Medienspiegel 18. April 2019

+++BASEL
Basler Regierung verweigert Ausschaffung
Die Exekutive folgt einer Petition des Grossen Rates und will einen jungen Afghanen nicht ausweisen. Damit widersetzt sie sich einem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/basler-regierung-verweigert-ausschaffung/story/19616376

+++ST. GALLEN
Er galt als vermisst: Spaziergänger findet Schädel von Asylbewerber
Der Kurde Asan E. (†32) kam im Februar 2018 in die Schweiz. Im August verschwand er spurlos. In einem Wald bei Vilters-Wangs SG wurden nun seine Überreste gefunden. Ein Spaziergänger entdeckte einen Teil seines Schädels.
https://www.blick.ch/news/schweiz/ostschweiz/er-galt-als-vermisst-spaziergaenger-findet-schaedel-von-asylbewerber-id15280643.html
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/sarganserland-schaedel-von-vermisstem-asylbewerber-entdeckt-ld.1111670
-> https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Raetsel-um-Schaedel-von-Asylsuchendem-31294397

+++SCHWEIZ
Überlange Asylverfahren
Die Behandlung gut begründeter Asylgesuche und von Gesuchen aus Herkunftsländern mit einer hohen Quote an vorläufigen Aufnahmen dauert in der Regel mehr als zwei Jahre. Diese Praxis des Staatssekretariats für Migration (SEM) ist für die Betroffenen sehr belastend und verletzt die Verfahrensgarantie.
https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/asyl/umsetzung/ueberlange-asylverfahren-gastbeitrag

+++DEUTSCHLAND
Rückführungen: Seehofer setzt auf Strafen und Gefängnisse
Wer sich der Mitwirkung verweigert, dem droht künftig Bußgeld oder Abschiebehaft; die Lösung des Innenministers überzeugt nicht
https://www.heise.de/tp/features/Rueckfuehrungen-Seehofer-setzt-auf-Strafen-und-Gefaengnisse-4402465.html

+++GRIECHENLAND
Flüchtlinge in Griechenland: „Das ist unser Dschungel“
Die EU verkauft den Flüchtlingspakt mit der Türkei als Erfolg. Dabei hat er die Inseln in der Ägäis in Gefängnisse verwandelt. Auf Samos leben Migranten wie Annick Toudji unter entsetzlichen Bedingungen. Ein Besuch.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-auf-samos-wie-der-eu-tuerkei-pakt-scheitert-a-1261887.html

Anerkannte raus! In Griechenland müssen Geflüchtete ihre Wohnungen zwangsräumen
Die angekündigte Zwangsräumung anerkannter Flüchtlinge aus ihren von ESTIA zur Verfügung gestellten Wohnungen und offiziellen Flüchtlingscamps wird zu Obdachlosigkeit und Armut führen, da die griechischen Behörden bisher wenig unternommen haben, um Geflüchtete in das Land zu integrieren und ihnen ein selbständiges Leben zu ermöglichen.
https://www.proasyl.de/news/anerkannte-raus-in-griechenland-muessen-gefluechtete-ihre-wohnungen-zwangsraeumen/

+++SPANIEN
International: Migration – das Drama der Minderjährigen
Spanien hat inzwischen Italien als wichtigstes Ankunftsland für illegale MigrantInnen abgelöst. Unter ihnen sind viele unbegleitete Kinder und Jugendliche. Sie kommen vor allem aus Marokko, stranden in Katalonien und möchten weiter nach Europa.
https://www.srf.ch/sendungen/international/international-migration-das-drama-der-minderjaehrigen

+++MITTELMEER
Hat Italien das Kommando über die sog. libysche Küstenwache?
Seit gestern befindet sich die Mare Jonio des italienischen Netzwerks Mediterranea wieder in der SAR-Zone vor der libyschen Küste. Auf einer Pressekonferenz in Rom hat Mediterranea zeitgleich den Funkverkehr zwischen der italienischen Küstenwache, einem in Tripolis stationierten Boot der italienischen Marine und der sogenannten libyschen Küstenwache präsentiert, der zwischen dem 18. und 19. März aufgezeichnet wurde. Die Aufzeichnungen dokumentieren nicht nur, dass die sog. libysche Küstenwache sprachlich vollkommen überfordert ist, sie dokumentieren vor allem, dass sie de facto dem italienischen Kommando untersteht.
https://ffm-online.org/hat-italien-das-kommando-ueber-die-sog-libysche-kuestenwache/

+++LIBYEN
Libyen: Eingesperrt, geschunden und in den Krieg getrieben
In Libyen sitzen Tausende Flüchtlinge und Migranten in Gefangenenlagern. Die Eskalation der Kämpfe bringt ihnen neues Leid. Einige werden zu Kriegsdiensten gezwungen.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/libyen-tripolis-kaempfe-migration-europa-fluechtlinge-gefangenenlager/komplettansicht
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=24f9bc0e-1328-416a-9a3f-d8a73297884a
-> https://www.srf.ch/news/international/kampf-um-libysche-hauptstadt-raketen-werden-auf-wohnquartiere-geschossen

+++FLUCHT
Geld für Flüchtlinge wäre vorhanden – Echo der Zeit
Fast 70 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Ein Problem, das politisch und finanziell lösbar sei, sagt Lloyd Axworthy, der Vorsitzende des Weltflüchtlingsrats. Sein Gremium hat 55 Lösungsvorschläge vorgelegt.
https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=53c59173-8d05-4375-9f95-f13beb826de4

+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Die Gemeinde Thal zeigt Herz für Schweizer Fahrende
Auf dem Thaler Areal Fuchsloch soll ein provisorischer Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende eingerichtet werden. An derselben Stelle wurde im Jahr 2014 ein fixer Platz von der Bürgerschaft knapp abgelehnt.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/doch-noch-ein-platz-fur-fahrende-ld.1111886

+++GASSE
bernerzeitung.ch 18.04.2019

Restaurant 44: Das Quartierwohnzimmer für alle

Im Restaurant 44 darf man Selbstgespräche führen, Trompete spielen oder einfach nur essen. Der Verein Wohnenbern hat im Breitenrainquartier einen Ort geschaffen, an dem alle Teil der Gesellschaft sein dürfen.

Claudia Salzmann

Der Laden läuft. Alle Tische im Restaurant 44 sind besetzt. Heute gibt es gefüllte Kartoffeln oder Rindsbäggli. Es riecht nach Buttergemüse. In der Nachbarschaft wird die Beiz als Quartierwohnzimmer geschätzt, Pub-Quiz, syrisch-irakische Abende und Abendsonne inklusive. Sogar eine Hauskatze gibt es, die auf Essensreste spekuliert und ab und zu dem Personal mit der Tatze eins ans Bein haut.

Nebst Essen und Trinken kann man sich hier Hilfe rund ums Thema Wohnen holen. Das Lokal wird vom Verein Wohnenbern geführt und die angestellten Sozialarbeiter sind von 9 bis 19 Uhr im Lokal präsent. Heute hat Andrea Odermatt Dienst. Sie sitzt hinter einem Laptop und einem Stapel Arbeit, aber eigentlich ist sie für Ratsuchende ansprechbar.

Gerade sei allen Mietern eines Wohnblocks im Breitenrain gekündigt worden, erzählt Odermatt. Ältere Leute kommen vorbei, die Hilfe bei der Wohnungssuche brauchen. «Wer seit 30 Jahren keine neue Wohnung brauchte, kommt heute mit den Onlineinseraten nicht zurecht», sagt die 46-Jährige.

