Medienspiegel 28 Februar 2019

+++BERN
bernerzeitung.ch 28.02.2019

Nicht schwul genug

Ein 28-jähriger schwuler Iraner bekommt in der Schweiz kein Asyl. Er habe zu wenig glaubhaft dargelegt, dass er wegen seiner Homosexualität verfolgt werde, sagen die Behörden. Nun erhält der Flüchtling Hilfe – für einmal von bürgerlicher Seite.

Stephan Künzi

Reza Bezham ist Unrecht geschehen. Davon ist Grossrat Ueli Stähli überzeugt. Der BDP-Politiker und Landwirt aus Niederulmiz bei Köniz sitzt zu Hause am Küchentisch und fährt fort: Der junge Iraner sei ganz gewiss homosexuell. Er könne unmöglich in seine streng muslimische Heimat zurückkehren, wo Schwule verfolgt würden. Medienberichte über Hinrichtungen hätten dies gerade erst wieder drastisch vor Augen geführt.

Kennen gelernt haben sich die beiden vor anderthalb Jahren. Der junge Mann lebte damals in Stählis unmittelbarer Nachbarschaft. Seither ist der Kontakt nie abgebrochen. Warum er so sicher sei, dass der 28-Jährige schwul ist? «Ich habe es rasch gemerkt. Daran, wie er sich bewegt, wie er sich gibt – kurz, an seinem ganzen Verhalten.»

Bezham sei nicht der erste schwule Mann, mit dem er zu tun habe, klärt der Politiker auf. Wer sich im Grossen Rat intensiv mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetze, habe zwangsläufig mit homosexuellen Männern zu tun. «Da entwickelt man ein Sensorium.»

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) und das Bundesverwaltungsgericht sehen es anders. Beide Instanzen haben entschieden: Bezham ist kein Flüchtling. Das SEM nahm dem jungen Iraner die Homosexualität nicht ab, und auch das Gericht zweifelte offen. Für die Richter stand die Frage der sexuellen Präferenzen indes nicht im Zentrum. Sondern «welche Auswirkungen diese auf sein Leben im Iran hatten respektive bei seiner Rückkehr haben würden».

Der Vorfall im Militär

Zum Verhängnis geworden ist dem 28-Jährigen die Art, wie er seine Vergangenheit erzählte. So führt das SEM aus, dass der junge Mann bei der ersten Befragung zwar von einer schwulen Liebesbeziehung im Iran erzählt habe. Ebenso klar sei damals aber zum Ausruck gekommen, dass er sich selber als nicht homosexuell bezeichne.

Später dagegen habe er von einer homosexuellen Veranlagung gesprochen, sich weiter auch in den Schilderungen über den Verlauf seiner Flucht in Widersprüche verstrickt. Erst recht für unglaubwürdig hielt das SEM – und in der Folge auch das Gericht – den Vorfall im Militär.

Bezham erzählte, dass er etwas mit einem anderen Soldaten gehabt habe, dabei entdeckt und mit einem Zusatzmonat Dienst bestraft worden sei. Später schob er nach: Mittlerweile sei er von der Familie seines Kameraden als Vergewaltiger angezeigt worden. Sein Vater habe deswegen für Befragungen auf dem Polizeiposten erscheinen müssen, kurz: Die Situation in der Heimat sei für ihn nun erst recht gefährlich.

Bezham brachte die Anzeige allerdings erst ins Spiel, als er um das Nein zum Asylgesuch wusste. Überdies stützte er sich auf einen E-Mail-Verkehr mit einem Cousin, der sich nicht überprüfen liess. Im Gerichtsurteil heisst es deshalb, dem jungen Iraner sei es «nicht gelungen, eine konkrete Verfolgung nachzuweisen». Und eben, sogar wenn er schwul wäre: Als einer, der nie aufgefallen sei, müsse er bei einer Heimreise nicht mit einer besonderen Kontrolle rechnen.

Übergriffe der Vorgesetzten

Was nun? «Erzähl du», sagt Bezham am Küchentisch in Niederulmiz. «Ja», nimmt Stähli den Faden auf, «über seine Erlebnisse zu reden, fällt ihm schwer.» Das erkläre auch die Widersprüche, von denen die Behörden sprächen. «Er hat sich geschämt, hat sich auch mir erst nach und nach geöffnet.» Zuweilen seien gar Tränen geflossen.

Im folgenden Zwiegespräch, in dessen Verlauf mal der Politiker, mal der junge Iraner das Geschehene rekapituliert, fügt sich Mosaikstein an Mosaikstein. Die Geschichte beginnt im Teenageralter, spätestens mit 18 Jahren merkt Bezham, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt.

Er weiss, dass diese Veranlagung in seiner Kultur als krank gilt, und versucht, davon wegzukommen. Recherchen im Internet bringen ihn aber ebensowenig weiter wie ein Gespräch mit einem muslimischen Geistlichen. «Der Imam riet mir, mich von Männern fernzuhalten. Dann renke sich die Sache von selber ein.»

Dann kam der Militärdienst. Und mit ihm jener verhängnisvolle Tag, an dem er beim Sex unter der Dusche erwischt wurde – jetzt kommt das Gespräch definitiv ins Stocken. Stähli kommt zu Hilfe, sagt, dass die verlängerte Dienstzeit nicht die alleinige Folge gewesen sei. Details nennt zwar auch er keine, offen lässt er aber durchblicken, dass die beiden Ertappten sexuelle Übergriffe ihrer Vorgesetzten erdulden mussten.

