Dieser Artikel erschien im Moins! Nr. 40. Wir haben ihn für euch übersetzt.
„Quand y en a marre (des politiques migratoires, des politicards qui se marrent, de la peur du noir, des mesures en retard…) hereusement, y a L‘AMAR“
Farben in der Düsternis
Im Osten einer mittelgrossen Stadt in der Romandie. Eine große Brücke führt über ein altes Industriegebiet. Hinter dir sind die Ziegel der alten Kakao-Fabrik von Suchard. Rechts die Dächer der Moschee des islamischen Zentrums. Dahinter der Glockenturm des Tempels. Unten steht eine Mischung aus teilweise verlassenen Fabriken, neuen Studentenwohnungen und co-working-spaces für enthusiastische Startups, die total nach fun aussehen. Eine kleine, mit Graffitis dekorierte Treppe führt dich dorthin runter. Die „rue des usines“ trägt ihren Namen zurecht: Am Ende der Sackgasse steht ein besonders grosses, scheinbar stillgelegtes graues Gebäude, das mit Transparenten verziert ist. Auf einem steht „gemeinsam in die Zukunft“. Du öffnest die Tür und gehst in den ersten Stock, durch die zweite und dann durch die dritte Türe. Je weiter du kommst, desto stärker werden die unerwarteten Gerüche nach Gewürzen. Es ist Mittwoch Abend, und Mittwoch Abends gibts Küche für alle im L‘AMAR (Lieu Autogéré Multiculturel d’Accueil et de Rencontres).
Seit letztem Sommer hat es sich der Verein hier bequem gemacht. In Serrières, drei Tramstationen weg vom Stadtzentrum Neuchâtels. Im Eingangsbereich hats ein Töggelikasten und eine Bibliothek, umgeben von Tischen gefüllt mit Ansteckern und Aufklebern, Konfitüre mit Kollekte, Flyers und andere Dokumente in vielen Sprachen und Informationsordner („Gesundheit und Pflege“, „Ausbildungen“). Auf der linken Seite gibts eine Küche, die offen ist zum Aufenthaltsraum und zum Essraum. Gegenüber liegt der Unterrichtsraum und der Gratisladen. An der Wand hängen Tabellen, wo sich Leute eintragen können, um Dienstleistungen anzubieten oder anzufragen, militante Plakate und Kinderzeichnungen. Überall gibts eine konfuse Harmonie von Farben und zusammengewürfelten Möbeln. Aber die Installation ist noch provisorisch und wird es auch bleiben: Nach einem Sommer in einem Wohnwagen am See und zwei Jahren in einem vorgefertigten Container, der schliesslich abgebaut wurde, hat der Verein einen Vertrag mit der Stadt und dem Gentrifizierungs-Unternehmer geschlossen, dem das jetzige Gebäude gehört. L‘AMAR kann bis Ende Jahr drin bleiben. Das Kollektiv, das sich für Migrant*innen einsetzt, wird selbst die ganze Zeit umhergeschoben.
Kurze Geschichte, grosses Programm
Alles begann vor drei Jahren. Die Zahl der Asylgesuche nimmt zu, die Asylsuchenden werden in Zivilschutzbunker überall in der Schweiz parkiert und weil von den staatlichen Stellen keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, mobilisiert sich eine Gruppe von Besetzer*innen und beschliesst, ein Gebäude der Stadt zu besetzen. Caterina, eine der Gründungsmitglieder, erklärt: „Die Anfangsidee war, uns einen Ort anzueignen, wo wir uns niederlassen, treffen und diskutieren können, ohne was zu zahlen oder reservieren zu müssen. Alles ist aus dieser Idee entstanden. Seit Beginn standen drei Themen im Vordergrund: Dass alles gratis ist, dass Kenntnisse ausgetauscht werden und dass Verbindungen zwischen Migrant*innen und der ‚Lokalbevölkerung‘ entstehen.“ Louise, auch seit Beginn dabei, ergänzt: „Wir wollten einen Ort haben, der die Leute einbezieht, um gegen die Asylpolitik vorzugehen, die räumlich und sozial ausschliessend wirkt.“
Die Stadt wird hässig und stellt ihre Forderungen: Es darf niemand dort schlafen und das Kollektiv muss ein Verein werden. Das ist jetzt L‘AMAR. Ein multikultureller selbstverwalteter Ort des Ankommens und des Austausches. Der Verein ist unabhängig von staatlicher Subvention. Abende mit Kollekte und Spenden ermöglichen es, die laufenden Kosten zu bezahlen, was vor allem die Gebühren für das besetzte Haus sind.