Durcheinander bei der Post

Die Kernaufgabe des Vereins sind Wohnbegleitung und -betreuung. Im Zentrum steht dabei immer der Mensch, sagt Odermatt. Hilfe beim Wohnen? Das klingt erklärungsbedürftig: «Sucht, psychische Krankheiten oder beides erschweren es manchen Menschen, selbstständig zu wohnen», sagt Odermatt. Viele haben einfach ein Durcheinander in ihrenUnterlagen oder haben keinen Computer.

Am Fenster sitzt jetzt der Siedlungsabwart, er bestellt ein Sinalco Zero. Er kam mit einem vierrädrigen Elektrotöffli. «Er kennt hier alle. Von ihm erfahren wir auch mal von einem Nachbarn, der unsere Hilfe braucht», sagt Odermatt. Die Wohnbegleiter vernetzten sich auf allen Ebenen, mit Verwaltungen, mit Abwarten oder Quartierarbeitern.

An den Tisch hat sich Karin Hofmann, Geschäftsleiterin von Wohnenbern, und der Bereichsleiter Robert Mäder gesellt. 100 Wohnungen und 70 Zimmer, die quer über die Stadt verteilt sind, gehören zum Verein. 14 Wohnbegleiter wie Odermatt gibt es, dazu zwei Bereichsleiter und ein 7-köpfiges Team, welches für die Nachtschicht zuständig ist.

Von den Sozialdiensten der Stadt Bern erhält der Verein rund eine Million Franken, dafür gibt es 41 betreute und 52 begleitete Wohnplätze sowie 20 sogenannte Begleitungen in der eigenen Wohnung. Grundsätzlich betreuen sie mehr Männer. Der Grund sei einfach: «Männer haben mehr Mut zur Sucht», sagt Robert Mäder.

Solidarität aus der Küche

55 Franken pro Tag kostet für Stadtberner beispielsweise der Aufenthalt mit Halbpension in einer Wohngemeinschaft. Man zahlt selber oder die Kosten sind über den Leistungsvertrag der Stadt gedeckt. Wer aus der Agglomeration kommt, zahlt mehr. IV-Bezügern und Ausserkantonalen wird der Vollkostentarif von 125 Franken berechnet. Mit Halbpension ist die Hauptmahlzeit gemeint, die im Zentrum 44 konsumiert werden kann.

«Das Angebot ist wichtig, damit jeder auch ohne Geld an der Gesellschaft teilhaben kann», sagt Hofmann. Aber nicht nur ihre Kunden kehren hier ein, für einen Fünfliber bekommt man ein Solidaritätsmenü. «Das nutzen nicht nur Menschen der Gasse rege, sondern auch Leute mit wenig Geld», weiss Hofmann. Dafür sucht sie Spender: «Das Solimenü ist immer ein Minusgeschäft, deshalb suchen wir dafür Leute, die uns finanziell unterstützen.»

Hat die Wohnbegleiterin Andrea Odermatt nicht Präsenzdienst, ist sie unterwegs zu ihren Kunden: In den Wohnungen trifft sie oft auf prekäre Zustände. Manche wüssten nicht, wie Putzmittel benutzen, andere würden Müll horten. Manchmal hilft Odermatt die Küche putzen. Selten geht sie wieder, weil es ihr nicht geheuer ist. Oft räumen die Leute wegen ihr aber gar die Wohnung auf. «Ich sehe immer den Menschen, deshalb kann ich diese Arbeit machen», sagt sie.

Die Arbeit verlangt ihr viel Fingerspitzengefühl ab. Man gebe den Leute so viel Unterstützung, wie sie brauchen. Mit 38 wechselte Odermatt aus dem Marketing in diese Branche und startete die Ausbildung zur Sozialpädagogin. Ihre Lebenserfahrung helfe ihr heute, sagt sie.

Distanz sei ihr wichtig, per Du sei sie mit ihren Kunden nicht, das habe mit Respekt zu tun. Brenzlig werde es selten, aber Sicherheit gehe vor: Die Türe ist immer im eigenen Rücken, sie fragt, bevor sie sich setzt, weil es im Sofa auch Spritzen haben könnte. Manchmal sei sie die erste fremde Person, die eine Wohnung betritt.

Selbstgespräche kaschieren

Es ist ruhiger geworden im Lokal. Die Mittagsgäste aus den umliegenden Büros sind an ihre Arbeit zurückgekehrt. Eine Frau blickt kurz zu unserem Tisch. Odermatt deutet mit dem Kopf, dass sie sich nicht zu uns setzen darf. «Sie ist eine Kundin von mir und wird sicher heute Nachmittag hier sein. Manchmal will sie reden, oft auch nicht.»

Das Restaurant wird vom Verein finanziert. Das Gastroteam besteht aus neun Leuten. Im Service und der Küche können Kunden von Wohnenbern mitarbeiten. Selbsttragend sei das Lokal nach einem Jahr noch nicht. Alleine das Hiersein gebe den Leuten eine Struktur. Während Mütter mit Kindern in der Spielecke kauern, sitzen andere am Tisch, tragen Kopfhörer und tun so, als würden sie telefonieren. Dabei führen sie Selbstgespräche.

Das «44» werten Karin Hofmann und Robert Mäder als vollen Erfolg. «Das Gastroteam muss affin zu sozial benachteiligten Leuten sein», sagt Mäder. Nachmittags sitzen Leute im Lokal, die nichts bestellen, sondern nur dort sein wollen. Das müsse man aushalten können.

Oder wenn der Trompeter im Nebenraum übt. Ihm haben sie einen Dämpfer aufgeschwatzt. Im Nebenzimmer steht ein Klavier, einige seien begnadete Klavierspieler. Heute will niemand spielen, es ist ruhig. Und wohl für alle auch ganz in Ordnung.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/restaurant-44-das-quartierwohnzimmer-fuer-alle/story/11415283)

+++SEXWORK
Sexarbeiterinnen in Airbnb-Wohnungen
Prostituierte im Kanton Bern bieten ihre Dienstleistungen vermehrt in Wohnungen an, die sie über die Vermietungsplattform Airbnb gebucht haben.
https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/sexarbeiterinnen-in-airbnb-wohnungen

Prostituierte leiden zunehmend unter Preisdruck
Die Situation des Prostitutionsgewerbes im Raum Zürich, und dabei insbesondere in der Stadt Zürich, hat sich «auf ein stadt- und quartierverträgliches Niveau eingependelt». Etwas schlechter sieht es für die Frauen aus.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/prostituierte-leiden-zunehmend-unter-preisdruck-134362981
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/preisdruck-in-der-branche-prostituierte-machen-es-oefter-ohne-gummi-hiv-risiko-steigt-id15279842.html

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Was weiter geschah: Fragwürdige Beweismittel
Dürfen illegal gefilmte Szenen vor Gericht verwendet werden? Und wo beginnt Landfriedensbruch? Das Berner Obergericht hat letzte Woche zwei rechtsstaatlich heikle Fragen verhandelt.
https://www.woz.ch/1916/was-weiter-geschah/fragwuerdige-beweismittel