Aus wohlhabender Familie

«Ich sehe keinen Anlass, an den Schilderungen zu zweifeln», sagt Stähli. Sie unterschieden sich klar von den bekannten frei erfundenen Geschichten, deren einziger Zweck es sei, die Chancen auf Asyl zu erhöhen. Vehement tritt er den Ausführungen von SEM und Gericht entgegen, die bei Bezham ein ähnlich stereotypes Muster ausmachten: Klar sei der junge Iraner mit der Wahrheit nur Stück für Stück herausgerückt. Doch das sei nicht in der Absicht passiert, zu dramatisieren und so einen Asylgrund zu konstruieren. «Er hat nach wie vor Mühe, über seine Homosexualität zu reden.»

Stähli ist überzeugt, dass Bezham keine anderen Gründe zur Flucht hatte. Er arbeitete als Schreiner in guter Position, lebte in einer eigenen Wohnung, besass ein Auto. Seine Familie war wohlhabend, doch das Verhältnis verschlechterte sich schlagartig, als seine Neigung bekannt wurde: «Der Vater hat ihn regelrecht verstossen.»

Dass kurz nacheinander ein Bruder bei einer Demonstration und die Mutter bei einem Unfall zu Tode kamen, mache das Ganze nicht einfacher. Einzig die beiden Schwestern hielten heute noch zu ihm. Sie sind ebenfalls geflüchtet – und sind in Österreich als Flüchtlinge anerkannt.

Vom Islam abgekehrt

Mit dem Islam hat Bezham mittlerweile abgeschlossen. Plötzlich wird er wieder etwas gesprächiger, betont, dass die Religion aus seiner Heimat keine gute sei. Das sei ihm schon als 18-Jähriger klar geworden – und erst recht auf der Flucht. Jetzt erzählt er von seinem Aufenthalt in der Türkei, wo er sich eigentlich niederlassen wollte. Doch rasch merkte er, dass ihm auch hier die muslimische Kultur kaum Luft zum Leben liess.

Mittlerweile bezeichnet sich der junge Iraner als Christ. An seiner völlig ungewissen Zukunftsperspektive kann dieser Glaubenswechsel nichts ändern. Mit seinem negativen Entscheid ist er als Illegaler in der Schweiz nur noch geduldet. Diese Ungewissheit schlägt ihm arg aufs Gemüt, und genau deshalb, hakt Stähli ein, sei er seinerzeit auf den jungen Iraner aufmerksam geworden. In einem ländlichen Umfeld wie Niederulmiz falle es auf, wenn es jemandem schlecht gehe. «Da schaut man hin. Bevor etwas Schlimmes passiert.»

Mehr Asylgesuche von Schwulen

Die Alternative Linke ringt dem Berner Gemeinderat das Versprechen ab, sich beim Bund für «einen umfassenden Schutz» von Lesben und Schwulen im Asylverfahren einzusetzen. Die rechtsgerichtete «Weltwoche» widmet dem, wie sie schreibt, «Asylgrund schwul» eine Recherche. Alt-SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli geht der Frage nach, inwieweit «wirkliches oder vermeintliches Schwulsein zum Erfolgsmodell im Asylverfahren» geworden sei.

Die politische Debatte über Schwule und Lesben, die ihre Heimat aus Angst vor Verfolgung und Bestrafung verlassen haben, ist voll entbrannt. Nicht ohne Grund, wie das Staatssekretariat für Migration bestätigt. Die entsprechenden Gesuche hätten klar zugenommen, hält Sprecherin Emmanuelle Jaquet von Sury fest. Konkrete Zahlen hat sie nicht zur Hand.

Jaquet von Sury führt aus, dass Homosexualität allein kein Asylgrund sei. Entscheidend sei vielmehr, ob den Gesuchstellern aufgrund ihrer sexuellen Präferenzen ernsthafte Konsequenzen drohten. Seis, dass sie ins Gefängnis wanderten, seis, dass sie um Leib und Leben fürchten müssten – den Ernst ihrer Lage müssten sie allerdings glaubhaft darlegen können.

Zum ersten Mal überhaupt

Genau da liegt das Problem. Den Betroffenen falle es schwer, über ihre Homosexualität zu reden, sagt Jakob Keel. Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty Schweiz begleitet er schwule und lesbische Asylbewerber, und er stellt fest: Viele stammten aus einer Kultur, in der Homosexualität als widernatürlich gelte und totgeschwiegen werde. Auf der Suche nach ihrer Identität hätten sie einen inneren Kampf durchzustehen – und hätten nun Mühe, sich vor einer fremden Behörde zu öffnen. Zumal sie oft zum ersten Mal überhaupt über dieses sehr private Thema redeten.

Die Flüchtlingshilfe spricht ebenfalls von einer hohen Hemmschwelle sowie von traumatischen Erlebnissen, die erst überwunden werden müssten. Bereichsleiterin Adriana Romer erinnert daran, dass die Betroffenen den Zorn der Grossfamilie auf sich ziehen und sich entsprechend schlecht fühlen. Zur Situation im Iran hält sie fest: «Menschen werden willkürlich verhaftet, und es gibt keinen Schutz von Homosexuellen.»

Kein Wunder, stört sich die Flüchtlingshilfe daran, wenn Asylsuchende wie Reza Bezham (siehe Haupttext) abgelehnt werden. Mit der Begründung, die Betroffenen könnten einfach unauffällig leben und so jedes Aufsehen vermeiden, tut sich auch Amnesty schwer. «Die Sexualität gehört zu den Urkräften des Menschseins und lässt sich nicht leugnen», betont Keel.

In der Grossratssession

In ihrem Artikel weist die «Weltwoche» darauf hin, dass homosexuelle Asylsuchende auch hierzulande unter die Räder kommen können. In den Unterkünften treffen sie auf Leute aus ihrem Kulturkreis, die ihnen mit den bekannten Vorurteilen begegnen. Daran erinnert auch der Berner BDP-Grossrat Ueli Stähli – und nennt flugs einen Grund, wieso er in der bevorstehenden Frühlingssession gegen ein Asylzentrum in Prêles antritt.

