Widerständiger Rückblick auf eine Woche voller Rassismus.
Was ist neu?
Lagerpolitik: Geflüchtete im Kanton Bern verlieren erneut an Bewegungsfreiheit
Der Kanton Bern führt für Geflüchtete mit Ausweis F oder N eine freiheitsberaubende Anwesenheitspflicht ein. Wer nicht mindestens fünf Nächte pro Woche im Asyllager schläft oder zwei Nächte am Stück auswärts schläft, verliert die Asylsozialhilfe von 9.50 Franken pro Tag. Zudem gelten die Personen als untergetaucht. Die betroffenen Personen werden dann vom Asylprozess ausgeschlossen und verlieren den Ausweis N oder F. Der Grund für den Entzug der Bewegungsfreiheit liegt laut dem Amt für Migration und Personenstand darin, dass nur so überprüft werden könne, welche Personen die Asylsozialhilfe tatsächlich benötigen. Denn “wenn Betroffene nur gelegentlich in den Unterkünften nächtigten, könne davon ausgegangen werden, dass sie nicht mehr vollumfänglich auf Asylsozialhilfe angewiesen seien.” Es geht also darum, die ohnehin schon prekäre finanzielle Situation von Asylsuchenden, die auf Asylsozialhilfe angewiesen sind, noch weiter zu verschärfen. Zudem sei es laut dem Amt eine nötige Methode, um die Ausgaben im Asylbereich herabzusetzen. An diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr die rassistische Prioritätensetzung der Migrationsbehörde, die finanzielle Einsparungen höher gewichtet als die Bewegungsfreiheit von tausenden von Menschen.
Asylbusiness: Das SEM vergibt die Leistungsaufträge für die Gratisanwält*innen in den Bundesasyllagern
Damit die institutionelle Linke die beschleunigten Asylverfahren in Bundeslagern als Erfolg abgesegnen konnten, musste ihnen ein Zückerli gegeben werden. Dieses Zückerli waren die kostenlosen Rechtsvertreter*innen, die Geflüchteten während des gesamten Verfahrens zur Seite gestellt werden. Nun hat das SEM entschieden, wer diese Mandate erfüllen wird. In zwei Asylregionen übernehmen dies die “Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not” und das “Schweizerische Arbeiterhilfswerk”, in ebenfalls zwei Regionen das “Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz” und in je einer Asylregion sind es “Caritas Schweiz” und die “Bietergemeinschaft Caritas Schweiz / SOS Ticino”. Pro geflüchtete Person gibt es eine Pauschale von 1356 Franken. Das reicht maximal aus, um die Kosten von etwa 6 Stunden Rechtsvertretung zu decken. Zudem sind die Beschwerdefristen viel zu kurz und die 6 Stunden Rechtsvertretung reichen nirgendwo hin. Die Möglichkeiten, sich gegen einen Entscheid zu wehren, werden von den Behörden also aktiv so eingeschränkt, dass der Rechtsweg stark erschwert wird.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-72541.html
Was ist aufgefallen?
Krieg gegen Geflüchtete: Schlechte psychische Verfassung und Suizidversuche bei vielen Geflüchteten
Eine Folge der rassistischen und menschenfeindlichen Politik der EU und der Schweiz ist die schlechte psychische Verfassung vieler Geflüchteter. Viele der Geflüchteten haben Folter und Polizeigewalt erlebt und werden in Lagern, wo es Polizist*innen und Soldat*innen gibt, aufs Neue mit diesen traumatischen Situationen konfrontiert. Hinzu kommt die Hoffnungslosigkeit. Bei manchen Geflüchteten lösen diese Bedingungen Halluzinationen und Verwirrtheit aus, bei vielen Geflüchteten Suizidgedanken oder -versuche.
Das Lager Moria in Lesbos ist ein tragisches Beispiel dafür: Jeden Tag betreut ein psychologisches Team 15 Geflüchtete am Tag, wobei es sich „nur“ um die „schweren Fälle“ handelt.
