antira-Wochenschau: Geplanter Anschlag von Chemnitz-Nazis, (Post-) Koloniale Schweiz, Administrativhaft

Was ist neu?

Grenzregime: Frontex will Zusammenarbeit mit libyscher “Küstenwache” intensivieren
Um die EU noch stärker abzuschotten, soll die sogenannte libysche Küstenwache Aufklärungsdaten von Frontex erhalten, um Geflüchtete bereits in den libyschen Küstengewässern abzufangen und zurück nach Libyen zu schleppen. Die Daten könnten unter anderem von Langstreckendrohnen stammen, mit welchen Frontex seit Montag (01.10.2018) das Mittelmeer überwacht. Da bislang keine zuverlässige Infrastruktur für die Kommunikation mit Libyen besteht, richtet das italienische Innenministerium für 46 Millionen Euro zwei Zentren für Sicherheitsbehörden in Tripolis ein. Während die Kooperation mit Libyen technisch und organisatorisch vorangetrieben wird, kriminalisieren die EU-Mitgliedstaaten die zivile Seenotrettung.
https://ffm-online.org/umkaempftes-mittelmeer/


Krieg gegen Geflüchtete: Ausgelagerte Auffanglager bei EU-Nachbarstaaten abgeblitzt
Damit Migrant*innen gar nicht erst über das Mittelmeer nach Europa reisen können, will die EU in Nordafrika, an ihren Aussengrenzen, Auffang-Lager errichten. Marokko und Ägypten haben nun öffentlich angekündigt, keine Migrant*innen-Lager errichten zu lassen und machen der EU damit einen Strich durch die Rechnung. Zuvor hatten bereits Albanien und Mazedonien solche Zentren abgelehnt.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/marokko-und-aegypten-lehnen-asylzentren-kategorisch-ab-a-1231386.html
http://derstandard.at/2000088566324/Marokko-lehnt-Asylzentren-kategorisch-ab
https://ffm-online.org/aegypten-lehnt-eu-wunsch-nach-sammellager-fuer-migranten-ab/

Kriminalisierte Solidarität mit Geflüchteten:
Domenico Lucano, der Bürgermeister des calabresischen Dorfes Riace, wurde verhaftet. Ihm wird Beihilfe zur illegalen Einwanderung und das Arrangieren von Scheinehen vorgeworfen. Lucano ist seit 20 Jahren für seine Solidarität mit Migrant*innen bekannt: Von den 2300 Einwohner*innen in Riace sind 600 Migrant*innen. Die Festnahme Lucanos ist ein weiterer Beweis dafür, dass Italien unter der neuen Regierung immer autoritärer wird und weiter nach rechts rückt. So hat bspw. die Anzahl von rassistisch motivierten Übergriffen auf Migrant*innen zugenommen.
Auch in der Schweiz wird Solidarität mit Migrant*innen kriminalisiert. So hat bspw. der evangelische Pfarrer Norbert Valley einen Strafbefehl erhalten, weil er einem abgewiesenen Asylbewerber Unterschlupf bot. Valley wehrt sich gegen dieses Verdikt, wenn nötig bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
https://www.derbund.ch/ausland/europa/revolutionaerer-buergermeister-in-sueditalien-festgenommen/story/21171943
https://www.tagblatt.ch/schweiz/pfarrer-kampft-fur-legale-nachstenliebe-ld.1057957

 

Was ist aufgefallen?

