gehen, wo sich die YB-Fans ebenfalls mit ihrem Gegner verabredet hatten.»
Der Ausflug in die Hauptstadt wurde aus Sicht der Zürcher zum Erfolg: «Erst boxten wir die verdutzten Berner weg, dann ihre Gegner. Von da an war klar: Zürich gehört zusammen», erinnert sich Wiederkehr. Aus diesem Zusammenschluss wird später die europaweit berüchtigte Hooligan-Gruppierung Zürichs Kranke Horde (ZKH) hervorgehen. Jedoch nicht mehr unter Wiederkehrs Ägide.
Unter polnischen Kampfstiefeln
Am Tag, an dem Wiederkehr aussteigen wird, glaubt er zu sterben. Im August 2005 spielt der FCZ im alten Letzigrund-Stadion gegen Legia Warschau um die Uefa-Qualifikation. Wiederkehr führt die vereinten Zürcher gegen die polnischen Hooligans an, wird dabei aber von seinen eigenen Leuten im Stich gelassen: «Plötzlich lag ich am Boden, von den Zürchern war weit und breit niemand mehr zu sehen, sie rannten vor dem übermächtigen Gegner davon.» Über ihm kreisen ein Dutzend polnische Kampfstiefel, allesamt treten sie unablässig auf ihn ein. Jede Sekunde dauert gefühlt eine Minute, Zeit zum Reflektieren: «Plötzlich musste ich an meinen Sohn denken, mir kamen Zweifel, ich beschloss aufzuhören.»
Als Wiederkehr selbst noch ein Kind war, fällt ihm an einem Juniorenturnier ein nicht verankertes Tor auf den Kopf, zerschmettert ihm das Gesicht von den Augen an abwärts. Der Druck im Kinderkopf bricht ihm ein frankengrosses Loch aus der Stirnplatte. Der Unfall beschädigt wohl den Frontallappen des Gehirns und legt damit den Grundstein für seine Hooligan-Karriere: Als Spätfolge erkrankt Wiederkehr Jahre nach dem Unfall an Narkolepsie, einer Schlafkrankheit, die bis heute seinen Tag/Nacht-Rhythmus durcheinanderbringt. «Mein Leben fühlt sich an wie ein ewiger Jetlag», so Wiederkehr. Um tagsüber nicht einzuschlafen, muss er ständig in Bewegung bleiben. «Früher hielt mich das Kämpfen wach, heute das Training.»
Zahlreiche Anzeigen waren der Preis dafür, dass er sich keine andere Tätigkeit suchte, die denselben Zweck erfüllt hätte. Wiederkehr ist zwar nicht besonders stolz darauf, bereuen tut er seine Zeit als Hooligan aber nicht: «Ich würde alles nochmals genau gleich machen.»
Aufgewachsen ohne Zäune
Gross geworden war er im Zürcher Säuliamt in einer Gemeinschaftssiedlung, die seine Eltern zusammen mit zehn weiteren Familien gegründet hatten. Sein Vater, Roland Wiederkehr, war 16 Jahre lang Nationalrat, baute den WWF Schweiz auf, initiierte den VCS und gründete zusammen mit Gorbatschow das Grüne Kreuz. Davon, dass sein Sohn zwei verfeindete Hooligan-Gruppierungen vereint hat, hört Roland Wiederkehr auf Anfrage zum ersten Mal.
Überrascht hat es ihn nicht: «Wir zogen unsere Kinder mit sehr vielen Freiheiten auf. Eine Regel in unserer Siedlung lautete, dass es zwischen den Gärten keine Zäune geben darf.» Kein Wunder, störte sich Wiederkehr Junior daran, dass seine Stadt eine geteilte war. Zumal sein Herz heute noch für beide Clubs schlägt.
*Namen geändert
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/in-der-schule-des-hooligans/story/13650993)
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