Worte: 1.-AUGUST-REDE DER NICHT-WEISSEN IN DER SCHWEIZ

Gefunden bei Linke POC

Heute ist 1. August. Der Schweizer Nationalfeiertag. Für die meisten Schweizer*innen ist es ein fröhlicher Tag. Wir möchten jedoch unsere Schweizer Mitbürger*innen einladen, eine kurze Pause einzulegen: Worauf feiern wir wirklich und sind stolz, wenn wir die Schweizer Fahnen hissen, im Garten grillieren und abends dem Feuerwerk zuschauen? Feiern wir einen Nationalstaat, der sich als ein vielfältiges Land auszeichnet und stolz darauf ist, aus den 26 Kantonen mit jeweils eigenen Traditionen und den vier Landessprachen zu bestehen? Oder sind wir stolz darauf, Mitglied eines Landes zu sein, das weltweit als eines der schönsten Länder der Welt gilt? Oder feiern wir einfach einen Moment des Glücks mit unserer geliebten Familie?
Wir möchten eine andere Seite der “glücklichen Schweiz” einbringen: Die der “Kolonialität der Macht” [1]. Einer Matrix, die durch Kontrolle oder Hegemonie über Autorität, Arbeit, Sexualität, Subjektivität, Erkenntnistheorie und Wissen funktioniert. In der Schweiz bedeutet dies, dass alle Schlüsselbereiche historisch von überwiegend weissen und christlichen (jetzt säkularen) Männern kontrolliert werden, die immer noch die Macht haben, Geschichten, Richtlinien und Gesetze zu machen, die den strukturellen Rassismus fortwährend aufrechterhalten. Laut Di Angelo erkennt ein strukturelles Verständnis von Rassismus Rassismus als ein Standardsystem an, das eine ungleiche Verteilung von Ressourcen und Macht zwischen Weissen und People of Color institutionalisiert. Ihr zufolge ist dieses System historisch, wird für selbstverständlich gehaltet, ist tief verwurzelt und dient Wohle der Weissen. [2] Als die moderne Schweiz 1848 gegründet wurde, wurde sie nicht als Demokratie für alle gegründet. Sie wurde als Demokratie für christliche, weisse Männer mit aktiver Diskriminierung aller gegründet, die nicht in dieses Bild passen. Die jüdischen Einwohner der Schweiz hatten nicht nur keine Bürgerrechte, sie mussten auch in einem kleinen Tal getrennt leben. Die Vormachtstellung der Weissen in der Schweiz hörte nie auf: Später wurde eine diskriminierende Politik gegen Migrant*innen, People of Color und andere religiöse Minderheiten betrieben. Sei es die Masseneinkerkerung von Flüchtende ohne Aufenthaltsbewilligung, das verfassungsrechtliche Verbot vom Bau von Minaretten, oder die vielen Gesichter der Diskriminierung, die sich nicht im Recht manifestieren: Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie bilden konstituierende Elemente des Schweizer Staates. Diese Systeme bilden die Grundlage für die Schaffung der Schweiz. Am alarmierendsten ist, dass diese Machtsysteme niemals anerkannt oder in irgendeiner Weise in Frage gestellt wurden, da Rassismus immer noch oberflächlich als individuelles (Fehl-) Verhalten verstanden wird und nicht als kollektiven Struktur.
Trotz weisser Menschen in Machtpositionen haben wir auf dem Boden zunehmend weisse Ignoranz und weisse Solidarität beobachtet. In der Schweiz gibt es Angst vor der Überfremdung. Zum Beispiel wurde die Basler Fasnacht zu einem fremdenfeindlichen Freiraum, um daran zu erinnern, dass PoC-Leute unerwünschte Bürger zweiter Klasse sind: Weisse Schweizer hatten das Bedürfnis, sich als farbige Menschen mit beleidigenden Parolen zu verkleiden, um zu behaupten, dass die Schweiz nur für Schweizer da ist, in welcher engen Definition sie auch immer ‘Schweizer” definieren [3]. Der KKK hat ebenfalls einen festen Anspruch darauf zu erheben, wer hierhin gehört und wer nicht [4]. Wir haben gesehen, wie Bananen böswillig als Scherz auf einen schwarzen Fußballspieler geworfen wurden [5]. Und ein muslimischer Mann wurde von der Polizei gewaltsam zu Boden geschlagen, weil er in seiner Freude über die Wiedervereinigung mit einem alten Bekannten „Allah u Akbar“ rief [6]. Ehemalige SS-Offiziere sind in der Schweiz immer noch auf der Gehaltsliste des deutschen Staates [7]. Und erst kürzlich wertete eine der wichtigen politischen Partei Eritreer als „nicht integrierbare Gewalttäter“ ab, was offensichtlicher Rassismus ist [8]. Weit verbreitetes Racial Profiling von Menschen, deren Körper im Namen der „nationalen Sicherheit“ auf öffentlichen Plätzen markiert sind, sind alltägliche Szenen. Solche Ereignisse in den jüngsten Monaten sind nur einige Beispiele, die es in die Zeitung geschafft haben. Sie sind nur die Oberfläche alltäglich verbreiteter Aggressionen gegen PoC in der Schweiz. Es ist klar, dass Schweizer PoC-Minderheiten gezwungen sind, um das Glück der Mehrheit zu wahren, ihr eigene Strategien zu finden, um mit alltäglichem Rassismus umzugehen.
Auf globaler Ebene ist zu erwähnen, dass die Schweiz als stolzer Exporteur von Demokratie und Entwicklung ein Vermögen beim Waffenexport in Konfliktzonen im Nahen Osten macht. Es unterstützt die osteuropäischen Länder mit Entwicklungshilfe, um zu verhindern, dass sich Flüchtende der Schweizer Grenze nähern. Es gibt eine aktive Investition in das Nicht-Sehen, zum Beispiel nicht zu sehen, wie braune und schwarze Körper im Mittelmeer ertrinken. Es ist daher ironisch, dass „wir sie einerseits töten… andererseits für sie sorgen“ (siehe Bild).
Die Schweiz hat ihre eigene koloniale Komplizenschaft, reproduziert Ungleichheiten innerhalb und ausserhalb des Landes, und unser Ziel ist es, die Menschen stärker darauf aufmerksam zu machen, wie das Glück ungleich verteilt ist; oder es vielleicht noch weiter auszudehnen: dass das Glück von einigen nur auf Kosten des Unglücks anderer existiert.