+++SPORTREPRESSION
Runder Tisch im Wallis – Geht Fussball wirklich nicht ohne Pyros?
Pyrotechnik im Fussballstadion ist ein altbekanntes Problem. In Sitten wollen Club und Behörden jetzt mehr durchgreifen.
https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/runder-tisch-im-wallis-geht-fussball-wirklich-nicht-ohne-pyros
-> https://www.1815.ch/news/wallis/aktuell/sicherheit-1/
-> https://www.vs.ch/web/communication/detail?groupId=529400&articleId=5472869&redirect=https%3A%2F%2Fwww.vs.ch%3A443%2Fde%2Fhome%3Fp_p_id%3D101_INSTANCE_BJTNLOOExi2c%26p_p_lifecycle%3D0%26p_p_state%3Dnormal%26p_p_mode%3Dview%26p_p_col_id%3Dcolumn-1%26p_p_col_count%3D7

+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Die ausländerrechtliche Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz bleibt auch 2019 aktuell
Die Praxis der Administrativhaft für Kinder und Jugendliche wird seit Jahren kritisiert – bisher ohne namhafte Folgen.
„Trotz der unzuverlässigen Angaben sind einige Schlussfolgerungen auf die Situation in den Kantonen möglich. Während die Mehrheit der Kantone gänzlich auf die Inhaftierung von  Minderjährigen unter 15 Jahren verzichtet, gehen 89% der Inhaftierten auf das Konto des Kantons Bern.“
https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/gruppen/kinder/administrativhaft-jugendliche-schweiz13591

+++BIG BROTHER
Polizei startet Ende des Jahres mit Gesichtserkennung
Österreichisches Bundeskriminalamt erwirbt Software zur Analyse von Gesichtsfeldern
derstandard.at/2000101679966/Polizei-startet-im-Dezember-mit-Gesichtserkennung

Datenschutz: Mehr als 500 Beamte sollen sich um Speicherung von Fluggastdaten kümmern
Jedes Jahr werden die Daten von Fluggästen, die in Deutschland ein- oder abreisen, gespeichert und ausgewertet. Zukünftig sollen sich 518 Beamte darum kümmern. Datenschützer sehen dafür keinen Grund.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluggastdaten-ueber-500-beamte-sollen-sich-um-speicherung-kuemmern-a-1263447.html#ref=rss

Schengen-Überwachung: EU-Parlament beschließt Biometrie-Superdatenbank
Mit dem verabschiedeten Gesetzespaket können große EU-Informationssysteme zur inneren Sicherheit verknüpft und Biometriedaten abgeglichen werden.
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Schengen-Ueberwachung-EU-Parlament-beschliesst-Biometrie-Superdatenbank-4400779.html

+++POLIZEI SG
Die Polizei schaut voraus
Es gibt immer mehr Computerprogramme, die das Risiko von potenziellen Straftätern einschätzen. Die St. Galler Regierung will eine gesetzliche Grundlage schaffen.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/die-polizei-schaut-voraus-ld.1111744

+++POLIZEI ZH
Stadtpolizei kauft für eine Million einen neuen Wasserwerfer
Die Finanzierung für das neue Gefährt ist gesichert. Nun sucht die Polizei noch ein passendes Modell.
https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/eine-million-fuer-einen-neuen-wasserwerfer/story/18823077

+++POLICE CH
Informationen aus der Frühjahrsversammlung KKJPD vom 11. April 2019
https://www.kkjpd.ch/newsreader/informationen-aus-der-fruehjahrsversammlung-kkjpd-vom-11-april-2019.html
-> https://www.kkjpd.ch/newsreader/informationen-aus-der-fruehjahrsversammlung-kkjpd-vom-11-april-2019.html?file=files/Members/Protokolle/190411%20Kurzprotokoll%20Fr%C3%BChjahrsversammlung%20KKJPD%202019%20Webseite%20d.pdf

+++ANTIRA
derbund.ch 18.04.2019

Rassismus-Vorwürfe gegen Turnhalle

Gegen die Türsteher der Szene-Beiz werden Vorwürfe wegen Racial Profiling laut. Die Betreiber sind konsterniert.

Andreas Weidmann

Diskriminiert der Sicherheitsdienst am Eingang zur Turnhalle die Gäste aufgrund ihrer Hautfarbe? Dieser Vorwurf wird in einem Flugblatt erhoben, das am Freitag letzter Woche im Progr-Innenhof an die Besucherinnen und Besucher des Szenelokals verteilt worden ist.

In letzter Zeit hätten sie «vermehrt rassistische Erfahrungen mit der Security der Turnhalle gemacht», schreiben die Verfasser des Handzettels. Sie hätten das Gespräch mit dem Teamleiter der Security und der Turnhalle gesucht, leider habe sich seither aber «nichts geändert». Die Verantwortlichen hätten keine Fehler eingestanden und «keine spürbaren Konsequenzen» gezogen. Stattdessen gehe «alles weiter wie bisher, ausser, dass wir uns an diesem Ort nicht mehr sicher fühlen».

«Nur bei Dunkelhäutigen»

Die beiden Personen, welche laut eigenen Angaben die Flyer-Aktion initiiert hatten, wandten sich in der Folge an den «Bund». Der 34-jährige Saed Ahmed Osman hat im Sudan Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Ende 2013 aus politischen Gründen aus seiner Heimat geflüchet. Seit Mitte 2014 lebt er als anerkannter Flüchtling in Bern und arbeitet hier als Kellner. Osman erzählt von mehreren «negativen Erfahrungen» mit den Turnhalle-Türstehern in den letzen Monaten. Bei einem ersten Vorfall habe ihm ein Security-Mitarbeiter auf schmerzhafte Weise «den Unterarm in die Brust geschlagen», weil er aus Versehen den falschen Eingang habe benutzen wollen. Bei einem zweiten Vorfall sei er die Stufen beim Haupteingang hinuntergestossen worden, weil er beim Verlassen des Lokals offenbar zu lange im Eingangsbereich gestanden sei. Bei einem weiteren Vorfall sei er von einem Türsteher ohne Begründung nach seinem Ausweis gefragt und erst nach längeren Diskussion eingelassen worden.

Bereits beim ersten Vorfall habe er den Vorgesetzten des Türstehers auf das «respektlose und brutale Vorgehen» aufmerksam gemacht, genutzt habe es aber offenbar nichts: «Solche Sachen passieren in der Turnhalle nur mit dunkelhäutigen Menschen», ist Osman überzeugt, zumal er aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis «von zahlreichen ähnlichen Vorfällen» wisse.

«Grundlos Zutritt verweigert»

Von einer grundlos verweigerten Einlass berichten dem «Bund» zwei weitere Sudanesen, der 29-jährige Ibrahim Hassan und der 25-jährige Taha Yahya. Ihm sei von der Turnhalle-Security im vergangenen Jahr in zwei Fällen «ohne jegliche Begründung der Zutritt zum Lokal verweigert worden», erklärt Yahya, der in Ostermundigen als Spitex-Pfleger arbeitet. Beim ersten Mal sei er nach kurzer Diskussion noch verdattert abgezogen, beim zweiten Mal sei er nach längerer Diskussion mit dem Vorgesetzten des Türstehers eingelassen worden.

Turnhalle «überrascht»

Er habe seit dem Wochenende Kenntnis von der Flyer-Aktion und den darin geäusserten Vorwürfen, sagte Michael Fankhauser, Geschäftsleitungsmitglied der Turnhalle, gegenüber dem «Bund». «Wir waren überrascht und haben versucht, über Instagram und die Organisation Bern gegen rechts mit den Verfassern das Gespräch zu suchen, bis gestern Mittwoch erfolglos.» Tatsächlich fehlen auf dem Flyer Kontaktdaten, von der Organisation Bern gegen rechts wurde dieser am Wochenende allerdings auf Instagram gepostet. Für den «Bund» war sie gestern nicht erreichbar.