Rechtsterrorismus: ‘Revolution Chemnitz’ planten Anschlag und besorgten Waffen
Die Polizei hat sechs Rechtsterrorist*innen festgenommen. Sie scheinen am Tag der Deutschen Einheit einen Anschlag gegen Migrant*innen und politisch Andersdenkende fgeplant zu haben. Die Beschuldigten sollen sich bereits darum bemüht haben, sich halbautomatische Schusswaffen zu besorgen. Fünf von ihnen haben am 14. September bewaffnet mit Glasflaschen, Quarzhandschuhen und einem Elektroimpulsgerät mit weiteren gewaltbereiten Rechtsextremen auf der Schlossteichinsel in Chemnitz mehrere Migrant*innen angegriffen und verletzt.
Die Gruppierung ‘Revolution Chemnitz’ steht nicht allein. Die terrorgeneigte rechtsextremistische Szene in Deutschland hat sich neu aufgestellt, das Konzept der Gewalt jedoch gleicht dem der 1990er Jahre. Der von »Combat 18« vertretene führerlose Widerstand ist wie zu Zeiten, in denen die NSU-Zelle mordete, erprobt und probat. Auch die heutigen Akteur*innen haben sich Waffen und Material zum Töten verschafft, sie trainieren wie ehedem für den aus ihrer Sicht »rassischen Endsieg«.
Anders als zu NSU-Zeiten haben sie nun jedoch eine verbale und legale, weil demokratisch legitimierte Vertretung im Rücken. Sie bauen auf Bewegungen wie Pegida und Parteien wie »Pro Chemnitz«,  sowie auf immer größer werdende Teile der AfD. Bedenklich ist auch, dass Teile der Polizei, der Justiz und des Verfassungsschutzes zu wenig aus ihrem NSU-Versagen gelernt haben. Der rechtsextremistische Virus scheint inzwischen weit in Behörden und – siehe Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen – in deren Chef*innenetagen vorgedrungen zu sein.
https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Terrorermittlungen-gegen-selbsternannte-Chemnitzer-Buergerwehr-/story/25642777
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1102178.nach-dem-nsu-das-szenario-ist-bekannt.html

(Post-) koloniale Schweiz
In den Nachwehen der basler Fasnachts-Ärgernisse und in Anbetracht der grossen Anzahl Schweizer*innen, die sich weigern wollen, auf rassistische Begriffe und Praktiken zu verzichten, sollten wir uns immer wieder an die koloniale Geschichte der Schweiz erinnern. Diese setzt(e) sich aus vielen einzelnen Akteur*innen zusammen – so wie beispielsweise dem St. Galler Kaufmann Jakob Laurenz Gsell, der Gründer der Helvetia-Versicherung, der im 19. Jahrhundert durch Kaffee- und Sklav*innenhandel reich wurde. Gsell war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Historischen Schätzungen zufolge waren Schweizer*innen von 1773 bis 1830 an der Deportation von rund 20’000 Sklav*innen beteiligt. Rechnet man Investitionen in Kolonialgesellschäften dazu, waren Schweizer*innen an der Deportation von rund 172’000 Sklav*innen beteiligt, rund 1,5 Prozent des transatlantischen Handels. Die Verwicklungen waren vielfältig: von der Finanzierung des Dreieckhandels über die Verwaltung von Plantagen bis zum Besitz von Sklav*innen und der Niederschlagung ihrer Aufstände.
Von Gsells Villa ist heute nur noch ein Tor übrig: Eines der vielen stillen Zeugnisse der Sklaverei und der kolonialen Schweiz.
https://www.republik.ch/2018/10/01/ein-stilles-zeugnis-der-sklaverei?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=republik%2Fnewsletter-editorial-zug-langesicht-audio-ameise
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1799-3/postkoloniale-schweiz/


Krieg gegen Geflüchtete: Tödliche Folgen der europäischen Grenzpolitik

Insgesamt haben im September 2018 1.226 Personen die libysche Küste auf Booten Richtung Europa verlassen. Davon sind 125 Personen in Europa angekommen, 867 wurden zurück nach Libyen verschleppt und 234 sind gestorben oder gelten als vermisst. Im Vergleich zum selben Zeitraum in den Vorjahren ist der Anteil der Personen, welche im Mittelmeer aufgegriffen und nach Libyen zurückgeschleppt wurde, stark angestiegen. 2016 waren es 6.9%, ein Jahr später 28.6% und dieses Jahr 70.7%. Auch er Anteil der Toten/Vermissten ist stark angestiegen: 2016 betrug dieser 2%, 2017 1,6% und dieses Jahr 19.1%. Von 10 Personen, welche die libysche Küste verlassen, schafft es also eine Person nach Europa, 7 werden zurück nach Libyen geschleppt und 2 sterben. Die europäische Politik, welche auf Abschottung, Kriminalisierung der Seenotrettung und eine stärkere Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache setzt, erhöht somit die Lebensgefahr für Personen auf dem Mittelmeer enorm.
https://www.heise.de/tp/features/Mittelmeer-Ohne-NGO-Rettungsschiffe-steigt-das-Risiko-4179973.html