Auch in Ausschaffungslagern in der Schweiz sind Suizidversuche häufig. Zuletzt berichtete die Presse im Juni 2018, als sich eine 29-jährige Frau im Ausschaffungsgefängnis für Frauen in Basel selbst tötete, um einer Ausschaffung zu entgehen. Wie Augenauf berichtet, „erfährt die breite Öffentlichkeit davon nichts, wenn die Person überlebt und die Ausschaffung «erfolgreich» zum Abschluss gebracht werden kann.“
https://www.augenauf.ch/images/BulletinProv/Bulletin_98-Sept2018.pdf
Rassismus: Faschistoide Zustände in Italien
In Italien wird Rassismus offener und salonfähiger. Dunkelhäutige Menschen sind vermehrt Beschimpfungen und physischer Gewalt ausgesetzt. Angeführt wird diese rassistische Stimmung nicht zuletzt von Innenminister Salvini selbst, der Rassismus als „Erfindung der Linken“ beschimpft und einen zunehmend faschistischen Kurs führt. Diesen Sommer liess er die Häfen schliessen und kriminalisierte Seenotrettende. Weiter sollen nun Geschäfte, die Migrant*innen gehören, früher schliessen müssen. In dem Dorf Riace liess Salvini den Bürgermeister verhaften, verbot ihm die Rückkehr ins Dorf und liess die dort aufgenommenen Migrant*innen abtransportieren und überall in Italien in Lager verteilen. In Lodi bei Mailand liess die dortige Lega-Bürgermeisterin Kinder von Migrant*innen von öffentlichen Mensen verbannen, so dass diese getrennt von einheimischen Kindern essen mussten.
Rassismus: Migrant*innen werden in Europa hinundhergeschoben
Angeheizt wird das rassistische Klima in Europa von den EU-Despoten, die zunehmend Migrant*innen nach Italien abschieben. So haben die deutschen Behörden dieses Jahr (2018) drei Mal mehr Sammelabschiebungen durchgeführt als letztes Jahr (2017). 12 der 17 Sammelabschiebungen gingen nach Rom, was vermehrt zu Empörung bei italienischen Politiker*innen führte.
Ein besonders lächerlicher Fall erreichte diese Woche die Öffentlichkeit: Ein Wagen der französischen Gendarmerie überquerte die Grenze zu Italien, um Migrant*innen in Claviere (I) abzusetzen. Salvini bezeichnete es als „internationale Schande“. Mit diesem Verhalten lassen die EU-Behörden die Lage zuspitzen und heizen die miese, rassistische Stimmung in Europa weiter auf.
Die volle Absurdität dieser Abschiebungspraxen der europäischen und schweizer Behörden wird deutlich, wenn die Zahlen angeschaut werden: Lediglich 458 Personen schoben die deutschen Behörden im 2018 in diesen Sammelflügen ab, 250 davon nach Italien. Insgesamt wurden Im 2. Quartal 2422 Migrant*innen von Deutschland in Dublin-Staaten ausgeschafft; von der Schweiz in Dublin-Staaten waren es lediglich 469 Migrant*innen. In Anbetracht, dass weltweit noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie jetzt (68,5 Millionen), erscheint das europäische Umherschieben von Menschen als schlechter Witz.
Die rassistische europäische und schweizerische Abschiebe- und Abschottungspolitik hat katastrophale Folgen für Migrant*innen. Zum ersten Mal übertrifft 2018 die Zahl der Migrant*innen, die von der libyschen Küstenwache in die Aufnahmelager zurückgebracht wurden, die Zahl derer, die Italien erreicht haben.
https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-abschiebungen-101.html
https://ffm-online.org/libyen-mehrzahl-der-boat-people-zurueck-in-die-auffanglager/
Zwangsausschaffungen nach Afghanistan: Verbrechen an den Schwächsten
Obwohl die Sicherheitslage in Afghanistan desaströs ist, werden immer wieder Menschen aus Europa nach Afghanistan zwangsausgeschafft. Darunter befinden sich auch immer wieder Kinder und Jugendliche. Eine NGO hat nun in ihrem Bericht „Rückkehr ins Ungewisse“ 57 Kinder und Jugendliche befragt, welche von Europa nach Afghanistan ausgeschafft wurden. Die Minderjährigen haben nach ihrer Ankunft in Afghanistan oft kaum Perspektiven und sind von Gewalt bedroht:
- 39 von 57 Kindern und Jugendlichen fühlten sich nach ihrer Rückkehr nicht sicher.
