Medienspiegel 19. Dezember 2018

+++BERN
derbund.ch 19.12.2018

Kritik an Marktöffnung im Asylwesen

Mit der Neuorganisation des Asyl- und Flüchtlingsbereichs bevorzuge der Kanton kommerzielle Anbieter, kritisieren Fachpersonen. Die Fürsorgedirektion stellt dies in Abrede.

Bernhard Ott

Im Kanton Bern werden die Karten im Asyl- und Flüchtlingsbereich neu gemischt (siehe Text rechts). Mit der Neuorganisation will die Fürsorgedirektion von Pierre Alain Schnegg (SVP) die Verantwortung für Unterbringung, Sozialhilfe und Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen an fünf regionale Partner delegieren.

Die derzeit laufende Ausschreibung der Aufträge gefährde aber just diese Regionalisierung, kritisiert der einstige kantonale Asylkoordinator Roland Beeri. Denn die vorgesehene Abgeltung der Leistungen durch den Kanton «benachteiligt Nonprofit-Organisationen und öffnet Tür und Tor für kommerzielle Anbieter», hält Beeri in einem Schreiben an den «Bund» fest. Im Migrationsbereich tätige Personen und Organisationen befürchten, dass dadurch die gewinnorientierte Firma ORS AG anstelle von gemeinnützigen Organisationen zum Zuge kommen könnte. So ist Regierungsrat Schnegg diese Woche in einem offenen Brief zweier Privatpersonen dazu aufgefordert worden, auf eine Vergabe von Aufträgen an die ORS AG zugunsten regional verankerter Partner zu verzichten.

Geld erst bei Erfolg

Kernpunkt der Kritik des einstigen Asylkoordinators ist der Umstand, dass der Kanton den Aufwand für Betreuung und Integration nicht vollständig und im Voraus abgleicht wie bis anhin, sondern zu einem grossen Teil von einer erfolgreichen Integration abhängig macht. Auf diese Weise müssten die regionalen Partner in den nächsten sechs bis sieben Jahren zwischen zwei bis drei Millionen Franken aus eigenen Mitteln vorschiessen, heisst es in einem Vorstoss von Grossrätin Natalie Imboden (Grüne). Dieses Geld erhielten sie erst wieder zurückerstattet, wenn genügend Personen die Integrationsziele erreicht hätten, schreibt Imboden.

Laut Beeri würden dadurch die betreuenden Organisationen stark unter Druck gesetzt. «Denn ohne Zielerreichung fehlt das nötige Geld zur Bezahlung der Personalkosten», hält der einstige Asylkoordinator fest. Bei Erteilung des Flüchtlingsstatus zahle der Kanton eine Anzahlung von vierzig Prozent auf die Pauschalabgeltung von maximal 12000 Franken. Weitere Zahlungen erfolgten erst beim Erreichen bestimmter Ziele. «Das kann aber einige Jahre dauern», sagt Beeri.

Bisher im Asyl- und Flüchtlingsbereich tätige Organisationen wollten sich gegenüber dem «Bund» nicht äussern, da sie sich selber an der Ausschreibung beteiligen wollen. Aber bei der Informationsstelle für Ausländerinnen- und Ausländerfragen (ISA Bern) nimmt man kein Blatt vor den Mund. Für sie war der auf Vorschuss basierende Abgeltungsmodus einer der Hauptgründe, sich nicht an der Ausschreibung zu beteiligen. «Als kleine, regional verankerte Organisation können wir uns einen Vorschuss von zwei Millionen Franken nicht leisten», sagt Co-Geschäftsleiter Tom Morgenegg. Wer es sich leisten könne und den Zuschlag erhalte, sei gezwungen, auf Personen mit guten Integrationsaussichten zu setzen, um die kantonalen Abgeltungen zu erlangen, ergänzt Co-Geschäftsleiterin Francesca Chukwunyere. «Was geschieht dann zum Beispiel mit traumatisierten Personen?», fragt Chukwunyere.

GEF will «Anreiz» geben

Bei der zuständigen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) kann man die Vorwürfe kaum nachvollziehen. Ihr Sprecher Gundekar Giebel weist in einer schriftlichen Stellungnahme darauf hin, dass der Asyl- und Flüchtlingsbereich grossen Schwankungen unterworfen sei, gerade auch in finanzieller Hinsicht. Für die künftigen regionalen Partner sei es unabdingbar, damit umgehen zu können. Mit der erfolgsorientierten Abgeltung wolle die GEF den Organisationen einen «klaren Anreiz» geben, die Integrationsziele zu erfüllen. Im Übrigen «bevorzugt das Abgeltungssystem kommerzielle Anbieter nicht per se», hält Giebel fest.

Er stellt zudem in Abrede, dass die künftigen regionalen Partner ihren Aufwand «vorschiessen» müssen. So sorgten die Akontozahlungen in der Betreuung und Sozialhilfe dafür, «dass keine Vorfinanzierung durch die regionalen Partner erfolgt». Aber auch im Bereich der Integrationsförderung gehe die GEF davon aus, dass die regionalen Partner keine Leistungen vorfinanzieren müssten. «Vielmehr leistet der Kanton mit der Grundpauschale von vierzig Prozent der offerierten Gesamtkosten eine Vorfinanzierung.» Wenn anschliessend die abgeltungsrelevanten Ziele erreicht würden, «dürften die regionalen Partner mit den Abgeltungen ohne eigene Vorfinanzierung haushalten können», schreibt Giebel.