In Prêles will der Kanton alle Illegalen unterbringen, die mangels gültiger Papiere nicht zurückgeschickt werden können. Stähli ist überzeugt: «Für Schwule und Lesben wäre ein Leben dort unmöglich.»
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/nicht-schwul-genug/story/26388306)

-> https://www.blick.ch/news/schweiz/bern/schweizer-behoerden-knallhart-iraner-28-behauptet-er-sei-schwul-trotzdem-ausgeschafft-id15192681.html

Mahnwache & App für Geflüchtete – RaBe-Info 28.02.2019
Ein neues, spezielles Such-App für Geflüchtete, eine Mahnwache für Ertrunkene im Mittelmeer und die Ausstellung «Von oben» mit spektakulären Luftaufnahmen beschäftigen uns heute im Info.
https://rabe.ch/2019/02/28/mahnwache-app-fuer-gefluechtete/

+++SOLOTHURN
Kanton Solothurn – Zu wenig Praktikumsplätze für junge Flüchtlinge
Gesucht sind rund 300 Praktikumsplätze. Die Verantwortlichen haben deshalb Solothurner Firmen angeschrieben.
https://www.srf.ch/news/regional/aargau-solothurn/kanton-solothurn-zu-wenig-praktikumsplaetze-fuer-junge-fluechtlinge

Flüchtlinge gestern und heute sind Thema
An einer Informationsveranstaltung im Gemeindehaus von Buchegg im Dorfteil Mühledorf wird die Situation der Flüchtlinge beleuchtet.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/lebern-bucheggberg-wasseramt/fluechtlinge-gestern-und-heute-sind-thema-134145690

+++ZÜRICH
Zürich senkt Asylquote – Gemeinden erhalten weniger Asylsuchende zugeteilt
Ab sofort müssen Zürcher Gemeinden nur noch sechs statt sieben Flüchtlinge pro Tausend Einwohner aufnehmen.
https://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/zuerich-senkt-asylquote-gemeinden-erhalten-weniger-asylsuchende-zugeteilt
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/asyl-fehr-entlastet-gemeinden-und-schimpft-gegen-bund/story/10182824
-> https://www.nzz.ch/zuerich/weil-der-hassprediger-noch-immer-nicht-ausgeschafft-wurde-kritisiert-mario-fehr-bundesraetin-karin-keller-sutter-scharf-ld.1463472
-> https://www.zsz.ch/ueberregional/gemeinden-muessen-kuenftig-weniger-asylanten-aufnehmen/story/30867389
-> https://www.landbote.ch/ueberregional/gemeinden-muessen-kuenftig-weniger-asylanten-aufnehmen/story/30867389
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/kanton-zuerich-senkt-asylquote-der-gemeinden-00106415/
-> https://www.zh.ch/internet/de/aktuell/news/medienmitteilungen/2019/der-kanton-zuerich-ist-bereit-fuer-das-neue-asylgesetz.html
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/zuercher-kritik-an-keller-sutters-asylreform-134147694

+++SCHWEIZ
Die Asylunterkünfte des Bundes im Fokus der Menschenrechte
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) überprüfte in den Jahren 2017 und 2018 diverse vom Bund betriebene Asylunterkünfte in Hinblick auf die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Hierbei identifizierte sie ernst zu nehmende Mängel.
https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/asyl/umsetzung/asylunterkunft-bund-menschenrechte

Aktionsfrühling gegen die Bundeslager!!
Aufruf: Frühling 2019 – Widerstand gegen die neuen Bundeslager
Wir rufen diesen Frühling zu möglichst vielen Aktionen gegen die neuen Bundeslager und das Migrationsregime auf!!!
Am 1. März 2019 tritt ein verändertes Asylgesetz in Kraft. Mit der Neustrukturierung des Asylverfahrens werden die Betroffenen ab sofort in sogenannten ‚Bundesasylzentren‘ untergebracht. Wir bezeichnen sie bewusst als Lager! Betroffene werden dadurch vom Rest der Gesellschaft isoliert und sind ständiger Kontrolle unterworfen. Diese Lager schaffen zwei Kategorien von Menschen und trennen uns in Illegale und Legale!
https://barrikade.info/Aktionsfruhling-gegen-die-Bundeslager-1913

Beschleunigte Asylverfahren – Reform vorangetrieben, IT vernachlässigt?
Die Kantone sagen: Der Bund hat die nötigen IT-Systeme noch nicht zur Verfügung gestellt. Dieser bestreitet das.
https://www.srf.ch/news/schweiz/beschleunigte-asylverfahren-reform-vorangetrieben-it-vernachlaessigt

Ab dem 1. März: Neue, beschleunigte Asylverfahren
Am 1. März 2019 treten in der gesamten Schweiz die neuen, beschleunigten Asylverfahren in Kraft: Die meisten Verfahren werden innert 140 Tagen in einem Bundesasylzentrum (BAZ) abgeschlossen. Damit die Asylverfahren effizient durchgeführt werden können, sind die Asylsuchenden und die für das Verfahren zuständigen Personen oder Organisationen neu unter einem Dach, in einem Zentrum des Bundes, vereint. Die Neustrukturierung des Asylbereichs, die 2016 von zwei Dritteln der Stimmbevölkerung angenommen worden ist, beruht auf einer engen Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-74155.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/bereits-ab-freitag-keller-sutter-gibt-startschuss-fuer-schnellere-asylverfahren
-> https://www.derbund.ch/schweiz/standard/so-funktioniert-das-beschleunigte-asylverfahren/story/26166182
-> https://www.fluechtlingshilfe.ch/medien/medienmitteilungen/2019/einheitlichkeit-ist-entscheidend.html
-> https://www.fluechtlingshilfe.ch/fakten-statt-mythen/beitraege-2019/alles-klar-im-neuen-asylverfahren.html
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/karin-keller-sutter-beschleunigt-die-asylverfahren-65489411
-> https://www.nau.ch/politik/international/neues-asylsystem-der-schweiz-gilt-ab-marz-65489533
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=944a061a-d85d-4155-a0f2-0c68943de03b
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=23d38d5c-e871-490d-b137-e583a8bb6606&startTime=945.001
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/verkuerzte-asylverfahren-mit-neuer-gesetzesrevision-134147688
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/neuorganisation-im-asylwesen-chancen-und-risiken-der-beschleunigten-verfahren