Administrativhaft: Gewalt, welche Menschen mit schweizer Pass nicht trifft
Die Administrativhaft ist eine einzigartige Form staatlicher Gewalt, die sich gezielt gegen abgewiesene Geflüchtete richtet. Der Bund gibt dafür jedes Jahr 20 Millionen Franken aus. Mit der Beschleunigung der Asylverfahren werden die Ausgaben steigen, weil der Bund neue Administrativhaftanstalten subventionieren will. Zwischen 2011 und 2014 kamen 12’227 der gesamthaft 61’677 Geflüchteten mit einem negativen Asylentscheide in Administrativhaft. Um erfolgreich abschieben zu können, schrecken die Behörden auch nicht davor zurück, Kinder und Jugendliche in Ausschaffungshaft zu nehmen: Zwischen 2015 und 2017 waren es insgesamt 83 minderjährige Geflüchtete. Die jugendlichen Geflüchteten über 15 Jahren sassen durchschnittlich 22 Tage.
Administrativhaft ist nicht die einzige Gewaltform, die abgewiesene Asylsuchende dazu bewegen soll, unterzutauchen oder auszureisen. Die Behörden können sie auch dazu verpflichten, sich regelmässig bei ihnen zu melden, Geld oder Reisedokumente zu hinterlegen, ein Gebiet nicht zu verlassen (Eingrenzung) oder nicht zu betreten (Ausgrenzung). Für die Anordnung solcher Gewalt braucht es keine grossen richterlichen Entscheide.
https://www.parlament.ch/centers/documents/de/bericht-pvk-admin-haft-asylbereich-2017-11-01-d.pdf
https://biblio.parlament.ch/e-docs/370654.pdf
https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/aktuell/gesetzgebung/aend_asylg_neustruktur/paket-3/vorentw-vvwal-d.pdf

Arbeit: Bundesrat bestimmt die Grösse der migrantischen Reservearmee an spezialisierten Arbeitenden
Migration in die Schweiz ist nach dem sogenannten Zwei-Kreise-Modell geregelt. Dieses sieht eine rassistische Ungleichbehandlung zwischen europäischen und nicht-europäischen Menschen vor. Während die ersteren freien Zugang zur Schweiz erhalten, falls sie eine Arbeit finden, bleibt die Schweiz den zweiten verwehrt, auch wenn sie Arbeit finden würden. Für qualifizierte Spezialist*innen gilt diese Regel allerdings nicht. Jedes Jahr bestimmt der Bundesrat ein Kontingent an nicht-europäischen spezialisierten Arbeitskräften, welche eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung erhalten. So sollen im kommenden Jahr 8’500 Spezialist*innen aus sogenannten Drittstaaten Aufenthaltsbewilligungen B (4’500) und Kurzaufenthaltsbewilligungen (4’000) erhalten. Diese Ausnahmeregel zeigt gut, wie es den Kapitalist*innen gelingt, die Migration zu ihren Gunsten zu nutzen. Migrant*innen sind für sie eine Manövriermasse, mit der die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt erhöht werden kann.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-72364.html

Was nun?

Buchprojekt: Schwarze Frauen in Biel
Fork Burke, Myriam Diarra und Franziska Schutzbach sammeln Geld, um ein Buch über die Geschichte Schwarzer Frauen in Biel herauszugeben. Damit soll ein Stück ’Black History’ in der Schweiz geschrieben werden. Dokumentiert werden die Biografien, das Alltagsleben und das Schaffen, Wirken und Denken von Frauen, die in der Schweiz sonst kaum gehört werden. Falls ihr Geld übrig habt, um das Projekt zu unterstützen, könnte ihr das hier machen:
https://wemakeit.com/projects/black-women-in-biel

Was steht an?

Antira-Cup Aarau Sanierungsfest  | SAMSTAG, 6. OKTOBER 2018
Der antirassistische Fussballcup ist zurück in Aarau! Dieses Jahr gibt es keinen klassischen Antira-Cup, denn den Mangel an Freiräumen bekommt auch der Antira-Cup Aarau zu spüren! Weil es in der Stadt Aarau, nicht nur dieses Jahr, an verfügbaren Fussballplätzen und Freiräumen mangelt, schafft das Antira-Cup-Sanierungsfest ein nicht-kommerzielles Fest für Alle*.
https://barrikade.info/Antira-Cup-Aarau-Sanierungsfest-1429