Verweis auf Ziele des Bundes

So besteht für die GEF denn auch keine Gefahr, dass durch die erfolgsorientierte Abgeltung nur noch Personen gefördert werden könnten, deren Integration erfolgversprechend ist. Vielmehr fokussiere auch die Integrationsagenda des Bundes bei der Abgeltung auf die Zielerreichung in den Bereichen Sprachförderung und berufliche Integration, «weil es sich um gut messbare Kriterien handelt».

Die GEF erwarte von den künftigen regionalen Partnern, dass sie diese Ziele ebenso erreichen wollten wie der Kanton. «Dafür erhalten sie auch eine beträchtliche Grundpauschale», hält Giebel fest.

Möglichst rasche Integration

Zu viele vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge sind von der Sozialhilfe abhängig. Bund und Kantone möchten dies mit der Integrationsagenda ändern. Die Entscheide auf Bundesebene sollen künftig beschleunigt werden, sodass den Kantonen nur noch Personen zugeteilt werden, deren Gesuch mit hoher Wahrscheinlichkeit anerkannt wird. Zur Förderung der Integration erhöht der Bund die pauschale Abgeltung an die Kantone von 6000 auf 18000 Franken. Im Kanton Bern will die neu zuständige Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) die Organisation vereinfachen. Sie hat die Aufträge für Unterbringung, Sozialhilfe und Integration in fünf Asylregionen neu ausgeschrieben. Die Ausschreibung läuft noch bis 18. Januar. In der Asylregion Bern-Stadt wollen Stadt und Heilsarmee den Auftrag erhalten.

Was geschieht mit Bundesgeldern?

Ab Mai 2019 erhöht der Bund die Pauschale zur Integration von vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen von 6000 auf 18’000 Franken. Damit sollen die Betroffenen in drei Jahren Grundkenntnisse einer Landessprache erwerben. Zudem soll mindestens die Hälfte davon nach sieben Jahren in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Der Kanton Bern gibt die Integrationspauschale aber nicht tel quel an die regionalen Partner weiter. Gemäss Ausschreibung werden sie maximal 12’000 Franken erhalten.«Weshalb dieser Rückbehalt?», fragt sich der einstige Asylkoordinator Roland Beeri.

Der Kanton werde rund ein Drittel der Integrationspauschale zur Finanzierung des kantonalen Sprachförderangebots, für Pilotprojekte und weitere Hilfestellungen verwenden, «die allen regionalen Partnern zur Verfügung stehen», hält Gundekar Giebel, Sprecher der Fürsorgedirektion, fest.
(https://www.derbund.ch/bern/kanton/kritik-an-marktoeffnung-im-asylwesen/story/16112313)

Interpellation (Grüne) Welche Auswirkungen haben die neuen Rahmenbedingungen für «Generalunternehmungen» im Bereich der Neustrukturierung des Asyl- und Flüchtlingsbereichs (NA-BE)?
https://www.gr.be.ch/gr/de/index/geschaefte/geschaefte/suche/geschaeft.gid-75e9f58ec2744bb89687c3ad122b290e.html

+++NIDWALDEN
Nidwalden hat ein Auge auf psychische Probleme bei Flüchtlingen
Der Suizid eines afghanischen Flüchtlings führte zu einem Auskunftsbegehren im Landrat über die Früherkennung von psychischen Problemen bei geflüchteten Menschen. Dieses wurde am Mittwoch im Parlament beantwortet.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/nidwalden/nidwalden-hat-ein-auge-auf-psychische-probleme-bei-fluechtlingen-ld.1079777
-> https://www.nw.ch/politbusiness/49612

+++OBWALDEN
Demo in Obwalden: Bleiberecht für Tesfaldet und Samuel
20. Dezember | 16:30 Uhr | Rathaus | Sarnen
Tesfaldet und Samuel – Zwei junge Geflüchtete aus Eritrea haben vom Staatssekretariat für Migration (SEM) einen negativen Asylentscheid erhalten. Die beiden leben im Kanton Obwalden und sind daran eine Lehre zu machen. Das SEM will, dass die Polizei von Obwalden Tesfaldet und Samuel nach Eritrea ausschaffen. Das geht nicht, denn obwohl der Frieden zwischen Eritrea und Äthiopien gut ist, ist die Situation in Eritrea unverändert schlecht. Das Regime ist immer noch das gleiche. Der Militärdienst ist immer noch wie Sklaverei. Alle müssen ihn machen. Sie müssen für das Regime Strassen bauen, Gebäude überwachen, dürfen nichts kritisieren. Über 10 000 Personen sind grundlos im Gefängnis. Niemand weiss wohin sie verschwunden sind.
All diese Probleme sind bekannt. Trotzdem will das SEM Tesfaldet und Samuel ausschaffen. Das ist keine Lösung.
https://migrant-solidarity-network.ch/2018/12/19/demo-in-obwalden-bleiberecht-fuer-tesfaldet-und-samuel/?fbclid=IwAR0TIFig5quPCdfC0zcWVIyMotk0rE6VVPAwYijPNf3ECiuGQIj2CKk4q0E

+++THURGAU
Linksgrün läuft mit Forderung nach besserer Betreuung für minderjährige Asylsuchende auf
Der Grosse Rat hält an der Praxis im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen fest. Die Forderung nach einer altersgerechteren Betreuung bleibt chancenlos.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/frauenfeld/linksgruen-laeuft-mit-forderung-nach-besserer-betreuung-fuer-minderjaehrige-asylsuchende-auf-ld.1079785
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/grosser-rat-gegen-ausbau-der-betreuung-minderjahriger-asylsuchender-65466168

+++SCHWEIZ
Einsatz für Asylsuchende – Anni Lanz – die älteste Schlepperin der Schweiz
Vor Gericht statt in Pension: Die 72-jährige Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz bricht das Gesetz, um Asylsuchende zu unterstützen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/einsatz-fuer-asylsuchende-anni-lanz-die-aelteste-schlepperin-der-schweiz
-> Rundschau SRF: https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=f79595d8-0f1f-4b5e-9929-dbadcfbd061d

derbund.ch 19.12.2018

Menschen retten ist verboten

Anni Lanz hat einen angeschlagenen Afghanen aus Italien in die Schweiz fahren wollen. Dafür wurde sie verurteilt.