+++DEUTSCHLAND
Kriminalisierung der Zivilgesellschaft – jetzt auch in Deutschland?
Das »Zweite Hau-ab-Gesetz« – vom Bundesinnenministerium beschönigend als »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« bezeichnet – ist aktuell im Ressortverfahren, wird also zwischen den Ministerien besprochen. Zu dieser »Ordnung« sollen auch zwei neue Straftatbestände gehören, die die zivilgesellschaftliche Unterstützung von geflüchteten Menschen im Visier haben.
https://www.proasyl.de/news/kriminalisierung-der-zivilgesellschaft-jetzt-auch-in-deutschland/

+++FRANKREICH
Menschenrechte: Frankreich wegen Umgangs mit Flüchtlingskind verurteilt
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Frankreich wegen der Lage im Elendslager „Dschungel von Calais“ verurteilt. Ein Junge lebte dort monatelang unbetreut.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-02/menschenrechte-frankreich-fluechtlingslager-egmr-asylpolitik

+++MITTELMEER
Raaupe kritische Bildung: SEA-WATCH 3
Antirassismus – Migration Bildung – Wissen teilen
28.02.2019
Ein Crewmitglied erzählt über den Januareinsatz und die rassistische Migrationspolitik der EU
4. März | Güterstrasse 8 Bern (2. Stock) | 19:30
Die Sea-Watch 3 war Anfang Jahr das einzige verbliebene zivile Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer. Am 19. Januar 2019 hat sie 47 Menschen vor der Küste Libyens von einem Schlauchboot gerettet. Unmittelbar nachdem die Menschen abscheulicher Gewalt, Folter und Ausbeutung in Libyen entflohen sind, wurden sie zum Spielball europäischer Migrationspolitik gemacht.
https://barrikade.info/Raaupe-kritische-Bildung-SEA-WATCH-3-1919

Mahnwache für Verstorbene im Mittelmeer – RaBe-Info 28.02.2019 (ab 13:01)
Über 2000 Menschen, also rund 6 Menschen pro Tag, sind 2018 im Mittelmeer ertrunken. Auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa haben sie sich auf die gefährliche Reise begeben und mit ihrem Leben bezahlt. Heute Abend findet in Bern in Gedenken an die Ertrunkenen im Mittelmeer eine stille Mahnwache statt. Das Unerträgliche dürfe nicht alltäglich werde, so Mirjam Baumgartner vom Organisationskomitee.
Anfangs Jahr versanken im Mittelmeer zwei Boote mit mindestens 170 Menschen an Bord. Zur selben Zeit konnte das zivile deutsche Rettungsschiff Sea Watch 3 mit fünfzig Geflüchteten an Bord erst nach einer zweiwöchigen Odyssee im italienischen Hafen Catania anlegen. Danach wurde es 21 Tage lang von italienischen und niederländischen Behörden blockiert. Angeblich wollte man den Zustand des Schiffes prüfen, drei Wochen vor der ohnehin geplanten Kontrolle. Mehrere Besatzungsmitglieder von zivilen Rettungsschiffen sind seit längerem in Italien angeklagt. Ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Italien lässt kaum mehr Schiffe mit Geflüchteten anlegen. Innenminister Matteo Salvini argumentiert: «Solange Europas Häfen offen blieben, helfe man den Schleppern und das Töten gehe weiter.»
Europa müsse einsehen, dass das Dublin-Abkommen gescheitert sei. Es brauche eine bessere Verteilung der Geflüchteten, sagt Mirjam Baumgartner. Zudem brauche es sichere Fluchtwege nach Europa, um den gefährlichen Weg über das Mittelmeer umgehen zu können.
https://rabe.ch/2019/02/28/mahnwache-app-fuer-gefluechtete/
-> Mahnwache: https://www.facebook.com/events/2246307455606657/

Niederländische Regierung knickt ein: Sea-Watch 3 auf dem Weg in planmäßigen Werftaufenthalt in Frankreich
Am Dienstag kündigte Sea-Watch an, ein Eilverfahren gegen die Blockade des Rettungsschiffes Sea-Watch 3 durch die niederländische Regierung anzustrengen. Zwei Minuten vor der gesetzten Frist, am Mittwoch, erlaubten die niederländischen Behörden dem Schiff daraufhin, zum geplanten Wartungsaufenthalt in einer französischen Werft zu fahren – und räumten damit ein, dass die vorangegangene Blockade rechtlich nicht zu halten war.
https://www.borderlinesicilia.org/de/niederlaendische-regierung-knickt-ein-sea-watch-3-auf-dem-weg-in-planmaessigen-werftaufenthalt-in-frankreich/

+++GASSE
Baugesuch für Alki-Treff am Bollwerk verspätet
Die Bewilligung für das Alkistübli «La Gare» auf der Bahnhofterrasse lief im vergangenen April ab. Dennoch hat die Stadt erst jetzt das Baugesuch für den Weiterbetrieb publiziert.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/baugesuch-fuer-alki-treff-am-bollwerk-verspaetet/story/20631180