Von den drei Sudanesen sei der Turnhalle-Staff seines Wissens nie direkt mit den Vorwürfen konfrontiert worden – «oder zumindest sind solche Beschwerden nicht bis zur Leitung gelangt», sagte Fankhauser. Er räumte ein, das die Turnhalle «in den vergangenen Jahren einige wenige Male Reklamationen» wegen Racial Profiling erhalten habe. «Diese Meldungen haben wir immer sehr ernst genommen und mit dem Team besprochen». Man habe jedoch niemals festellen müssen, dass ein grundsätzliches Problem bestehe.

Klar sei, dass die Turnhalle «jeglichen Rassismus und sonstige Diskriminierung ablehne», sagte Fankhauser. Die Mitarbeiter der Security-Fima B-Albi GmbH, die man mit dem Einlassdienst bei Anlässen betraut habe, sei «in Sachen Racial Profiling sensibilisiert und geschult». Fankhauser gibt zudem zu bedenken, dass die Aufgabe der Türsteher keine leichte sei: «Wir sind dankbar, dass wir das nicht selber machen müssen.» Den Vorwürfen der drei Sudanesen werde die Turnhalle Leitung «aber mit Sicherheit weiter nachgehen».

Hausverbot angedroht

Ramzi Laroui, der Sicherheitschef der B-Albi GmbH, wies die Vorwürfe gegenüber dem «Bund» zurück. «Ich selber bin Ausländer und stamme aus Nordafrika», sagte Laroui. Rassismus widerspreche dem Konzept von Turnhalle und Progr. «Jedermann ist herzlich willkommen, wenn er sich anständig benimmt.»

Nach einer kurzfristig einberufenen Sitzung mit den Verantwortlichen der B-Albi GmbH meldete sich Fankhauser mit der Information beim «Bund», welche die Darstellung des ersten von Osman geschilderten Vorfalls infrage stellt: Danach ist dem Rapport des Türstehers zu entnehmen, dass Osman «stark betrunken» gewesen und durch «unanständiges Benehmen» aufgefallen sei. Laut Angaben Larouis wurde Osman deshalb «für den Wiederholungsfall ein Hausverbot angedroht». Osman weist diese Darstellung zurück.
(https://www.derbund.ch/bern/rassismus-vorwuerfe-gegen-turnhalle/story/19917591)
-> Offener Brief/Flugblatt: https://barrikade.info/Offener-Brief-an-die-Turnhalle-Bern-wegen-Rassismus-2132

+++JUSTIZ
bernerzeitung.ch 18.04.2019

Wie die Justiz mit jungen Sprayern umgeht

Junge Sprayer seien meist belehrbar, sagt Nino Santabarbara, der leitende Jugendanwalt des Kantons Bern. Nur wenige setzten ihre Sprayerkarriere als Volljährige fort, beruhigt er besorgte Eltern.

Stefan von Bergen

Unter Berner Eltern, deren Nachwuchs beim Sprayen erwischt wurde, sorgt derzeit ein Fall für Empörung: Vier volljährige junge Männer, die die Polizei im Emmental auf ihrer Spraytour anhielt, wurden im Dezember 2018 in Burgdorf und Bern getrennt einen vollen Monat in Untersuchungshaft gesetzt.

Das Gerichtsverfahren steht noch an. Der Fall schien zu belegen, dass die Staatsmacht harmlose Sprayer willkürlich und mit unverhältnismässiger Härte verfolgt. «Darf die Polizei das überhaupt?», fragen sich Eltern misstrauisch.

Unverhältnismässige Härte?

Christof Scheurer, Informationsbeauftragter der Berner Staatsanwaltschaft, wehrt sich gegen einen pauschalen Willkürvorwurf. Er bestätigt die Untersuchungshaft, in der sich im Dezember 2018 vier junge Männer befunden haben. Sie sei ausgesprochen worden wegen Kollusionsgefahr. Das bedeute, dass man unter den vieren, die jede Aussage verweigerten, Absprachen verhindert habe. Dass Untersuchungshaft angeordnet worden sei, spreche für ein bestimmtes Deliktausmass.

Zuständig für die Anordnung sei – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – das Zwangsmassnahmengericht, ein unabhängiges Gericht. Und der Haftrichter dürfe die Untersuchungshaft nur solange nötig, nie aber länger als für die Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe anordnen. Betroffene könnten überdies jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen, steckt Scheurer die juristischen Leitplanken ab.

Laut der kantonalen Kriminalstatistik von Ende März liegt die Zahl der angezeigten volljährigen Sprayer auf einem hohen Level. 2018 waren es im Kanton Bern 4397 Anzeigen im Jahr oder rund 12 im Tag.

Dass Sprayer immer härter angefasst würden oder dass der Kanton ein aussergewöhnliches Sprayerproblem hätte, lässt sich mit der Statistik aber nicht belegen. Denn die Zahl der Anzeigen ist seit 2015, als sie bei 4726 lag, leicht rückläufig. Auch die minderjährigen Sprayer, die verurteilt wurden, werden nicht immer mehr. 2016 erreichten sie die Rekordzahl von 325, 2018 waren es noch 233.

Die Involvierten schweigen

Mehr als die erwähnten Zahlenreihen gibt es nicht, um Ausmass und Ahndung des Sprayens auszuleuchten. Das hat auch damit zu tun, dass involvierte Kreise über das Phänomen schweigen. Die Sprayer verstecken sich unter Kapuzen und in der Anonymität. Die Polizei verweist bei Fragen über den Umgang mit minderjährigen Sprayern an die Jugendanwaltschaft. Geschädigte Unternehmen informieren defensiv, um Sprayern «keine zusätzliche Plattform» zu geben.

Das Farbwarengeschäft Layup in Bern weiss laut Verkaufsleiter Christof Grünert nichts von besorgten Eltern, die sich wundern, wie leicht Jugendliche in Fachgeschäften an Sprayutensilien kommen.

«Uns berichten, wenn schon, empörte Eltern und Jugendliche, dass Polizeibeamte den Jungen am helllichten Tag Farbwaren wegnehmen, da diese gestohlen sein könnten», erklärt Grünert. Und es gebe positive Feedbacks von Eltern, die sich über die Begeisterung ihrer Kids für das Malen und Gestalten freuten.

Nino Santabarbaras Einblick

Einer aber gibt bereitwillig Auskunft. Nino Santabarbara, der leitende Jugendanwalt des Kantons Bern, sitzt immer wieder erwischten minderjährigen Sprayern und ihren Eltern gegenüber. Zum Elternverdacht, Sprayer würden von der Polizei besonders hart angefasst, merkt er an, dass es auf den Polizeiposten Spezialisten für Minderjährige gebe. Nicht speziell ausgebildete Polizisten würden für den Umgang mit Jugendlichen und ihren Eltern oft Rücksprache nehmen mit der Pikettperson der Jugendanwaltschaft.

Santabarbara bestätigt, dass die Kooperation mit seiner Behörde bisweilen verweigert werde: «Es gibt einzelne abgebrühte Jugendliche und auch Eltern, die auf Obstruktion gegen die böse Staatsmacht machen. Aber dann merken sie, dass die Jugendanwaltschaft nicht von oben herabschaut, sondern auf Augenhöhe mit Jugendlichen und Eltern spricht und vermitteln kann.»