David Hesse

Anni Lanz war am Morgen im Gefängnis. Ausschaffungsgefängnis Bässlergut in Basel, direkt an der deutschen Grenze. Seit über zehn Jahren besucht sie dort Häftlinge, Marokkaner, Tunesier, Afghanen, sie organisiert Anwälte, verfasst Beschwerden, manchmal fragt sie auch nur, wie es den Inhaftierten geht. Lanz und ihre Helfer sind vom Solidaritätsnetz Basel, Motto: «Menschenwürde braucht keine Papiere.» Nun ist die Besuchszeit um, sie wartet am Bahnhof Basel SBB auf den Zug, der sie heim in den Jura bringt.

Anni Lanz ist 72 Jahre alt und Gesetzesbrecherin. Am 24. Februar 2018 hat sie versucht, einen Afghanen aus Italien in die Schweiz zu bringen – illegal. Walliser Grenzpolizisten haben sie am Übergang Gondo erwischt, Lanz gebüsst, den Afghanen nach Italien zurückgeschafft.

Lanz erhob Einspruch gegen die Busse. Sie habe einem Menschen in Not helfen wollen. Zählen Grundrechte nicht mehr als das Ausländergesetz? Sie bekam nicht recht. Das Bezirksgericht Brig verurteilte sie letzte Woche wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise» zu einer Busse von 800 Franken. Schlepperei. Auch die Verfahrenskosten von 1400 Franken muss sie tragen.

Das Urteil findet viel Beachtung. Amnesty International Schweiz kritisiert es als «Kriminalisierung der Solidarität», Politiker und Pfarrer sammeln Geld für Lanz. Sie wird das Urteil weiterziehen. «Ich bin ein bitzeli stur», sagt sie. Der Schweiz steht eine Debatte bevor: Wie verboten kann humanitäres Engagement sein?

Spuren von Erfrierungen

Kennen gelernt hat Lanz den Afghanen im Februar im Basler Ausschaffungsgefängnis. Ein Mann um die 30, er habe jünger gewirkt, sie nennt ihn Tom. Er spreche nur Paschtunisch, übersetzt habe der Mann seiner Schwester – ihretwegen sei Tom überhaupt bis in die Schweiz geflohen, die Schwester lebt im Kanton Baselland. Als Lanz ihn traf, war Tom in schlechter Verfassung, «schwer traumatisiert und psychisch krank», sagt Lanz. Er habe im afghanischen Militär gedient, sein Vater sei ermordet worden, seine Frau und sein Kind bei einem Anschlag getötet. Tom habe versucht, sich umzubringen.

Erstmals als Migrant registriert worden war er in Italien. Für die Schweizer Behörden war damit klar: Dublin-Fall, abschieben. Per Flugzeug kam er am 21. Februar nach Mailand. Er versuchte, mit dem Zug in die Schweiz zurückzukommen. Grenzwächter stoppten ihn, er blieb am Bahnhof Domodossola hängen, ohne Handy, ohne Geld, nur mit leichter Kleidung. Es war eisig kalt.

Bei Anni Lanz im Jura läutet an einem Freitagabend das Telefon, es ist der Schwager, Tom habe ihn angerufen, mit dem Handy einer netten Passantin, es gehe ihm schlecht, er friere, schlafe draussen. Lanz versucht, per Telefon die Caritas Domodossola aufzubieten, ohne Erfolg. Sie beschliesst: «Ich fahre hin.»

Anderntags steht sie um fünf auf und setzt sich in den Zug. Lanz hat warme Kleider, Studentenfutter und 300 Euro dabei. «Ich hatte keinen Plan, war nicht sicher, ob ich ihn überhaupt finde.» In Basel stösst der Schwager dazu, sie fahren in seinem Auto weiter. Am Mittag finden sie Tom am Bahnhof Domodossola, er trägt Spuren von Erfrierungen. «So konnten wir ihn nicht zurücklassen. Wir nahmen ihn mit.»

Am Grenzposten Gondo warten drei Schweizer Polizisten. Sie blicken ins Auto: Aussteigen, bitte. Die leitende Polizistin habe sie ausgeschimpft, schreibt Lanz im Erlebnisbericht für die WOZ: Erst komme das Gesetz, dann die Moral. Lanz erhält ihre Busse, Tom wird zurückgefahren, wohin, sagt man ihr nicht. Er ruft dann am nächsten Tag an, er sei wieder am Bahnhof in Domodossola. «Die haben ihn einfach wieder dort abgestellt, wie einen Abfallsack», sagt Lanz. Für einen Moment wird spürbar, wie wütend die zierliche Frau werden kann. Eine befreundete Fluchthelferin organisiert Tom ein Asylverfahren in Italien und damit eine Unterkunft. Bald kommt er wegen Selbstverletzungen in eine psychiatrische Klinik, dann verschwindet er. «Ich weiss nicht, wo er heute ist», sagt Lanz.