+++DROGENPOLITIK
Pilotversuche mit Cannabis: Botschaft an das Parlament überwiesen
Der Bundesrat hat die Botschaft zu Pilotversuchen mit Cannabis an seiner Sitzung vom 27. Februar 2019 an das Parlament überwiesen. Die Vorlage schafft die Voraussetzungen für die Durchführung von befristeten und streng reglementierten wissenschaftlichen Studien über den Cannabiskonsum zu Genusszwecken.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-74154.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/freizeit-konsum-versuche-mit-cannabis-sollen-rechtliche-grundlage-erhalten
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=341ca2e9-f48b-49b7-9967-8607c1fd9ed8
-> https://www.derbund.ch/schweiz/standard/bis-zu-5000-personen-erhalten-die-lizenz-zum-legalen-kiffen/story/22496113
-> https://www.derbund.ch/bern/bern-ist-der-kifferstudie-einen-schritt-naeher/story/23874687
-> https://www.nzz.ch/schweiz/cannabis-pilotversuche-fuer-legales-kiffen-sollen-moeglich-sein-ld.1463435
-> https://www.nau.ch/news/videos/bundesrat-alain-berser-stellt-gesetz-zu-cannabis-versuchen-vor-65489139
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/bundesrat-will-pilotversuche-mit-cannabis-erlauben-65489241
-> https://www.watson.ch/schweiz/liveticker/725700253-cannabis-so-will-der-bundesrat-pilotversuche-in-der-schweiz-zulassen
-> https://www.zentralplus.ch/de/news/aktuell/5588986/Marihuana-aus-Luzerner-Apotheken-r%C3%BCckt-ein-St%C3%BCckchen-n%C3%A4her.htm
-> https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=23d38d5c-e871-490d-b137-e583a8bb6606&startTime=836.938
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/fuer-die-forschung-5000-schweizer-duerfen-legal-kiffen-134147219
-> https://www.telem1.ch/fokus/chefarzt-ueber-das-cannabisexperiment-134107961
-> https://www.telem1.ch/aktuell/bundesrat-erlaubt-zu-forschungszwecken-cannabis-134147581
-> https://www.tele1.ch/artikel/154316/bundesrat-will-cannabis-pilotversuche

Bern ist der Kifferstudie einen Schritt näher
Die Stadt Bern will den Cannabisversuch durchführen, sobald der «Experimentierartikel» in Kraft ist. Am Donnerstag hat der Bundesrat die geplante Gesetzesvorlage ans Parlament überwiesen.
https://www.derbund.ch/bern/bern-ist-der-kifferstudie-einen-schritt-naeher/story/23874687

Bundesrat will Cannabis-Tests – Stadtrat erfreut- Marihuana aus Luzerner Apotheken rückt ein Stückchen näher
140’000 Franken für einen Pilotversuch für den Verkauf von Cannabis in Apotheken hat das Luzerner Stadtparlament bereits bewilligt. Nun macht auch der Bundesrat bei der legalen Grundlage vorwärts. Das freut den zuständigen FDP-Stadtrat Martin Merki – der allerdings auf eine weitere Hürde verweist.
https://www.zentralplus.ch/de/news/aktuell/5588986/Marihuana-aus-Luzerner-Apotheken-r%C3%BCckt-ein-St%C3%BCckchen-n%C3%A4her.htm

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Greenpeace-Prozess: Aktivisten bekennen sich in AKW-Streit mit Axpo schuldig
Zwei angeklagte Aktivisten, die 2016 bei der Verhüllung des Axpo-Gebäudes dabei waren, anerkennen den Vorwurf des Hausfriedensbruchs. Sie schweigen vor Gericht. Ihr Anwalt kritisiert weiter fehlende Transparenz, wenn es um die Sicherheit des AKW Beznau geht.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/greenpeace-prozess-aktivisten-bekennen-sich-in-akw-streit-mit-axpo-schuldig-134148885

+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Nach Post-Überfall durch Rapper Besko (33): SVP-Heer will Schweiz-Ferien für Ausgeschaffte abschaffen
SVP-Nationalrat Alfred Heer nimmt nach dem Fall Besko nochmal Anlauf: Er will, dass Einreisesperren in die Schweiz nicht mehr wegen einer verstorbenen Grossmutter oder einer Taufe temporär aufgehoben werden dürfen.
https://www.blick.ch/news/politik/nach-post-ueberfall-durch-rapper-besko-33-svp-heer-will-schweiz-ferien-fuer-ausgeschaffte-abschaffen-id15192839.html

+++KNAST
Justiz | Überstellung ausländischer Straftäter
Bundesrat setzt sich für Strafvollzug im Heimatland ein
Der Aargauer SVP-Nationalrat Luzi Stamm verlangt, dass mehr in der Schweiz verurteilte ausländische Straftäter ihre Strafe im Herkunftsland absitzen. Mit der Forderung rennt er beim Bundesrat offene Türe ein.
https://www.1815.ch/news/schweiz/news-schweiz/bundesrat-setzt-sich-fuer-strafvollzug-im-heimatland-ein/

+++POLICE BE
Bern: Tod in der Polizeizelle
(augenauf Bern) – An Weihnachten 2018 starb ein 20-jähriger Berner in einer Zelle der Waisenhaus-Polizeiwache. Angesichts der Umstände in diesem Fall muss mensch sich generell wieder einmal fragen, ob die Polizei bei Verhaftungen – insbesondere von Angehörigen bestimmter Bevölkerungsgruppen – ihre Sorgfaltspflicht genügend wahrnimmt.
https://barrikade.info/Bern-Tod-in-der-Polizeizelle-1918