Die meisten Eltern seien kooperativ, und auch die Mehrzahl der Jungen sei belehrbar, relativiert Santabarbara. Er hat schon erlebt, dass Jugendliche lieber allein und nicht vor ihren Eltern Auskunft über ihre nächtlichen Aktionen geben. «Wir forcieren das aber nicht, und die Eltern können ja nachher das Einvernahmeprotokoll lesen.» Eltern seien meist nur dann unkooperativ, wenn sie fälschlicherweise davon ausgingen, dass ihre minderjährigen Kinder für ein Bagatelldelikt dem Erwachsenenstrafrecht unterstünden.

Besonderes Jugendstrafrecht

Während in den USA schon 10-Jährige nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden können, gilt in der Schweiz bis zur Volljährigkeit ein besonderes Jugendstrafrecht. «Sein Fokus liegt auf Schutz, Hilfe und Erziehung», sagt Santabarbara. Das Grundprinzip lautet, Jugendliche nach einem Fehltritt wieder auf den rechten Weg zu bringen und ihnen Grenzen zu setzen.

Das Jugendstrafrecht kennt keine Mindeststrafen, dafür aber Methoden wie Mediationsgespräche mit Eltern und ihren Kindern. Man versuche Strafen zu vermeiden und eine Situation im Gespräch oder mit anderen Behörden wie Schulsozialarbeitern zu klären, sagt Santabarbara.

Die Strafen für Minderjährige sind milder. Überführte Sprayer etwa zahlen eine Busse, oder sie leisten Sozialeinsatztage mit persönlicher Leistung ab. Santabarbara dementiert, dass einmaliges Sprayen gleich einen Strafregistereintrag nach sich zieht, den etwa der Lehrbetrieb einsehen könnte.

In härteren Fällen bekommen aber auch Minderjährige die Härte des Gesetzes zu spüren. Wiederholtes Sprayen oder auch eine einzelne Graffitiaktion mit einer Schadenssumme ab 10’000 Franken können mit Freiheitsentzug geahndet werden.

Nino Santabarbara hat einen Überblick über angezeigte Jungtäter im Kanton Bern. Vier Fünftel sind junge Männer. «Da spielen das Testosteron und die männliche Pubertät eine Rolle», sagt er. Zwei Gruppen lassen sich unterscheiden. Es gibt die grosse Mehrheit erstmaliger oder einmaliger Täter, zu der viele Sprayer gehören. Daneben existiert ein kleiner, harter Kern von Wiederholungstätern.

Mehr Wiederholungstäter

Von 2014 bis 2018 hat die Jugendanwaltschaft einen Trend beobachtet: Die Zahl der Minderjährigen, die in einem Jahr für fünf und mehr Delikte angezeigt wurden, stieg in diesem Zeitraum deutlich von 69 auf 100. Im letzten Jahr habe die Zahl dieser Wiederholungstäter auf hohem Niveau verharrt. Oft seien sie den Behörden schon bekannt. Sprayen, Diebstahl, Gewalt und Drogendelikte kämen bei ihnen oft zusammen.

Santabarbara hält fest, dass der Kanton Bern kein grösseres Problem mit Sprayen oder mit Sprayer-Gangs habe als andere Kantone. Unter den Minderjährigen seien die Gangs ohnehin noch weniger ausgeprägt. «Nur wenige junge Delinquenten setzen ihre Karriere als Erwachsene fort», beruhigt Santabarbara überdies besorgte Eltern.

Er weiss aus Erfahrung, dass nur einzelne Jugendliche den Start ins Erwachsenen- und Berufsleben vermasseln. Dafür müsse aber einiges zusammenkommen: ein Null-Bock-Gefühl, eine fehlende Tagesstruktur, Gewalt, Drogen.

Die Jugendanwaltschaft begleite schutzbedürftige Jugendliche wenn möglich bis ins Erwachsenenleben und betreue sie beim Ausziehen, bei der Lehrstellensuche und dem Lehrabschluss. «Eine längere Begleitung ist immer noch viel billiger als spätere Kosten für einen erwachsenen Sozialfall», rechnet Santabarbara vor, der übrigens Mitglied der SVP ist.

«Die Jugendanwaltschaft hat eine Art Vaterrolle, ich selber komme mir in Gesprächen manchmal wie ein Pfarrer vor», sagt Santabarbara mit einem Lächeln. Er hat schon mehrere Sprayer von ihren nächtlichen Touren heruntergeholt.

Noch nie waren so viele Züge der BLS versprayt

Eisenbahnwagen gehören zu den begehrten Trophäen von Sprayern. Sie kommen ihnen wie fahrbare Leinwände vor, die weiträumige Beachtung versprechen. Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, dass Bahnunternehmen oft Strafanträge gegen Sprayer stellen und Schadenersatz fordern.

«2018 wurde an unseren Zügen eine Fläche von 8400 Quadrat­metern mit Graffiti versprayt, damit wurde ein Höhepunkt erreicht», sagt Stefan Dauner, Mediensprecher beim Berner Bahnunter­nehmen BLS, auf Anfrage. Das entspricht etwa zwei Fussballfeldern.

Auch die SBB verzeichneten laut «20 Minuten» einen Zuwachs, von 1937 Einzelgraffiti an Zügen im Jahr 2017 auf 2507 im letzten Jahr. Die Sprayereien an Bahnwagen würden aber nicht ständig zunehmen, sagt Dauner, 2019 sei ihre Zahl bis jetzt rückläufig.

Insgesamt 340 BLS-Wagen sind laut Dauner 2018 versprayt worden. Weil die Kunden in sauberen und intakten Zügen fahren wollen und weil Sprays laut der «Broken window»-Theorie eine Atmosphäre für weiteren Vandalismus schaffen können, werden die Wagen so schnell wie möglich aus dem Betrieb gezogen, gereinigt und durch saubere Züge ersetzt.

In Stosszeiten könne das zu Verspätungen und Zugsausfällen führen, weil dann fast alle Züge gebraucht würden, weiss Dauner. Für die Reinigung von versprayten Zügen und Bahnanlagen gibt die BLS im Jahr im Schnitt 1,3 Millionen Franken aus.

Sprayereien an Zügen und Bahnanlagen bringe man konsequent zur Anzeige, sagt Dauner. Der BLS-Sicherheitsdienst observiere die Abstellorte der Züge zusammen mit der Polizei. Das Betreten von Bahnanlagen sei übrigens nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch lebensgefährlich. «Sprayer können die Gefahr vorbeifahrender Züge nicht einschätzen», betont Dauner.

Diese Zeitung beleuchtet in einer dreiteiligen Serie das Phänomen des Sprayens aus verschiedenen Perspektiven. Zuerst kam der junge Sprayer R.* aus der Agglomeration Bern zu Wort. In Teil 2 erzählten seine Eltern, wie sie damit umgehen. Im heutigen letzten Teil äussern sich die Behörden und geschädigte Unternehmen zum Phänomen Sprayen.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/wie-die-justiz-mit-jungen-sprayern-umgeht/story/29038337)

Teil 1:
bernerzeitung.ch 16.04.2019

«Der Adrenalinkick beim Sprayen ist wie eine Droge»

12 Anzeigen werden im Kanton Bern jeden Tag wegen Graffiti gemacht. An gesprayten Bildern scheiden sich die Geister. Für die einen ist es ein Geschmier, für andere rebellische Kunst. Zum Beispiel für den jungen R.* aus der Agglomeration Bern.