Sans-Papiers bei sich einquartiert

Als Lanz im Dezember in Brig vor Gericht erschien, begleiteten sie rund 40 Sympathisanten. Lanz ist nicht einfach eine gute Seele, sondern eine der angesehensten Menschenrechtsaktivistinnen des Landes. Seit den 80er-Jahren setzt sie sich für Migranten ein, ob als politische Sekretärin von Solidarité sans Frontières oder privat. Mehrfach brachte sie Papierlose in der Basler Dreizimmerwohnung unter, die sie mit ihrem Mann bewohnte. Die Juristische Fakultät der Universität Basel verlieh ihr 2004 die Ehrendoktorwürde, lobte ihren Kampf für die Einhaltung der Menschenrechte. 2005 war sie als eine von 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis nominiert. Freunde wie Gegner bescheinigen ihr Hartnäckigkeit und Tatkraft.

Auch Bezirksrichter Michael Steiner in Brig anerkannte, «dass Anni Lanz aus rein humanitären Interessen gehandelt» hat. Uneigennützig. Er stufte ihre Tat deshalb nicht als Vergehen, sondern als Übertretung ein. Freisprechen aber wollte er sie nicht. Das Gericht verneinte, dass für den Afghanen wirklich «unmittelbare Lebensgefahr» bestanden habe. Zudem hätte Frau Lanz die «notwendige medizinische Betreuung» ja auch in Italien organisieren können.

Der emeritierte Basler Strafrechtsprofessor und langjährige Gerichtspräsident Peter Albrecht wundert sich über diese Argumentation, die in einem Communiqué des Bezirksgerichts festgehalten ist. Er hätte sich Straffreiheit für Anni Lanz gut vorstellen können. «Denn es genügt, dass jemand subjektiv und vielleicht sogar irrig der Ansicht ist, es liege ein Notstandssituation vor.»

Vielleicht ging es der Walliser Justiz um Abschreckung. Schon im Sommer hatte Rinaldo Arnold, Oberstaatsanwalt der Region Oberwallis, dem «Walliser Boten» über eine Zunahme der privaten Fluchthilfe geklagt. Gut ein Dutzend Anzeigen gebe es pro Jahr, Tendenz steigend. Aktivisten, aber auch Angehörige setzten sich vermehrt ins Auto und holten Migranten über die Grenze. Der «Walliser Bote» titelte giftig: «Wenn sich Gutmenschen strafbar machen».

«Nicht strafwürdig»

Wenn sich Gutmenschen strafbar machen, sind dann die Gesetze schlecht? Amnesty International Schweiz ist überzeugt davon. Anni Lanz wurde – wie der Neuenburger Pfarrer Norbert Valley und die Tessiner SP-Grossrätin Lisa Bosia Mirra – nach Artikel 116 des Ausländergesetzes verurteilt. «Der Artikel 116 ist heute so allgemein formuliert, dass er womöglich unterlassene Hilfeleistung fördert», sagt Muriel Trummer, Juristin bei Amnesty Schweiz. Dass die Schweiz jede Hilfe zur Einreise kriminalisiere, mache sie zu einem der strengsten Staaten Europas. Amnesty fordert eine Straffreiheitsklausel für Fluchthilfe aus humanitären Gründen und begrüsst eine entsprechende Initiative der Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone (Grüne).

Peter Albrecht unterstützt das Anliegen. «Es wäre zu begrüssen, wenn das Gesetz uneigennützige Hilfe explizit ausnehmen würde.» Denn Fälle wie der von Anni Lanz seien «nicht strafwürdig». An eine Signalwirkung glaubt er nicht, Konstellationen wie im Fall Lanz seien doch sehr selten. «Davon geht die Justiz nicht unter.»

Der ehemalige Zürcher Oberstaatsanwalt Andreas Brunner dagegen hält die heutigen Bestimmungen im Ausländergesetz für ausreichend. Wichtig sei, dass jeder Einzelfall geprüft werde. «Strafbefreiung und Strafminderung sind im Einzelfall schon heute gut möglich.» Man könne nicht «im Vornherein jeden für straffrei erklären», der aus humanitären Gründen Migranten illegal ins Land bringe. Das Urteil im Fall Lanz hält Brunner für «vertretbar».

In ihrem Magazin «Menschenrechte» stellt Amnesty Schweiz Anni Lanz in eine Reihe mit den Fluchthelfern des Zweiten Weltkriegs. Auch diese hätten Gesetze brechen müssen, um zu helfen. Lanz findet den Vergleich nicht ganz passend. «Die Leute damals haben viel mehr riskiert», es herrschte Krieg. Richtig aber sei, dass Leute wie Polizeihauptmann Paul Grüninger ihre Vorbilder seien. «In meiner Jugend wurde viel über die Fluchthelfer diskutiert.»

Die Rechte der Schwachen wurden ihr Lebensthema. Lanz ist in Basel aufgewachsen, bürgerlich, der Vater war Lehrer. Sie machte die Ausbildung zur Zeichenlehrerin, heiratete jung, wurde Hausfrau – und unglücklich. Sie ging studieren, Soziologie, kam zur Frauenbewegung, den Migranten. Wurde Wirtin in der Genossenschaftsbeiz Hirscheneck. Aktivistin. Ihr Mann, vor drei Jahren verstorben, habe sie immer unterstützt, der Vater auch.