- Zehn Jugendliche wurden allein nach Afghanistan zurückgeschickt. Nur einer davon sagte, die europäischen Behörden hätten vor der Abschiebung seine Angehörigen dort kontaktiert.
- Zehn Kinder sagten, jemand habe nach ihrer Rückkehr versucht, sie für den bewaffneten Kampf, Gewalttaten oder ein anderweitiges Engagement in militanten Gruppen zu gewinnen.
- Vor der Abschiebung gingen 45 der Kinder zur Schule, zurück in Afghanistan waren es nur noch 16.
- Fünf der Befragten hatten keinerlei Ausweise und Dokumente, was den Schulbesuch oder die Suche nach einem Arbeitsplatz problematisch macht.
- Acht der befragten Kinder und Jugendliche waren noch nie in Afghanistan, weil sie in Iran oder Pakistan geboren wurden.
- Drei Viertel der Minderjährigen erklärten, aus Angst und aus Mangel an Perspektiven erneut flüchten zu wollen.
Die Studie zeigt einmal mehr, die schlimmen Folgen von Zwangsausschaffungen.
Was nun?
Struktureller Rassismus: Bauarbeiten für Bundeslager in Deitingen (SO) beginnen.
Neben dem regulären Gefängnis im Deitinger Schachen beginnt ab November der Bau eines Bundeslagers. Das Bundeslager soll im Herbst 2019 seinen Betrieb aufnehmen und wird mit max. 250 Plätzen mehr als doppelt so viele Insass*innen beherbergen wie der Knast nebenan. Als eigentliches “Ausreisezentrum” wird das Lager Personen für jeweils 140 Tage aufnehmen, deren Asylanträge abgelehnt worden sind und die somit möglichst bald die Schweiz verlassen müssten.
Wo gab’s Widerstand?
Streik: In Genf legten rund 2500 Bauarbeiter*innen ihre Arbeit nieder
Um gegen die unverantwortlichen Forderungen der Baumeister*innen zu protestieren, wehren sich die mehrheitlich migrantischen Bauarbeiter*innen im Kanton Genf mit Streik. Die Baumeister*innen versuchen die Bauarbeiter*innen mit unhaltbaren Forderungen zu erpressen. Nun wollen sie sogar den Mindestlohn aushebeln. Der Streik verlangt eine Beschränkung der heute schon überlangen Arbeitstage, um die Gesundheit zu schützen.
https://www.unia.ch/de/aktuell/aktuell/artikel/a/15291/
Struktureller Rassimus: Kriminalisierung der Hilfe für Migrant*innen
In Chelmsford in England stehen 15 Aktivist*innen wegen Landfriedensbruch und wegen Terror vor Gericht. Die 15 Aktivist*innen hatten 2017 eine Massenabschiebung mit einer gewaltfreien Aktion blockiert.
Brisant an dem Fall ist, dass die Aktivist*innen auch wegen “Terror” angeklagt sind und deshalb sogar mit lebenslanger Haft rechnen müssen. Diese Tatsache zeigt, dass die Anklage politisch motiviert ist, denn bei einer ähnlichen Aktion von Umweltaktivist*innen am Flughafen Heathrow im Jahr 2015 wurde diese Anklagemöglichkeit nicht benutzt, und die Strafe beschränkte sich auf sechs Wochen auf Bewährung.
Dieser Gerichtsfall zeigt, wie Menschen in Europa, die in Solidarität mit Migrant*innen handeln, zunehmend kriminalisiert und immer härter bestraft werden.