Erinnern heisst kämpfen – Für eine solidarische Zukunft
November, 9. 2018 | 19:30 Uhr | Bahnhofsplatz | Bern. Aufruftext: “Am 9. November 2018 jährt sich zum 80. Mal die Reichspogromnacht von 1938. Deshalb gehen wir am 9. November auf die Strassen Berns und gedenken allen Opfern des NS-Regimes. Nie wieder wollen wir solche Ereignisse tatenlos akzeptieren. Wenn wir uns umblicken, sehen wir eine Welt, die nicht nur zum Nachdenken auffordert, sondern zum Handeln.
Um 20:00 Uhr werden wir unseren Protest lautstark, bunt und inhaltsbezogen auf die Strasse tragen. Nehmt Familie und Freund*innen mit, lasst Böller und Pyros zu Hause.
https://barrikade.info/Demo-Erinnern-heisst-kampfen-fur-eine-solidarische-Zukunft-1457

Demo in Basel am 13.10.18 – Solidarität statt Ausgrenzung
Aufruf: “Für eine offene und solidarische Gesellschaft, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind. Gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze. Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*-Feindlichkeit entschieden entgegen.”
https://barrikade.info/Demo-in-Basel-am-13-10-18-Solidaritat-statt-Ausgrenzung-1440

Demo gegen das Patriarchat!
Aufruf:  “Am 27.10.18 um 21 Uhr, Münsterplatz, Bern! Gemeinsam auf die Strasse gegen Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus und Staat!! (Ohne Cis-Männer, Infos zur solidarischen Mitbeteiligung folgen auf barrikade.info)”


Wo gab’s Widerstand?
In Hamburg haben sich am Sonntagabend Tausende Menschen an einer friedlichen Großdemonstration gegen Rassismus unter dem Motto „United against Racism“ beteiligt. Mit 30.000 Menschen die sicherlich grösste antira-Demo, die Deutschland in dieser gemischten Zusammensetzung je gesehen hat.
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Tausende-Menschen-bei-Anti-Rassismus-Demo-in-Hamburg,demo2424.html

 

200 Anzeigen gegen homophoben PNOS-Hetzer
Über 200 Personen haben sich innert kürzester Zeit der Sammelstrafanzeige von Pink Cross gegen den PNOS-Funktionär Florian Signer angeschlossen. In einem Webartikel hatte dieser eine „Heilung“ von Homosexuellen, russische Verhältnisse oder eine „Homo-Steuer“ gefordert. Die grosse Zahl der Anzeigenden zeigt, dass die Ergänzung der Anti-Rassismusstrafnorm um den Strafbestand der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung  – welche am letzten Dienstag im Nationalrat angenommen wurde – dringend notwendig ist.
https://www.pinkcross.ch/news/2018/pink-cross-reicht-sammelstrafanzeige-gegen-homophoben-hetzer-mit-ueber-200-anzeigenden-ein

Demo: „Move for Live“
In Bern gingen am Samstag 1000 Personen auf den Bundesplatz. Sie demonstrierten für sichere Fluchtrouten und gegen die Kriminalisierung der Such- und Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer. Es ist die zweite grössere Mobilisierung die in der Schweiz versucht, an die vor allem in Deutschland erfolgreiche Kampagne Seebrücke anzuschliessen. Aufgerufen hatte ein Bündnis aus Aktivist*innen und Hilfsorganisationen.
https://www.blick.ch/news/schweiz/fluechtlinge-move-for-live-demonstration-fuer-seerettung-id8917829.html

 

Hörens -/Sehens -/Lesenswertes

Das Kollektiv „Wir alle sind Bern“ setzt sich für eine solidarische Stadt Bern ein, in der nicht die Herkunft, sondern der Lebensmittelpunkt und die gemeinsame Zukunft im Zentrum stehen. Ein Instrument für eine solche Stadt ist die City Card. Die City Card soll für alle Bewohner*innen sein: als Ausweismöglichkeit gegenüber Behörden, als Zugang zu öffentlichen und privaten Leistungen, als Symbol für eine solidarische Stadt. In verschiedenen Städten in den USA ist die City Card bereits Realität, in Bern wird die Idee diskutiert.
https://rabe.ch/2018/10/03/city-card-ein-ausweis-fuer-alle/

augenauf-Bulletin Nr. 98 Sept 2018
https://www.augenauf.ch/images/BulletinProv/Bulletin_98-Sept2018.pdf