Lanz besucht weiter Gefangene. Das sei belastend, aber: «Ich lasse mich nicht bedrücken.» Ihre Arbeit gebe ihrem Leben Sinn. Die Sorge, dass sie andere zum Gesetzesbruch inspirieren könnte, erheitert sie. Plötzlich setzen sich alle ins Auto und holen einen Flüchtling ab. «Das wäre toll.» Es wird nicht geschehen. Wir sind nicht alle Anni Lanz.
(https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/menschen-retten-ist-verboten/story/21335631)

Die Schweiz hat in einem Entscheid nach Eritrea auszuschaffen gegen die Anti-Folter-Konvention der UNO verstossen
In einem Urteil vom 7. Dezember 2018 entschied der UN-Ausschuss gegen Folter, dass die Abschiebung eines Geflüchteten nach Eritrea gegen die Anti-Folter-Konvention (CAT) der Vereinten Nationen verstösst. Der UN-Ausschuss fordert nun die Schweiz auf, den Fall unter Berücksichtigung der Risiken, denen die Person im Falle einer Abschiebung ausgesetzt wäre, erneut zu prüfen.
Angesichts dieser Entscheidung fordert das Migrant Solidarity Network die sofortige Einstellung aller Abschiebungsentscheidungen nach Eritrea.
https://migrant-solidarity-network.ch/2018/12/19/info-die-schweiz-hat-in-einem-entscheid-nach-eritrea-auszuschaffen-gegen-die-anti-folter-konvention-der-uno-verstossen/?fbclid=IwAR1yQW4bCZebQQL9yHJHayVfkg5xypWYVHCLf21uhTIBNQV4tU2YWR53JX0

+++FRANKREICH
Les « 7 de Briançon » ont été condamnés
« Où étiez-vous le 21 avril ? », demande la présidente. « J’étais au refuge de Clavière, répond Theo, 24 ans. Je faisais à manger et je barricadais les entrées, parce qu’on s’attendait à une attaque des Identitaires. » Ce jour-là, dans le Briançonnais, le petit monde du soutien aux migrants est sens dessus dessous : Génération identitaire, groupe d’extrême droite, vient de débarquer à la frontière franco-italienne. Son objectif ? Repousser les migrants tentant de franchir les cols enneigés, pour dénoncer « le laxisme des autorités ». Cela fait pourtant des mois que les bénévoles solidaires secourent des exilés en perdition dans la montagne, essayant d’échapper à la traque des forces de l’ordre.
https://renverse.co/Les-7-de-Briancon-ont-ete-condamnes-1841

+++SPANIEN
Retterin
Ein Handy und viel Mut: Das ist alles, was Helena Maleno gebraucht hat, um Hunderte von Leben in den letzten zehn Jahren zu retten. Keine Finanzierung, keine parlamentarische Initiative, keine öffentliche Aufmerksamkeit.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1108455.rettung-von-fluechtlingen-retterin.html

+++FREIRÄUME
Es weihnachtet sehr – die Stadt Luzern stellt eine WG mit Kind auf die Strasse
Die zehnköpfige Wohngemeinschaft mit Kind hat eigentlich bis Ende Jahr einen Mietvertrag. Da die Stadt Luzern die jungen Untermieter*innen am Murmattenweg in die Hausbesetzer*innen-Ecke stellt, hat sie den Vertrag gekündigt und will die WG mit fadenscheiniger Begründung über Nacht auf die Strasse stellen. Ein Augenschein vor Ort.
https://www.ajour-mag.ch/es-weihnachtet-sehr-wie-die-stadt-luzern-eine-wohngemeinschaftmit-kind-auf-die-strasse-stellt/

+++GASSE
Der Sternenmarkt strahlt am hellsten
Der neue Sternenmarkt auf der Kleinen Schanze lockt viel Publikum an. Die Konkurrenz spürt dies, will sich aber nicht beklagen.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/der-sternenmarkt-strahlt-am-hellsten/story/25183561

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Juso wollen gegen Trump aufmarschieren
Der Besuch des US-Präsidenten in der Schweiz ruft die Juso auf den Plan: Sie wollen heute bei der Polizei ein Demogesuch einreichen.
https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Juso-will-beim-WEF-gegen-Trump-demonstrieren-23770460
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/wef-gegner-hoffen-dank-donald-trump-auf-mehr-unterstuetzung-00101976//
-> https://www.derbund.ch/schweiz/standard/juso-reicht-gesuch-fuer-demo-am-wef-2019-ein/story/30503047

Abtreibungsgegner sind in der Zürcher Innenstadt nicht willkommen
Der «Marsch fürs Läbe» darf aus Sicherheitsgründen nicht im Zentrum der Stadt Zürich stattfinden. Die Organisatoren wittern einen Skandal – und erhalten bei ihrem Widerstand unerwartete Rückendeckung.
https://www.nzz.ch/zuerich/marsch-fuers-laebe-aus-der-zuercher-innenstadt-verbannt-ld.1446107
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/marsch-fuers-laebe-unerwartete-hilfe-gegen-innenstadt-verbot-133869460
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/region/zuerich-beschneidet-demonstrationsrecht-von-abtreibungsgegnern/story/18685219

21 Spraydosen und ein seltsames Protokoll
Eines Nachts treffen Polizisten beim Bahnhof Schwarzenburg auf vier Menschen und zwei Säcke mit Spraydosen. Was dann passiert, ist unklar.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/21-spraydosen-und-ein-seltsames-protokoll/story/15883070