Aufgezeichnet: Stefan von Bergen

Meine Ambition ist es, in fünf bis zehn Minuten einen Graffito hinzukriegen, der für Leute aus der Szene nach etwas aussieht und bei dem ich nicht erwischt werde. Wenn ich nachts ein Spraybild male, bin ich voll im Moment, voll konzentriert, der Kopf ist leer. Ich registriere nur noch, wenn ein Auto kommt. Ist es bloss ein Taxi? Oder ist es ein Polizeiauto?

Schon als Kind fiel mir auf Spaziergängen mit den Eltern auf, wenn ein neuer Graffito auftauchte. In der fünften oder sechsten Klasse sprayte ich zum ersten Mal. Ein Kollege und ich wollten das mal ausprobieren. Nachts nach 22 Uhr zogen wir mit Spraydosen los. Von uns beiden war ich der Motiviertere, fortan sprayte ich allein. Ich bin mehr der introvertierte Typ. Ich suche nicht gezielt Leute, denen ich mich anschliessen kann, einer Gang gehöre ich nicht an.

Inspirieren liess ich mich von Graffiti, die mich beeindruckten. Das Handwerk lernte ich auch in Videos auf Youtube oder Vimeo. Für besonders talentiert halte ich mich nicht. Um legale Kunst zu machen, wäre ich zu wenig gut. Das fertige gesprayte Bild ist für mich nicht das Wichtigste.

Der springende Punkt ist die Aktion, der Adrenalinkick, die Herausforderung, einen geeigneten Ort zu finden, wo ich mit der Umgebung und der Architektur arbeiten kann. Meine Aktionen poste ich nicht auf Social Media. Aber ich kenne ein paar Leute in der Szene, über deren Feedback ich mich freue.

Ich spüre eine Verbundenheit zu meinem Wohnquartier. Schon als Kind spazierte ich allein herum und erforschte es. Ich kenne die geheimen Wege, über die ich wenn nötig der Polizei entkommen kann. Mit meinen Bildern will ich mein Quartier mitgestalten und dort meine Signatur verbreiten.

Zum Malen brauche ich eine grosse freie Fläche. Ich überlege: Ist die Fläche gut einsehbar? Sieht mein Bild an diesem Ort gut aus? Bleibt es hier lange, oder wird es schnell weggeputzt? Komme ich hier wieder vorbei und kann es anschauen? An einen Neubaublock oder an eine weisse Wand spraye ich nicht.

Gut sind Garagentore, sie sind wie ein Bilderrahmen. Bahngeleise sind eine eigene Sparte. Züge, Geleise und Graffiti gehörten schon für die Pioniere in den USA zusammen. Ich weiss, dass es auf Bahngelände gefährlich sein kann. Dann bekomme ich Angst und haue ab.

Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht. Mein Begriff des öffentlichen Raums geht sehr weit. Ich nehme mir das Recht heraus, ihn mitzugestalten, ich gebe ihm meinen Anstrich, ich bringe Farbe ins Spiel. Farbe tut nicht weh, ich zerstöre nichts. Meine Bilder gefallen nicht allen, das weiss ich.

Sexistische Werbeplakate gefallen mir auch nicht, und ich werde nicht gefragt, ob ich sie in den Strassen sehen will. Meine Bilder sind auch eine Form des Protestes, sie sind mein Mittel, mich gegen triste Orte oder gegen die Verteuerung eines Quartiers zu wehren. In eine politische Partei würde ich nie gehen, um meinen Protest auszudrücken. Dort muss man sich anpassen und erreicht nichts.

Ich rechnete immer damit, dass ich einmal von der Polizei erwischt werde. Als es passierte, dachte ich: «Muss das schon jetzt sein?» Fast alle Sprayer werden mal erwischt. Beim ersten Mal machte ich alles falsch, ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Als ein Kastenwagen mit mehreren Polizisten auftauchte, hatte ich einen Schrecken.

Ich wollte nur noch, dass die Einvernahme möglichst schnell vorbei war. Einige Spraybilder gab ich zu, andere nicht, weil ich fürchtete, dass das teuer werden könnte. Wenn man mal ehrlich ist und mal nicht, verstrickt man sich aber leicht in Widersprüche. Deshalb verweigerte ich die Aussage. Die Polizei soll selber herausfinden, was ich gemacht habe. Ich tue mir keinen Gefallen, wenn ich allzu ehrlich bin.

Die Polizei und die Reaktion meiner Eltern schreckten mich vorerst ab. Als sie mich erwischten, dachte ich aber nicht: «Wie werde ich nun ein ehrlicher Bürger?» Ich sagte mir vielmehr: «Ich habs verbockt, wie mache ich es nächstes Mal schlauer?» Ich machte eine Pause von zwei bis drei Monaten. Dann begann es schleichend wieder. Erst machte ich nur Entwürfe auf Papier. Ich liess sie nicht mehr in meinem Zimmer herumliegen. Denn bei einer Razzia hatte die Polizei einmal Entwürfe bei mir entdeckt.

Als ich zum zweiten Mal erwischt wurde, dachte ich: «Scheisse, du bist immer noch unvorsichtig.» Ich war nun volljährig. Sie nahmen nun DNA-Proben von mir. Ich glaube, dass ich die Sicherheit noch erhöhen kann. Die Polizei ist nicht so schlau. Weil ich Schleichwege kannte, bin ich ihr schon entkommen. Und ich weiss: Es braucht viel, dass sie dir etwas nachweisen können, ohne dass sie dich auf frischer Tat ertappen. Um auf den Spraydosen keine DNA-Spuren zu hinterlassen, trage ich Handschuhe.

Bis jetzt habe ich etwa 10’000 Franken für Anwalts- und Reinigungsrechnungen bezahlt. Hätte mir die Polizei all meine Spraybilder nachweisen können, ­wären es wohl etwa 100’000 Franken. Natürlich reut mich das Geld. Aber es ist für mich keine Option, nicht zu sprayen. Beim Malen von Bildern denke ich nicht an eine Busse, ich denke nur: «Sie dürfen mich nicht erwischen.» Vielleicht ist das etwas blauäugig.

Die Rechnungen stottere ich mit Hausarbeiten bei meinen Eltern ab, ich bezahle sie aus meinem Lehrlingslohn und vom Sparheft meiner Grosseltern. Wenn ich eine Rechnung von 800 Franken bekomme, muss ich die Geschädigten anrufen und verhandeln, ob ich in Raten zahlen kann. Das wollen nicht alle. Ich weiss, dass ich als Volljähriger nun betrieben werden kann. Das erschreckt mich, aber es schreckt mich nicht ab. Ich möchte eigentlich mal von zu Hause ausziehen, aber im Moment fehlt mir dafür halt das Geld.

Meine Eltern haben mich schon gefragt: «Hat sich das gelohnt?» Sie warnen mich, dass ich meinen Start ins Erwachsenenleben vermassle. Als ich jünger war, versuchten sie mich vehementer zu stoppen. Heute sagen sie: «Das ist dein Scheiss, du musst es selber wissen.» Es lässt mich nicht kalt, dass sie sich wegen mir Sorgen machen.

Das tut mir weh. Ihr Blick am Abend, wenn ich rausgehe, belastet mich. Ich versuchte aufzuhören, aber ich brachte die Kraft nicht auf. Das Gespräch auf einer Beratungsstelle brach ich ab, als ich merkte, dass ich den Beratern bloss nach dem Mund redete. Ich wollte ja gar nicht aufhören.

Auf die Hilfe meiner Eltern kann ich immer zählen, sie unterstützen mich. Etwa wenn ich den Überblick mit den Bussen und Schulden verliere. Sie geben mir Struktur. Meine Schulden übernehmen sie aber nicht, auch wenn sie das so nicht ausgesprochen haben.