Die angebotenen Aktivitäten innerhalb einer Woche sind zahlreich: Arabisch-, Franz- und Englischkurs; Näh- und Bastelwerkstätten; Konferenzen und Filmvorführungen zum Thema Migration; Holzen im Wald; Museumsbesuche; Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und mit dem Quartier… L‘AMAR hat zum Beispiel Ende März an der „Aktionswoche gegen Rassismus“ teilgenommen und einen runden Tisch, eine Diskussion und einen Tag mit Kreativatelier, Musik und Essen organisiert. Die Organisation Droit de rester (Bleiberecht), die Migrant*innen unterstüzt, ist jeden Samstag vor Ort. Und jeden Mittwoch Abend gibts ein Essen gegen Kollekte. Alkohol wird keiner ausgeschenkt. Heute Abend gibts Couscous mit Gemüse. Ayoub kocht zum ersten Mal: „Die Vereinigung ‚Asile LGBT‘ aus Neuchâtel hat mich auf das L‘AMAR aufmerksam gemacht. Seitdem bin ich mit meinem Mann mehrmals hierhin gekommen und heute Abend bin ich es, der für alle kocht.“ In einer juristischen Situation, die zumindest kompliziert oder sogar total unverständlich ist, wartet er darauf, dass sich seine Situation normalisiert: „Ich bin ins L‘AMAR gekommen, um Rat zu suchen und um die Zeit zu vertreiben“. Andere wie Kamal kommen seit Beginn des Projektes: „Im Sommer 2016 habe ich gesehen, dass es Feste rund um einen Bauwagen am See gegeben hat. Ich wusste nicht, was das war. Seitdem komme ich oft hierher. Zum Beispiel habe ich die Lehrperson im Arabischunterricht unterstützt.“ Kamal ist Mitglied der Yezidischen Community, wovon es im Kanton Neuenburg nur drei Familien gibt. „L‘AMAR ist ein wichtiger und wertvoller Ort, um Französisch zu sprechen und Leute zu treffen. Es hat viele Schweizer*innen, die hierhin kommen. Und jetzt kennen es die Leute von Neuchâtel immer besser.“
Selbstverwaltung im Alltag
Der Verein funktioniert so horizontal wie möglich. Wie im „Manifest“ des Vereins steht, stellt er einen Raum zur Verfügung, „wo die Kompetenzen und Ressourcen jeder* anerkannt und geteilt werden; wo die Freiheit der Wahl und der Autonomie fundamentale Prinzipien sind; wo Identitäten nicht auf Arten von Aufenthaltsgenehmigungen reduziert sind“. Caterina führt aus: „Die Asylsuchenden sind seit der Eröffnung des Ortes in eine gute Dynamik eingebunden. Es handelte sich nicht darum, etwas für andere Leute zu machen, sondern mit ihnen.“ Konkret finden jeden zweiten Montag für alle offene Sitzungen statt. Dort werden die verschiedenen Aktivitäten, Vorschläge und Schwierigkeiten besprochen. Generell „brauchen die kleinen Sachen wie die Administration viel Zeit“, meint Caterina. „Wir haben heute weniger Energie, um unsere Aktionen zu politisieren. Die Selbstverwaltung bringt viele Fragen auf, verwandelt sich und muss neu angepasst werden.“ Eines der vielen Projekte des Kollektivs ist es, eine Charta aufzustellen, die es erlauben würde, die gemeinsame Basis zu stärken und das gemeinsame Funktionieren zu vereinfachen.
Und in letzter Zeit sind rund um die Selbstverwaltung zwei neue Hindernisse hinzugekommen. Einerseits haben viele Asylsuchende, die seit Beginn aktiv waren, jetzt einen Asylentscheid bekommen, was eine ziemlich gute Nachricht ist. Aber das bedeutet, dass sie unabhängiger sind und oft weit weg von den Zentren wohnen, meistens in den Neuenburger Bergen, weil die Mieten dort tiefer sind. Andererseits ist seit dem 1. März das neue Asylgesetz in Kraft. Eine Rückschaffungsmaschinerie, die die Verfahren beschleunigt und damit die Situation verkompliziert. Um das ganze „schnell und gut“ zu machen, hat der Bund letzte Jahr u.a. das Pilotprojekt Perreux in Boudry gestartet, das verspricht bis zu 500 Leute zu isolieren (zukünftiges Bundeslager). „Die Asylsuchenden sind überwacht, an einem abgeschlossenen Ort versteckt und werden noch mehr als vorher vom sozialen Gefüge getrennt“, erläutert Caterina. Die Leute werden bei jedem Verlassen und Betreten des Lagers durchsucht, die Kinder gehen vor Ort in die Schule. Wobei „Schule“ zu viel heisst, denn es handelt sich nur um ein paar wenige Unterrichtsstunden. Aber L‘AMAR scheut keine Mühen. Die Mitglieder haben mehrmals die Reise vom „Ort des Ankommens und der Begegnung“ zum Ort der Gefangenschaft und der Ausgrenzung gemacht, damit andere den umgekehrten Weg gehen können. Louise fährt fort: „Wir überlegen, wie wir den Umstand durchkreuzen können, dass die Asylsuchenden nur alle zwei Wochen ein Billet hin-und-zurück nach Neuchâtel bekommen. Es ist praktisch unmöglich, ein Billet für 4.40 Fr. zu bezahlen mit dem wenigen Sackgeld, das sie bekommen. Das schränkt sie sehr stark in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Die Bussen sammeln sich an, was ja total absurd ist, weil die Mehrheit sie niemals bezahlen kann.“ Der Verein denkt darüber nach, Velos zur Verfügung zu stellen, Pendelbusse einzurichten und Bustickets zu fälschen, um Druck auf die Neuenburger Transportbetriebe zu machen, damit sie die Leute gratis fahren lassen.
Es ist ein fortwährender Kampf, aber L‘AMAR hält sich ziemlich gut. Ein paar Probleme wiederholen sich, aber es kommen immer wieder neue Leute und es entstehen neue Verbindungen. Jede*r findet hier seinen Rhythmus: die einen kommen Töggelikästelen, diskutieren und kochen sich was vor der Rückreise. Andere beteiligen sich an den Kursen, im Laden oder in der Anlaufstelle. Caterina kommt zum Schluss: „Das Ding ist: die Leute fühlen sich ziemlich schnell wohl“. Also kommt ihr? L‘AMAR sucht engagierte Leute…
L‘AMAR
Rue des Usines 10, 2000 Neuchâtel, 1. Stock
www.lamarneuch.ch, lamarneuch@riseup.net
Das Foto ist von der Konferenz Femmes réfugiées, quelles difficultés supplémentaires? im L’AMAR