Sprayer wurden zu Unrecht befragt
Weil die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland zwei Sprayern keinen Anwalt zur Verfügung stellte, müssen die Einvernahme-Protokolle aus den Akten genommen werden.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/sprayer-wurden-zu-unrecht-befragt/story/23143503
-> https://www.derbund.ch/bern/kanton/ruege-fuer-berner-staatsanwaltschaft/story/24624007
-> https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://06-12-2018-1B_418-2018&lang=de&zoom=&type=show_document
-> https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://06-12-2018-1B_422-2018&lang=de&zoom=&type=show_document

+++REPRESSION/G-20
Keine Rechtsgrundlage
Dürftige Anklagekonstruktion, fragwürdige Ermittlungsmethoden: Verteidiger stellen G-20-Verfahren in Hamburg grundsätzlich in Frage
https://www.jungewelt.de/artikel/345781.g-20-prozess-keine-rechtsgrundlage.html

+++MENSCHENRECHTE
Bericht der Schweiz zur Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen
An seiner Sitzung vom 19. Dezember 2018 hat der Bundesrat den Bericht verabschiedet, der die Massnahmen der Schweiz zur Umsetzung des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen erläutert. Unter anderem wurde ein nationales «Netzwerk» geschaffen, dass das Auffinden vermisster bzw. potentiell verschwundener Personen im Freiheitsentzug erleichtert. Bisher ist in der Schweiz allerdings kein Fall von Verschwindenlassen im Sinne des Übereinkommens bekannt. Der Umsetzungsbericht wir
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-73481.html

Kinderrechtskonvention: Bericht über weitere Massnahmen zur Umsetzung
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 19. Dezember 2018 einen Bericht darüber verabschiedet, wie in der Schweiz die Umsetzung der Kinderrechtskonvention der UNO verbessert werden soll. Damit nimmt der Bundesrat Empfehlungen auf, die der zuständige UNO-Ausschuss 2015 abgegeben hatte. Unter anderem will der Bundesrat überprüfen, ob heute in allen Kantonen Kinder und Erwachsene im Strafvollzug getrennt untergebracht werden.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-73468.html

+++POLICE BE
Regierungsratsantwort auf Interpellation (SP/AL) Fragen zu unabhängigen Untersuchungen von Polizeieinsätzen und der Strategiewahl bei Polizeieinsätzen
https://www.gr.be.ch/gr/de/index/geschaefte/geschaefte/suche/geschaeft.gid-6ebc0bf16e0b4ed288874bbbd061679e.html

+++POLIZEI LU
Kanton Luzern schickt Polizisten ans WEF nach Davos
Wenn vom 22. bis 26. Januar die internationale Prominenz aus Politik und Wirtschaft in Davos gastiert, wird sie auch von Luzerner Polizisten geschützt. Der Regierungsrat hat ein entsprechendes Gesuch gutgeheissen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/kanton-luzern-schickt-polizisten-ans-wef-nach-davos-ld.1079719

+++POLIZEI SH
Schiessanlage eröffnet – Training mit Lasern und Pistolen tief unter der Schaffhauser Erde
Der Kanton Schaffhausen erhält eine unterirdische Schiessanlage. Polizei und Grenzschutz sprechen von einem Meilenstein.
https://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/schiessanlage-eroeffnet-training-mit-lasern-und-pistolen-tief-unter-der-schaffhauser-erde
-> http://www.sh.ch/News.316.0.html?&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=3709&cHash=42c83216449a6a8e9e36f0b591248187

+++POLIZEI DE
Rechtsextreme in der Polizei: Weiterer Frankfurter Polizist stellt sich
Hessens Innenminister muss sich rechtfertigen: Warum informierte er nicht über extrem rechte Umtriebe in der Polizei? Der Skandal weitet sich unterdessen aus.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-12/rechtsextreme-polizei-frankfurt-innenminister/komplettansicht
-> https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismusverdacht-es-muss-an-jeder-stelle-geguckt.694.de.html?dram:article_id=436368
-> https://www.tagesschau.de/inland/polizeinetzwerk-103.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/heute/rechtsextreme-bei-frankfurter-polizei-100.html
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/rechtsextremes-netzwerk-weitere-suspendierung-wegen-rechtsextremer-chatgruppe/23779142.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1108430.rechtes-netzwerk-bei-frankfurter-polizei-gestoertes-verhaeltnis.html
-> http://www.spiegel.de/panorama/justiz/frankfurt-am-main-peter-beuth-verspricht-aufklaerung-in-polizeiskandal-a-1244649.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-und-wertkonservatives-denken-kriminologe-rechte.1769.de.html?dram:article_id=436452
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/nsu-2-0-frankfurter-polizeipraesident-aeussert-sich-zu-neonazi-verdacht/23780660.html
-> http://taz.de/Innenausschuss-zur-Polizeiaffaere/!5557881/

+++ANTIFA
Waffen unterm Weihnachtsbaum
Weil er mit seinem Onlineshop Migrantenschreck Waffen verschickt hatte, muss der Aktivist Mario R. ins Gefängnis. Im Prozess kam heraus: Das Startkapital hatte er von rechtsgerichteten Verlagen wie Compact und Kopp.
https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2018/12/19/waffen-unterm-weihnachtsbaum_27829

derbund 19.12.2018

«Wen lassen wir da eigentlich zu Wort kommen?»

Franziska Schutzbach untersucht die Rhetorik der Rechten. Wie extremistische Positionen als Meinungsvielfalt verkauft werden, erklärt die Sozialogin im Interview.