Mahnmal auf Waisenhausplatz soll weg
Das Mal soll an einen Insassen erinnern, der in einer Berner Gefängniszelle gestorben ist. Der SVP-Stadtrat Henri Beuchat findet das als eine Provokation.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/mahnmal-auf-waisenhausplatz-soll-weg-134147223
-> https://ris.bern.ch/Dokument.ashx?dId=16b6665d53e7493dbfbc4fcbb0b297ef-332&dVersion=8&dView=Dokument
-> https://barrikade.info/Bern-Tod-in-der-Polizeizelle-1918

Antwort des Gemeinderats auf Kleine Anfrage Henri Beuchat (SVP)

Bei den Blumen und Kerzen auf dem Waisenhausplatz handelt sich um ein privates Mahnmal auf öffentlichem Grund – ein Zeichen der Trauer und Anteilnahme von Angehörigen und Freunden einer tragisch verstorbenen Person. Da keine Personen um die Blumen und Kerzen versammelt sind, handelt es sich nicht um eine «Mahnwache».

Zu Frage 1:
Der Zeitpunkt zur Räumung des Mahnmals ist noch nicht bestimmt. Das Tiefbauamt ist zu dieser Frage mit den Angehörigen des Verstorbenen in Kontakt.

Zu Frage 2:
Zu solchen Mahnmalen im öffentlichen Raum gibt es keine spezifischen Rechtsnormen. Das Tiefbauamt handhabt es so, dass aus Gründen der Pietät der Kontakt mit den Angehörigen, die das Mahnmal angebracht haben, sowie deren Wünsche im Vordergrund stehen. Anders wäre die Situation dann zu beurteilen, wenn von einem Mahnmal im öffentlichen Raum eine relevante Gefährdung ausgehen würde; dies ist vorliegend nicht der Fall.

Bern, 27. Februar 2019

Der Gemeinderat
(https://ris.bern.ch/Dokument.ashx?dId=16b6665d53e7493dbfbc4fcbb0b297ef-332&dVersion=8&dView=Dokument)

Kantonspolizei Bern: Kredite 2020 – 2024 für neue Uniformen, Bewaffnung und Schutzausrüstung
Für die Beschaffung neuer Uniformen für die Kantonspolizei beantragt der Regierungsrat dem Grossen Rat für die Jahre 2020 bis 2024 einen Kredit von jährlich 3,7 Millionen Franken. Weitere insgesamt 8,38 Millionen Franken beantragt er für die Ergänzung der Bewaffnung und der Schutzausrüstung. Im Jahr 2015 hat der Kanton Bern gemeinsam mit 16 anderen Kantonspolizeien sowie Stadt- und Gemeindepolizeien das Projekt «Korpsübergreifende Erneuerung Polizeiuniform» gestartet. Basierend auf dem aktuellen Erscheinungsbild der kantonalen Deutschschweizer Polizeicorps wurde ein Konzept für eine Arbeitsuniform erarbeitet. Ab der zweiten Hälfte des laufenden Jahres soll die neue Uniform für das ganze Corps der Kantonspolizei Bern eingeführt werden.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2019/02/20190227_1340_kurzinformation_ausdemregierungsrat#portalnavrrcsubeleme_2140466984
-> https://www.derbund.ch/bern/neue-uniformen-fuer-berner-kantonspolizei/story/26231026
-> https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/kredit-fuer-neue-kapo-uniformen/story/15453455
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/swissnews-134147182

+++POLIZEI CH
Datenaustausch zur Kriminalitätsbekämpfung
Der Regierungsrat des Kantons Bern begrüsst die Bestrebungen des Polizeikonkordats der Nordwestschweiz, die interkantonale polizeiliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Datenbearbeitung und des Datenaustauschs zu verbessern. Damit könne ein bedeutender Beitrag an die Bewältigung der modernen polizeilichen Herausforderungen geleistet und in einem sensiblen Bereich Rechtssicherheit geschaffen werden, hält der Regierungsrat in seiner Vernehmlassungsantwort an das Polizeikonkordat Nordwestschweiz fest. Der Regierungsrat hätte jedoch eine konkordatsübergreifende, schweizweit gültige Regelung als zielführender erachtet, weil die Kriminalität nicht vor den Grenzen der Kantone und Konkordate Halt macht.
https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.mm.html/portal/de/meldungen/mm/2019/02/20190227_1340_kurzinformation_ausdemregierungsrat#portalnavrrcsubeleme_769503353

+++POLIZEI DE
2300 Bodycams für die Bundespolizei von Motorola Solutions
Motorola Solutions liefert Bodycams an die Bundespolizei. Sie dürfen nicht für interne Ermittlungen oder Kontrolle der Polizeibeamten verwendet werden.
https://www.heise.de/newsticker/meldung/2300-Bodycams-fuer-die-Bundespolizei-von-Motorola-Solutions-4323306.html

+++ANTIRA
Gerüchte über Angriff auf Gugge Mohrekopf und Negro-Rhygass
Die Guggenmusik Mohrekopf hat vernommen, dass auf sie und die Gugge Negro-Rhygass möglicherweise Farbanschläge geplant sind.
https://bazonline.ch/basel/stadt/geruechte-ueber-angriff-auf-gugge-mohrekopf-und-negrorhygass/story/20995284

Luzerner Fasnacht findet Rassismus-Debatte absurd
Im Vorfeld der Fasnacht haben rassistische oder diskriminierende Sujets für viel Zündstoff gesorgt. Nun erklären die Fasnächtler selber, wo die Grenzen sind.
https://www.nau.ch/news/videos/luzerner-fasnacht-findet-rassismus-debatte-absurd-65489487

«Wir sind stolz darauf, Negerchinger zu sein»
Für ihren Fasnachtsnamen «Negerchinge» erntete die Gemeinde Egerkingen Kritik. Die Fasnächtler reagieren mit Unverständnis – und wollen an ihrem Namen festhalten.
https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/-Wir-sind-stolz-darauf–Negerchinger-zu-sein–12285889

+++PATRIARCHAT
tagesanzeiger.ch 28.02.2019

Frauenfeinde unter sich

Im Internet breitet sich eine gefährliche Bewegung aus: die «Incels». In Verschwörungsforen geben sexuell unzufriedene Männer den Frauen die Schuld an ihrem Leiden.