Meine Eltern denken in Kategorien des Berufs und des Verdiensts: Gymer, Lehre, Stelle. Das meine ich nicht als Vorwurf. Ich verstehe, dass Graffiti aus ihrer Perspektive so ziemlich das Gegenteil eines Berufswegs mit Zukunft sind. Es hat was, dass ich irgendwie unbelehrbar bin, ich kann diesen Vorwurf nicht entkräften. Es sieht wie ein Widerspruch aus, dass ich das weiss, es aber nicht ändern kann.

Nein, das Malen von Spraybildern nützt sich nicht ab. Jede Nacht ist wieder anders, man kann sich immer noch steigern. Langweilig wäre es nur, wenn es legal wäre. Was es braucht, damit ich aufhöre? Etwas Besseres. Und das gibt es nicht. Ich sehe derzeit kein Ende. Überhaupt ist es mein Bier, wann ich damit aufhöre.

Graffiti begleiten mich länger als ein enger Freund. Und ein anderes Hobby habe ich nicht, das ist meine Kultur, meine Identifikation. Der Adrenalinkick beim Sprayen ist wie eine Droge, Adrenalin ist ja eine Droge. Graffiti sind mein Stück Selbstständigkeit, die ich sonst noch nicht habe.

*Name der Redaktion bekannt

Sprayen als Ärgernis und Leidenschaft

Wenn die Polizei mitten in der Nacht anruft, sie habe den Nachwuchs in flagranti beim Sprayen erwischt, kommen manche Eltern zum allerersten Mal mit der Staatsmacht in Berührung. Der Schreck ist dann bei Eltern wie auch Söhnen – seltener Töchtern – gross.

Minderjährige erleben plötzlich eine Einvernahme auf dem Polizeiposten und bekommen die ersten Strafen ihres Lebens aufgebrummt – in Form von Bussen oder tageweisen Sozialeinsätzen bei einem Schulhausabwart oder in einem Altersheim.Noch schmerzhafter sind die bisweilen saftigen Rechnungen für die Entfernung der Graffitis. Sprayen gilt als Sachbeschädigung und ist ein sogenanntes Antragsdelikt. Geschädigte können Strafantrag stellen und zivilrechtlichen Schadenersatz verlangen.

Wenn ihre Kinder sprayen, reagieren Eltern bisweilen irritiert. Sie berichten von Gefühlen des Versagens als Erzieher, sie fürchten, dass sich ihre Kinder den Start ins Erwachsenenleben verpfuschen. Und sie realisieren, dass ihr pubertierender Nachwuchs gerade eine Phase besonderer Risikofreude und Unbelehrbarkeit durchlebt.

Über Graffitis gehen die Meinungen auseinander. Gemäss Strafgesetz und für die Mehrheit der Gesellschaft sind es Delikte und Schmierereien, mit denen Privatbesitz verunstaltet wird. Für eine Minderheit aber sind es Kavalliersdelikte und Kunstwerke, mit denen der öffentliche Raum verziert wird.  Graffitis sind längst nicht mehr nur ein städtisches Phänomen, im Kanton Bern leben auch Jugendliche in den Agglomerationen und in grösseren Dörfernihre gestalterische Rebellion mit der Spraydose aus.

Graffitis beschäftigen derzeit auch das Berner Stadtparlament. Die Stadträte Oliver Berger, Bernhard Eicher, Christophe Weder (alle FDP) und Michael Daphinoff (CVP) fragen in einer Interpellation von Ende März den Gemeinderat nach dem Ausmass «illegaler Sprayereien» in der Stadt Bern. Sie wollen unter anderem wissen, wie viele Sprayereien in den letzten zehn Jahren in Bern  zur Anzeige gebracht wurden, ob die Stadt als Hauseigentümerin konsequent gegen Sprayereien vorgehe und was der Gemeinderat gegen  Sprayer-Gangs unternehme.

Laut der kürzlich veröffentlichten Kriminalstatistik 2018 der Kantonspolizei Bern ist die Zahl angezeigter volljähriger Sprayer auf hohem Niveau leicht rückläufig, von 4726 im Jahr 2015 auf 4397 im Jahr 2018. Graffitis gehören in die Kategorie Vandalismus, der mit 7117 den grössten Teil der 10701 Anzeigen wegen Sachbeschädigungen ausmacht. Die Zahl verurteilter minderjähriger Sprayer ist im Kanton Bern von einem Rekordwert von 325 im Jahr 2016 auf 233 im letzten Jahr zurückgegangen. (svb)

Diese Zeitung beleuchtet in einer dreiteiligen Serie das Phänomen des Sprayens aus verschiedenen Perspektiven. Ein Elternpaar und sein Sohn aus der Agglomeration Bern waren unter der Bedingung der Anonymisierung bereit, persönlich aus ihrer Sicht über das Konfliktfeld des Sprayens zu erzählen. Im ersten Teil kommt heute der junge Sprayer zu Wort. Im zweiten Teil von morgen Mittwoch sprechen seine Eltern. Im dritten Teil von übermorgen Donnerstag äussern sich die Behörden sowie Geschädigte wie die Bahngesellschaft BLS – unter anderem zu den Fragen, die den Berner Stadtrat beschäftigen.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/der-adrenalinkick-beim-sprayen-ist-wie-eine-droge/story/30037454)

Teil 2:
bernerzeitung.ch 17.04.2019

«Wir müssen es aushalten, dass unser Sohn uneinsichtig ist
»
Die Eltern waren schockiert, als ihr Sohn beim Sprayen erwischt wurde. Sie versuchten ihm sein riskantes Hobby auszureden. Sie bleiben mit ihrem unbelehrbaren Sohn im Gespräch.

Aufgezeichnet: Stefan von Bergen

R.* hätte an jenem Frühlingsabend um 23 Uhr zu Hause sein sollen, so hatten wir es vereinbart. Er war ja noch minderjährig. Um 23.30 Uhr rief die Polizei an. Man habe unseren Sohn in flagranti beim Sprayen erwischt. Er werde jetzt noch befragt, man bringe ihn dann nach Hause. Bis sie mit dem Polizeiauto vorfuhren, wurde es dann nachts um 3 Uhr. Wir schreckten aus einem unruhigen Halbschlaf hoch, als sie kamen.

«Können wir noch sein Zimmer anschauen, der Staatsanwalt ist darüber schon informiert», sagten die Polizeibeamten. Sie erweckten den Anschein, dass wir das gar nicht verweigern könnten. Überrumpelt liessen wir sie rein. In R.s Zimmer fanden sie Entwürfe für Spraybilder, die sie dann in ihre Akte einreihten. R. warf uns später vor, dass wir die Polizisten nicht hingehalten hätten. Damit er Zeit gehabt hätte, die Spuren in seinem Zimmer verschwinden zu lassen. Am nächsten Morgen erzählte er uns, nach der Festnahme seien die Beamten mit ihm noch herumgefahren. «Zeig uns, was du an diesem Abend alles gesprayt hast», sagten sie. Einiges zeigte er ihnen, weil er sehr eingeschüchtert war.

Nein, total überrascht waren wir nicht. Wir hatten einige Monate vorher Spraydosen bei ihm gefunden und ihn zur Rede gestellt. Spraybilder faszinierten ihn schon als Kind. Auf unseren Spaziergängen fielen ihm neue Graffiti sofort auf. Nachdem er uns gestanden hatte, dass er sprayt, wollten wir wissen, mit welchem Namen er seine Bilder signiere. Wir realisierten, dass unser Dorf voll davon war, wobei ein Teil davon auch auf das Konto von R.s Kollegen ging.