Andreas Tobler

Die Selbstbestimmungs­initiative wurde verworfen. Es scheint, als hätte die Schweiz das Gezwänge der Rechts­populisten satt. Warum braucht es Ihr Buch zur «Rhetorik der Rechten» gerade jetzt?

Die letzte Abstimmung hat deutlich gezeigt, welch gigantischer Aufwand nötig ist, um eine Ablehnung hinzubekommen. Wir haben uns als Gesellschaft also wieder an der Rhetorik der Rechtspopulisten abgearbeitet und Energie aufgewendet, die wir lieber in anderes investiert hätten. Eigentlich betreiben wir eine Politik der Schadenbegrenzung. Das bindet aus liberal-progressiver Perspektive nicht nur utopisches Potenzial, es werden auch Vorstösse normal, die sich gegen die Menschenrechtskonvention richten, wie zuletzt die Selbstbestimmungsinitiative.

Die Rechte dominiert in der Schweiz seit 25 Jahren. Eigentlich ist es ein Dilemma der Linken, dass sie es nicht schafft, eigene Themen zu setzen.

Sicher gibt es auch Versäumnisse auf der linken Seite. Aber der Rechtspopulismus ist eine echte Gefahr, da er inzwischen bis in die bürgerliche Mitte vorgedrungen ist. Vordergründig werden ­liberaldemokratische Werte wie Selbstbestimmung oder Meinungsvielfalt proklamiert, aber eigentlich wollen die Rechtspopulisten Positionen salonfähig machen, die in der politischen Umsetzung zur Eindämmung von Meinungsvielfalt und Pluralismus führen.

Wie kann die Proklamation von Meinungsfreiheit dazu führen, dass diese beschränkt wird?

Was bei den Rechtspopulisten als Bekenntnis zur Meinungsvielfalt daherkommt, meint oftmals einfach den Anspruch, die Wirklichkeit zu verzerren, falsche Fakten, Vorurteile und Pauschalisierungen formulieren zu dürfen. Dass man zum Beispiel sagen darf, alle Frauen, Muslime oder Schwulen seien so oder so. Es geht also darum, den Rahmen des Sagbaren zu erweitern, um so Menschen aus unserer Gesellschaft auszugrenzen. Eine andere Strategie, den Raum des Sagbaren zu erweitern, besteht darin, Inhalte des politischen Diskurses zu «veruneindeutigen».

Veruneindeutigen?

Frauke Petry sagte zum Beispiel, es gehe ihr nicht um rechts oder links. Damit wird behauptet, man stehe über dem Links-rechts-Schema. So erscheinen Rechtspopulisten als mittig, unideologisch und vernünftig. Als diejenigen, die angeblich jenseits von Extremen mit gesundem Menschenverstand agieren. Es wird auch gesagt, es gehe nicht ums Rechthaben, sondern um einen Beitrag zur Meinungsvielfalt. In der Forschung wird diese Strategie Äquidistanz genannt. Und auf diese Weise können auch Konservative oder Liberale sich diesen Positionen zuwenden, denn es ist ja nicht rechts, sondern Meinungsvielfalt. Rechtspopulismus schafft mit dieser Unschärfe erfolgreich Querverbindungen in die bürgerliche Mitte, macht überhaupt den extremistischen Kern vieler Positionen unkenntlich.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir Thilo Sarrazin, der menschliches Verhalten rassistisch auf genetische Dispositionen zurückführt. Wenn man ihn kritisiert, weil solche Ansichten gegen Diskriminierungsstandards verstossen, wird «Zensur!» geschrien. Liberaldemokratische Standards wie Antirassismus, Antidiskriminierung oder gar Grundrechte und Verfassungsaufträge werden so als angebliche Verbote inszeniert, gar als totalitär dargestellt, um Positionen à la Sarrazin nicht als extrem, sondern als Ausdruck von Freiheit wirken zu lassen. Kritik an solchen «Meinungen» wird bruchlos in die rechtspopulistische Weltdeutung integriert – als Beweis für Tabus, eingewoben in eine Rhetorik der «Selbstveropferung». Mit dem Gerede von «Tugendterror» werden zudem Feindbilder konstruiert, die von den eigentlichen Problemen ablenken sollen.

Was verstehen Sie unter «eigentlichen Problemen»?

Anstatt die wirklich wichtigen Probleme wie die Wohnungsmarktpolitik oder die Altersversorgung anzupacken, werden Feindbilder beschworen, die dann die Linke entkräften muss. Gedacht sind diese Feindbilder als Angebot an all jene, die mit dem gesellschaftlichen Wandel hadern: Sie erhalten die Möglichkeit, jemandem die Schuld zu geben für ihre Unsicherheit, ihre Arbeitslosigkeit oder Prekarisierung. Seien es Muslime, Feministinnen oder Transgender. In diesem Sinne ist auch der Kampf gegen die Political Correctness zu verstehen, der inzwischen vornehmlich von der bürgerlichen Mitte aus betrieben wird.

Es gibt auch Kritik an der Political Correctness von links.

Ich sage nicht, dass alle Linken nur Vernünftiges fordern. Es gibt überall Dogmatismus. Rechtspopulisten jubeln aber soziale Probleme pauschal Minderheiten unter, also dass nicht etwa Wohnungsnot oder Defizite in der Altersversorgung das Problem sind, sondern Minderheiten Schuld an schwierigen Verhältnissen tragen. Damit wird eine völlig verzerrte Sicht stark gemacht, in der Transmenschen angeblich die Familie bedrohen oder Feministinnen zur Gefahr für die Freiheit der Kunst stilisiert werden. Die Diskreditierung und Diabolisierung von Minderheiten funktioniert auch, indem man permanent auf die Maximalkonflikte und alltagsweltliche Maximaldifferenzen zielt.