Jan Stremmel

Eigentlich, sagt Werner B., habe er sich nur nach Liebe gesehnt. Und nach Sex. Aber seine Frau wollte keinen mit ihm. Andere hätten auf seine Annäherungsversuche nicht reagiert. Er habe «langsam eine richtige Wut auf Frauen» bekommen. Vor ein paar Wochen habe ihn dann, nachts in Wien, eine «so richtig blöd angeschaut».

So hat es Werner B. (41), vorbestraft, gemäss österreichischen Medien der Polizei gesagt. B. zertrümmerte der Frau mit einem Hammer den Schädel. Eine andere Frau prügelte er in derselben Nacht mit einer Eisenstange ins Koma. Den versuchten Doppelmord leitete er ganz sachlich her: als Schrei nach Liebe.

Man muss nicht versuchen, den Täter zu verstehen. Schwerverbrecher finden die abstrusesten Erklärungen für ihre Taten. Aber der Fall aus Wien hat Parallelen zu Gewaltakten in Nordamerika von letztem Jahr: Im Frühjahr tötete in Toronto ein 25-Jähriger 8 Frauen und 2 Männer mit einem Auto. Ein paar Wochen später erschoss ein 17-Jähriger in Santa Fe 10 Menschen in seiner Schule. Im November ermordete ein 40-Jähriger in einem Yogastudio in Florida zwei Frauen. Als Grund nannten alle Täter: Wut auf Frauen.

Alle drei kann man einer frauenfeindlichen Bewegung zurechnen, die es seit etwa zehn Jahren gibt und deren Gedankengut sich weiter ausbreitet. Sie heisst «Incel» – von «involuntary celibate», unfreiwillig enthaltsam. Sogenannte Incels tauschen sich in Foren über ihren sexuellen Frust aus. Über Frauen, die ihren Körper als Machtinstrument ausspielten und ihnen Sex vorenthielten. Und eine Gesellschaft, die daran Schuld trage.

Der Feminismus sei schuld

Es ist ein hochgradig frauenfeindlicher Verschwörungsglaube. Jugendliche und Männer aus Europa, Afrika, Asien, vor allem aus Nordamerika hängen ihm an. Vergewaltigungen und gar Mord gelten als legitime Mittel, um die Unterdrückung zu beenden. Auch wenn nicht bekannt ist, ob Werner B. sich als Incel bezeichnet hat, ob er in diesen Foren unterwegs war – in dieser verworrenen Welt würden seine Taten wohl gefeiert. Man könnte diese Nische des Internets mit einer Sekte vergleichen: Es gibt heilige Schriften, eigenes Vokabular und strenge Hierarchien. Incels haben Helden und Märtyrer, wie die Columbine-Attentäter von 1999, die in Tagebüchern notierten, dass Sex sie vielleicht noch umstimmen würde.

Jonas war jahrelang in diesen Foren unterwegs. Seinen echten Namen gibt er nicht preis. Auch heute noch, schreibt er im Netz, werde er rückfällig und klicke sich in die Foren, wenn er sich einsam fühle. Einsamkeit ist diffus, es ist schwer, einen Schuldigen dafür auszumachen. Bei den Incels ist das ganz leicht: Meist sind es der Feminismus und die Gleichberechtigung.

Foren mit mehr als 40’000 Mitgliedern gesperrt

Jonas schreibt seit drei Jahren auf Deutsch unter einem Pseu­donym auf Reddit, einem Netzwerk mit Tausenden Foren zu allen denkbaren Themen. Auch Incels nutzen Reddit intensiv. Seit die Plattform nach dem Attentat von Toronto alle grossen Incel-Foren mit teilweise mehr als 40’000 Mitgliedern sperrte, kommunizieren sie meist auf eigenen Websites. Auf Anfragen reagiert Jonas nicht. Aber in mehreren Beiträgen erklärte er vor kurzem seinen Ausstieg aus der Incel-Szene. Wer seine Einträge verfolgt, bekommt das Bild eines intelligenten jungen Mannes, der sich aus Unsicherheit in ein Netz aus wilden Theorien flüchtete.

Jonas ist offenbar während der Schulzeit auf Incel gestossen, wegen seiner Körpergrösse. Er sei 1,65 Meter gross, «kleiner als meine Mama», schreibt er. Einmal habe seine Mutter erwähnt, sie habe sich gewünscht, dass er wenigstens grösser werde als sie. «Das war hart.» Ein Teufelskreis, findet er heute. Man werde «in seinen dummen Gedanken bestätigt und verrennt sich in einem abstrusen Weltbild».

«Currycels» und «Ricecels»

In der Incel-Welt herrscht ein eigener, rassistischer Code, für Aussenstehende kaum verständlich: Klein gewachsene Männer wie Jonas gelten als «Heightcels». Wer sich aufgrund seiner dunklen Hautfarbe von Frauen als abgelehnt empfindet, ist ein «Blackcel». Wer den Grund in seinem asiatischen Äusseren vermutet (was in der Szene als sehr gute Begründung gilt): «Ricecel» oder, noch eine Stufe darunter, «Currycel». Kein körperliches Merkmal ist zu banal, um als Ursache für Abweisung herzuhalten: Einen «Wristcel» disqualifizieren etwa seine schmalen Handgelenke. Wer dennoch die Hoffnung äussert, irgendwann eine Frau zu finden, wird als «Hopecel» verspottet. Es ist eine Ideologie, die sich an verwundbare männliche Teenager wendet und als Lösung nur Resignation oder Gewalt anbietet.