Mutter: Wenige Tage später musste R. zu einer erneuten Einvernahme auf dem Polizeiposten erscheinen. Ich begleitete ihn dorthin. Sie legten ihm eine Beige Fotos mit Spraybildern vor und forderten ihn auf, diese zu unterschreiben, wenn er der Urheber sei. R. und ich waren beeindruckt, wie gut die Polizei dokumentiert war. Die Polizeibeamtin behandelte R. sehr anständig.

Nach dem Vorfall erlaubten wir ihm nicht mehr, nach dem Abendessen hinauszugehen. Unsere Reaktion war in der ­ersten Phase: «Das geht doch nicht, das ist nicht gut, damit musst du aufhören.» Wir ­schlugen ihm vor, seine Lust zur Gestaltung auf legale Weise ­auszuleben. Er könne ja Leinwände bemalen. R. machte nur halbherzige Schritte in diese Richtung. Das Aufregende sei ja gerade der Adrenalinkick, das Verbotene, der Protest gegen die Trostlosigkeit der Agglo, fand er. Dass ihn die Polizei geschnappt hatte, schreckte ihn nur etwa zwei Monate lang ab.

Als erste Strafe erhielt R. meh­rere Tage Sozialeinsatz. Er ar­beitete sie in einem Altersheim ab. Dann kamen die happigen Rechnungen der betroffenen ­Immobilienbesitzer für die Entfernung von R.s Spraybildern. Wir bestanden darauf, dass R. diese Summe bei uns abstotterte. Er erledigte Hausarbeiten, lieferte sein Sackgeld ab. Und er griff auf ein von den Grosseltern geäufnetes Sparkonto zurück, das eigentlich für eine Ausbildung, einen Auslandaufenthalt oder Fahrstunden gedacht war. R. klagte, er könne seine Leidenschaft nicht ausleben und werde bestraft.

Vier Jahre später wurde er zum zweiten Mal erwischt. Er war nun volljährig und hatte in der Zwischenzeit viele Bilder gesprayt. Fortan unterlag er dem Erwachsenenstrafrecht. Im ersten Moment hatten wir Panik. Er sagte nur: «Kein Problem, ich verweigere die Aussage.» Wir dachten, er unterschätzt die Polizei. Aber sie konnten ihm dann nur eine erstaunlich kleine Zahl von Spraybildern nachweisen. Als er das erste Mal erwischt wurde, rieten wir ihm, der Polizei ehrlich Auskunft zu geben. Es war irritierend, dass seine Ehrlichkeit zu einer verhältnismässig höheren Strafe führte als die ­Verweigerung der Aussage. Unser Rat zur Ehrlichkeit war offenbar naiv.

Zur Einvernahme ging er diesmal allein. Bei der erkennungsdienstlichen Erfassung musste er auch eine DNA-Probe abgeben. Wir drängten ihn, einen Anwalt zu nehmen. Die Rechnungen für diesen und für die Reinigungskosten beliefen sich nun auf mehrere Tausend Franken. Sein Lehrlingslohn ging drauf, der Kontostand des Grosselternsparhefts sank.

Sollten wir ihn zu bremsen und zu strafen versuchen? Als Eltern muss man doch durchgreifen, dachten wir. Aber wir wussten nicht wirklich, wie. Wir waren hin- und hergerissen. Einem Volljährigen kann man nicht mehr den Ausgang sperren. ­Natürlich warnten wir ihn: «Du verbaust dir den Start ins Erwachsenenleben, du machst Schulden.» Er hörte es sich an – und sprayte weiter.

Vater: Ich war an der ersten Gerichtsverhandlung dabei. Es war ein Mix aus juristischer Einschüchterung und pädagogischem Versuch, R. auf den rechten Weg zu bringen. Ich fühlte einen Zwiespalt: «Eigentlich sollte ich auf der Seite von Recht und Ordnung und der Polizei stehen, aber ich muss doch auch mit meinem Sohn solidarisch sein.» Ich spürte einen Druck: «Ein richtiger Vater bestraft seinen Sohn und sorgt dafür, dass das aufhört. Wenn ich das nicht schaffe, habe ich als Vater versagt.» Aber dann dachte ich auch: «Ich bin ja nicht die Polizei.»

Freunde gaben uns Tipps: Lasst ihn die Spraybilder selber wegputzen. Vor allem Eltern von Töchtern oder die Hausbesitzer in unserem Bekanntenkreis ­haben wenig Verständnis. Wir ­erzählen nicht mehr von R.s Aktivitäten.

Vater: Einmal sah ich vom Zug aus an einer nahen Wand ein Spraybild meines Sohns. Ich zuckte zusammen. Zu Hause zitierte ich ihn an den Küchentisch und wurde ziemlich emotional: «Es ist verdammt gefährlich, auf die Geleise zu gehen. Ich will nicht, dass du das machst, ich will nicht, dass mein Sohn auf einmal tot ist», sagte ich. Er höre ja, wenn ein Zug komme, sagte er. «Das haben andere auch gemeint, die jetzt tot sind», erwiderte ich.

R. hat das Sprayen auf Youtube gelernt. Das Internet spielt eine Doppelrolle: Es ist der Lehrmeister der Sprayer und gleichzeitig die Tribüne für ihre soziale Anerkennung auf Instagram oder so. Am Anfang wunderten wir uns über die Läden, wo man die Sprayutensilien problemlos kaufen kann. Oder über die Jugendclubs, wo man zum Sprayen angeleitet wird. Diese Verlockungen sind ja – wie auch der Verkauf von Alkohol – legal. Das Risiko müssen die Jungen selber im Griff haben. Das haben sie aber in ihrem Alter oft nicht, gerade weil sie fasziniert sind.

Man muss es aushalten lernen, dass der eigene Sohn uneinsichtig und beratungsresistent ist. Bohren wir nach, blockt er ab. Wenn wir nicht hinschauen, nehmen wir unsere Verantwortung nicht wahr. Bis jetzt lässt er sich beraten beim Abzahlen der Schulden, er spricht mit uns über seine Schwierigkeiten. Darüber sind wir froh. Wir trauen ihm. Aber manchmal ist es, als habe unser Sohn zwei Gesichter. Tagsüber ist er der angepasste Lehrling, nachts der wilde Sprayer. Er lebt in zwei Sphären.

Wie lange er wohl noch sprayt? Angesichts seiner Leidenschaft für Graffiti fürchten wir: noch lange. Es gibt auch Familienväter, die noch sprayen. Das Grosselterngeld ist schon zur Hälfte draufgegangen. Ein allfälliger Eintrag im Betreibungsregister wäre fatal, weil er ihm die Wohnungssuche erschweren würde.

Mutter: Nachts habe ich mich lange schlaflos im Bett gewälzt, ich hörte immer, wenn er aufbrach. Ich machte ihm deswegen Vorwürfe, was ihm leidtat. Ich begriff dann irgendwann, dass das nichts hilft und dass ich schlafen muss. Eine Bekannte fragte: «Bleibst du auch immer wach, bis du deine Kids nach Hause kommen hörst?» Ich antwortete: «Nein, ich schlafe nun mit Ohropax.»

* Namen der Redaktion bekannt
(https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/wir-muessen-es-aushalten-dass-unser-sohn-uneinsichtig-ist/story/22466582)