[1] Ein Konzept, welches von Aníbal Quijano (17 November 1930 – 31 May 2018), einem peruanischen Denker, erarbeitet wurde.
[2] DiAngelo, Robin. “White Fragility.” The International Journal of Critical Pedagogy 3.3 (2011).
[3] https://www.ajour-mag.ch/antifa-schwyz/
[4] https://www.ajour-mag.ch/der_wille_zum_rassismus/
[5] https://www.facebook.com/LinkePoC/posts/268764703790789
[6] https://www.facebook.com/LinkePoC/posts/273657919968134
[7] https://www.facebook.com/LinkePoC/posts/359670064700252
[8] https://www.facebook.com/LinkePoC/posts/359718428028749
[Bild 1] Quelle: Die Juli-2016-Ausgabe des zweimonatlichen Satiremagazin L’Arbalète, herausgegeben von der Tribune de Lausanne. Burnand, 2018. https://www.swissinfo.ch/…/age-old-dilemma_swiss-a…/44389506
[Bild 2] Plakat der Schweizerischen Volkspartei zur “Begrenzungsinitiative”

Autorenschaft: Linke PoC. “Linke PoC” ist ein Verein von People of Colour in der Schweiz, um sich zu treffen, zu diskutieren, und Vorfälle von Alltagsrassismus zu teilen, welche sich vom schweizerischen Kontext unterscheiden. Wir setzen uns für Solidarität untereinander ein, und arbeiten gemeinsam daran, strukturellen Rassismus zu bekämpfen.