In der Schweiz wurden 2017 785 Erwachsene wegen Beihilfe zu illegalem Aufenthalt oder illegaler Ein-/Ausreise verurteilt. Da die schweizerische Gesetzgebung nicht zwischen Beweggründen der Solidarität oder der Bereicherung unterscheidet, kriminalisiert sie jede ehrenamtliche Hilfe bei der Einreise oder dem Aufenthalt von Migrant*innen und sie entfernt sich von der Position der UNO, die eindeutig dazu auffordert, die Schleuser*innen zu bestrafen und nicht diejenigen Personen, die sich aus humanitären Gründen für die Migrant*innen einsetzen. Die Schweiz gehört zu den Staaten, die in dieser Sache am strengsten und unnachgiebigsten vorgehen.
Hinzu kommt, dass auch politischer WIderstand in der Schweiz in Zukunft härter bestraft werden soll, nämlich mit Landfriedensbruch. Dieser wird von den schweizer Behörden meist dann herangezogen, wenn Demonstrierende bestraft werden sollen, ohne dass eine Straftat bewiesen werden kann. Der Ständerat will das Strafmass so erhöhen, dass es höher liegt als bei der fahrlässigen Tötung. Damit soll jeder Widerstand gegen die miese, menschenverachtende Politik die momentan im Aufwind ist, im Keim erstickt werden.
http://taz.de/Britische-Fluechtlingsaktivisten-vor-Gericht/!5543754/
https://www.fluechtlingshilfe.ch/fakten-statt-mythen/beitraege-2018/ist-solidaritaet-ein-delikt.html
Was steht an?
Planungssitzung für Demo gegen Ausschaffungen in Bern
20. Oktober | 13 Uhr | Güterstrasse 8 (2. Stock) | Bern
Aufruf: “Liebe Kompliz*innen, liebe solidarische Menschen und Gruppen. Ihr seid euch sicher über die verheerenden Zustände in der schweizer und europäischen Asylpolitik bewusst. Wir vom Migrant Solidarity Network haben uns in den letzten Monaten stark mit Ausschaffungen auseinandergesetzt und beschlossen, eine grosse Demo zu organisieren. Wir erachten folgende Themen als besonders kritisch:
– Traumatisierende Gewalt während Ausschaffungen
– Ausschaffungsdeals im kolonialen Stil
– In der Administrativhaft eingesperrt oder in der „Nothilfe“ zermürbt”
Antifa-Rally 2018
Aufruf: “Nach einer erfolgreichen Vernetzung schweizweiter antifaschistischer Gruppen und Organisationen starten wir in diesem Jahr erneut eine Antifa-Rally um unsere Kontakte und unsere Kräfte zu einer schweizweiten Front zu konsolidieren.”
https://barrikade.info/Antifa-Rally-2018-1503
Kundgebung gegen die extreme Rechte in Brasilien #elenão
20. Oktober | Place de la Palud | 14 Uhr | Lausanne
Aufruf: “Im ersten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen hat der rechtsextreme Jair Bolsonaro 46,03% der Stimmen erhalten. Dagegen müssen wir vorgehen!”
https://www.facebook.com/events/280667906109019/
Hörens -/Sehens -/Lesenswertes
TED-Talk von Chimamanda Adichie (18.43’)
Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie spricht in diesem Vortrag darüber, was passiert, wenn wir komplexe kulturelle Zusammenhänge zu einem einzigen Narrativ verkürzen, wie dies oft im Zusammenhang mit “Afrikaner*innen” gemacht wird, welche in westlichen Medien stets als bemitleidenswerte, verhungernde Opfer dargestellt werden. Sehr sehenswert.
https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=de#t-191870
Interview mit dem Psychologen Carl Hart über die amerikanische Drogenpolitik und den strukturellen Rassismus der dahinter steckt:
Interview mit einem Geflüchteten aus Eritrea zur Situation für Zurückkehrende. “Die Situation ist nicht stabil. Es gibt keine Anzeichen, dass das Regime sich von seiner brutalen Linie abwendet.”