Maximaldifferenzen?

Themen wie Zwangsverschleierung oder Zwangsehe. Mit dem Fokus auf das maximal Skandalöse und Spaltende wird suggeriert, es könne grundsätzlich keine Integration geben und auch keine Gemeinsamkeiten. Vermittelt wird damit der Eindruck, Minderheitenrechte und Antidiskriminierung stünden einer liberalen Gesellschaft entgegen. Als wären die Bekämpfung der islamistischen Radikalisierung und die Prinzipien des Minderheitenschutzes nicht unter einen Hut zu bringen.

Emotionalisierung und Skandalisierung sind aber auch etwas, das dafür genutzt wird, um auf echte Missstände hinzuweisen, etwa bei #MeToo.

Das ist so. Wenn ich über die AHV rede, dann hört mir niemand zu, wenn ich aber über #MeToo spreche, dann kommen alle. Für die Schweiz gibt es aber eine Analyse, die zeigt, dass den Rechten in den medialen Debatten deutlich mehr Redezeit eingeräumt wird als anderen. Das heisst, Medien reproduzieren eine Dominanz, die nicht unbedingt den realen Kräfteverhältnissen entspricht. Es wird dadurch der Eindruck erweckt, die Rechten würden eine Mehrheitsmeinung vertreten. Während über die vielen Kundgebungen und Plädoyers für eine offene und solidarische Gesellschaft viel seltener berichtet wird. Wir müssen uns also fragen: Wen lassen wir eigentlich die ganze Zeit zu Wort kommen?

Was wäre die Lösung? Die SVP nicht mehr in Talkshows einladen, weil sie wieder behaupten wird, für das Volk zu sprechen?

Auch bei der SVP gibt es gemässigte Stimmen, es müssen nicht immer die gleichen Hardliner eingeladen werden. Wichtiger ist aber die Frage, wie man als Medium ein Thema framen kann, damit es gar nicht der populistischen Logik entspricht, sondern auf differenzierte, schärfere Analyse hinausläuft. Ein solch anderer Blickwinkel wäre dringend nötig in einer Zeit, in der die Medienmacher an Quote und Klicks gemessen werden – und deshalb boulevardisierte Zugänge dominieren.

Wie würden Sie eine Diskussion über ein Reizthema wie Migration versachlichen?

Statt zu fragen, welche Gefahr sie für uns darstellt, könnte man den Beitrag der Migranten für unsere Gesellschaft ins Zentrum rücken. Man könnte zeigen, dass es unter anderem Studentinnen aus Russland waren, die sich für die Zulassung von Frauen an Schweizer Universitäten einsetzten. Oder dass der Ausbau der Kinderkrippen im Kontext der Gastarbeit vorangetrieben und dadurch die Fremdbetreuung von Kindern auch für Schweizer Frauen entstigmatisiert wurde. Beide Beispiele widersprechen dem Vorurteil, dass Migration nur rückständige Geschlechtervorstellungen bringt, die uns ins Mittelalter zurückkatapultieren.

Und die Probleme, die würden dann einfach verschwiegen?

Klar, man muss auch über Probleme sprechen. Aber wenn der positive Beitrag der Migration im Zentrum steht, müsste auch ein SVP-Vertreter ganz anders diskutieren. Und es könnten andere Stimmen gehört werden, etwa die der Migranten, die vielleicht leiser und schwerer zu verstehen sind, weil man sich richtig mit ihnen beschäftigen muss. Aber so verhält es sich mit dem meisten, was nicht populistisch ist.

Im Jahr 2016 schrieben Sie in Ihrem Blog: «Ich fürchte, es wird nicht funktionieren, die rechts­nationalen Kräfte auf formal-demokratischem Weg zurückzudrängen.» Sie fragten, was wäre, wenn man «diesen reaktionären Kräften sämtliche Legitimität, im Sinne eines Aktes zivilen Ungehorsams», abspräche?

Das war eine Polemik, die ich heute nicht mehr so schreiben würde, weil ich sie missverständlich und nicht ganz durchdacht finde. Es ging mir schon da nicht um eine juristische Delegitimierung. Gewählte Politiker sind als solche zu akzeptieren. Mir ging es darum, welchen kulturellen Rahmen wir schaffen können, in dem andere Positionen als die der Rechtspopulisten Legitimität – damit meine ich nicht juristische Legitimität, sondern ­Bedeutung und Wichtigkeit – erhalten. Auf diesen missver­ständ­lichen Sätzen wurde dann in einer Kampagne drei Monate lang rumgeritten, ein sehr fragwürdiges Vorgehen. Eben eine Kampagne, nicht Journalismus.

Soziologin und Feministin

Franziska Schutzbach, geboren 1978, lehrt an verschiedenen Universitäten. In ihrem Buch «Die Rhetorik der Rechten» beleuchtet sie zwanzig rhetorische Strategien der Rechtspopulisten – von der «Rhetorik der Angst» bis zur Wissenschaftsfeindlichkeit (Xanthippe, 143 S., ca. 19 Fr.). 2016 wurde sie für einen Blogeintrag unter anderem von der «Weltwoche» scharf angegriffen. (atob)
(https://www.derbund.ch/kultur/standard/Wenn-ich-ueber-MeToo-spreche-dann-kommen-alle/story/25321727)