Der Feind sind Frauen, die Incels abweisen, sie heissen «Stacys». Die wenigen Männer, die massenweise Stacys abbekommen, genannt «Chads», sind das zweite Feindbild. Versucht ein Incel, mit Sport oder Flirttraining zum Chad zu werden, gilt er in der Community als «Red Pill» – als Träumer, der dagegen ankämpfe, was die Anhänger der wahren Lehre, «Black Pill» genannt, längst akzeptiert haben: dass es keinen Ausweg aus der vorbestimmten Einsamkeit gibt.

Suizid ist ständiges Thema. Beliebt sind Statistiken, die mit kruden evolutionsbiologischen Thesen belegen sollen, dass Frauen nur auf grosse Männer mit breitem Unterkiefer stehen. Wer klein gewachsen oder schmal sei, lichtes Haar, schlechte Haut oder psychische Prob­leme habe, brauche sich keine Hoffnung zu machen. Solche Beiträge heissen «Sui-Fuel». Suizid-Treibstoff. Der Moderator eines der grösseren Foren, ein US-Amerikaner, schreibt auf Anfrage, er unterstütze keine Gewalt. Aber er verstehe nicht, warum «sexuelle Frustration» nicht endlich als offizielle psychische Erkrankung anerkannt werde. Er sei mehrmals vergeblich in Therapie gewesen. Nun denke er über chemische Kastration nach.

Forderung nach Monogamie

Bekannteste Figur der Szene ist Elliot Rodger, der 2014 als 22-Jähriger in Kalifornien 6Menschen tötete und 14 verletzte, ehe er sich erschoss. Er hinterliess ein 141-seitiges Manifest: «Die Männer verdienen es, weil sie mir die Frauen weggenommen haben. Die Frauen verdienen es, weil sie diese Männer mir vorgezogen haben.» Auf Rodgers berief sich auch der Täter von Toronto, der sich vor seiner Amokfahrt auf Facebook als «Soldat der Incel-Rebellion» bezeichnete, die «alle Chads und Stacys dieser Welt entmachten» werde. Der Post endete mit Grüssen an den «Supreme Gentleman Elliot Rodger».

Der Kern der Incel-Theorie ist die Behauptung, dass die sexuelle Befreiung der Frau ein Ungleichgewicht zuungunsten weniger attraktiver Männer geschaffen habe. Demnach müsse Monogamie wieder obligatorisch werden. Die These ist alt: In der zentralen Passage von Michel Houellebecqs «Ausweitung der Kampfzone» von 1999 denkt der Icherzähler darüber nach: «In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht einen Bettgenossen. (.?.?.) In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt.»

Kohorte von Unberührten

Tatsächlich ist die Incel-Szene, so obskur und fast albern sie wirken mag, Teil einer grösseren gesellschaftlichen Bewegung: des neurechten Backlash gegen den Feminismus. Ein Vordenker der Incels ist der kanadische Psychologieprofessor Jordan Peterson. Der weist diese Rolle zwar von sich, zeigt aber ein merkwürdiges Verständnis für sexuell frustrierte Gewalttäter: «Er war wütend auf Gott, weil Frauen ihn abwiesen», sagte Peterson in der «New York Times» über den Amokfahrer von Toronto. «Die Lösung dafür ist sozial erzwungene Monogamie.» Eine Ehefrau für jeden, und das Problem ist gelöst: Kein Wunder, erfreut sich der Professor enormer Beliebtheit in der Alt-Right-Bewegung und unter einsamen Männern. Er füllt auf seinen Lesetouren Hallen, auch in Zürich trat er kürzlich auf.

Herbert Scheithauer ist Psychologieprofessor in Berlin und forscht zu Amoktätern. «Ein einzelner Faktor wie sexueller Frust», sagt er, «macht keinen Menschen zum Mörder.» Aber auf dem Weg zur Enthemmung spielten Foren eine entscheidende Rolle: «Auch für die perverseste Fantasie finden Sie jemanden, der Sie unterstützt. Und obwohl das in Wahrheit eine winzig kleine Gruppe ist, haben Sie das Gefühl: Mein Gott, wir sind ja viele!»

Warum solche Foren im Zeitalter von Youporn und Tinder besonders beliebt sein könnten, dafür hat Sexualtherapeutin Heike Melzer eine Erklärung. Sie sehe es in ihrer Praxis: «Einige haben mit 25 schon mehr als 100 Bettpartner», sagt sie. Auf der anderen Seite entstehe eine ganze «Kohorte von Unberührten», also junge Männer «mit Testosteronstau, die sich im Netz völlig autonom an Pornografie abarbeiten, ohne je mit einer echten Frau in Kontakt zu treten». Aus diesem Pool verunsicherter Jungs speist sich die Incel-Bewegung.

Jonas, dem Aussteiger, kamen Zweifel, als er ein Studium anfing. «Ich hatte Freunde, die waren so klein wie ich und haben dennoch Freundinnen gehabt», schreibt er. «Allein dadurch fällt dieses Stacy-Chad-Kartenhaus in sich zusammen. Aber es ist natürlich einfacher, alles auf eine boshafte Gesellschaft zu schieben.» Die Erklärung hat er mittlerweile gelöscht. Sein letzter Post auf Reddit erschien kürzlich in einem Modeforum. Er erkundigt sich, mit welcher Hose er seine neuen Turnschuhe kombinieren soll.
(https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Frauenfeinde-unter-sich/story/10641812)