Medienspiegel 23. September 2018

+++ITALIEN
Italien: Zunehmende rassistische Gewalt
Fast täglich berichten italienische Medien über Angriffe auf Migranten. Kamen solche Übergriffe früher eher im Norden vor, häufen sich die Fälle inzwischen auch in den anderen Landesteilen. | mehr
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europamagazin/sendung/italien-rassismus-100.html

+++MITTELMEER
Seenotrettung: Panama will Rettungsschiff “Aquarius” Flagge entziehen
Die Schifffahrtsbehörde Panamas plant, die Registrierung des Rettungsschiffs “Aquarius” aufzuheben. Grund seien Beschwerden aus Italien über den Umgang mit Migranten.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/seenotrettung-aquarius-panama
-> http://www.spiegel.de/politik/ausland/aquarius-panama-will-fluechtlings-rettungsschiff-flagge-entziehen-a-1229606.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1101281.seenotrettung-im-mittelmeer-streit-ueber-rueckfuehrungen-nach-libyen.html

“Aquarius” verlässt mit 58 Geretteten die libysche Zone
Die Küstenwache hatte das Schiff nach einer weiteren Rettung zum Verlassen aufgefordert – In welchem Hafen sie anlegen wird ist unklar
http://derstandard.at/2000087910337/Aquarius-verlaesst-mit-58-Geretteten-die-libysche-Zone

+++EUROPA
Der europäische Grenzgeheimdienst
Mit EUROSUR verfügt die EU-Kommission über ein mächtiges Grenzüberwachungssystem. Es führt Aufklärungsdaten von Flugzeugen, Drohnen und bald auch Fesselballons zusammen. Aufgrund der Bilder entscheidet ein Frontex-Referat dann über weitere Maßnahmen im „Grenzvorbereich“.
https://netzpolitik.org/2018/der-europaeische-grenzgeheimdienst/

+++AFRIKA
Normalfall Migration
Der allergrößte Teil der Afrikaner, die ihr Land verlassen, bleibt auf dem Kontinent. In der hiesigen Flüchtlingsdebatte spielt das keine Rolle. Derweil kursieren Pläne von Kapitalseite, wie mit Investitionen Arbeitsplätze vor Ort geschaffen werden sollen
https://www.jungewelt.de/artikel/340420.afrika-normalfall-migration.html

+++FREIRÄUME
«Aktion der Reitschule» – Mit Farbe gegen Polizeipräsenz
Ein Video der Revolutionären Jugend Gruppe Bern zeigt, wie Junge zur Farbe greifen, um sich gegen die Polizei aufzulehnen. Diese ermittelt bereits.
https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Mit-Farbe-gegen-Polizeipraesenz-31719247
-> https://www.telebaern.tv/118-show-news/28010-episode-sonntag-23-september-2018#rote-linie-bei-der-reitschule

“Für mehr polizeifreie Räume!” Aktion bei der Reitschule
In der Nacht vom 22.09 auf den 23.09 haben wir uns kollektiv den Raum Schützenmatte und Umgebung angeeignet. Die Aktion richtet sich klar gegen die erhöhte Polizeipräsenz und soll als eine Antwort auf die Polizeigewalt vom 1. September verstanden werden.
https://barrikade.info/Fur-mehr-polizeifreie-Raume-Aktion-bei-der-Reitschule-1438

+++GASSE
Surprise organisiert Stadtrundgänge zum Thema Frauenarmut
Vier Surprise-Stadtführerinnen zeigen auf Touren durch Basel, Bern und Zürich was es für Frauen bedeutet, aus dem sozialen Netz zu fallen.
https://www.nau.ch/surprise-organisiert-stadtrundgange-zum-thema-frauenarmut-65417397

Mobile Veterinäre (ab 03:53)
Ein Tierarzt hilft sozial benachteiligten Tierhaltern, damit ihre Haustiere behandelt werden können.
https://www.telem1.ch/52-show-tierisch/27924-episode-mobile-veterinaere-tiefenentspannung-fuer-tiere

+++POLICE VD
Ce n’est pas la drogue mais la violence de la police qui a tué Mike.
Le 28 février 2018, Mike Ben Peter perd la vie entre les mains de la police lausannoise. Le 17 septembre 2018, l’avocat de la famille, ainsi que les avocats des agents incriminés jusque-là pour homicide par négligence, parlent dans la presse des résultats du rapport d’autopsie complet qu’ils viennent de recevoir. La thèse de l’overdose de cocaïne, retenue par beaucoup pour expliquer la mort de Mike, est définitivement écartée : aucune trace de cocaïne n’a été trouvée dans son corps.
https://renverse.co/Ce-n-est-pas-la-drogue-mais-la-violence-de-la-police-qui-a-tue-Mike-1723

+++ANTIFA
(Es ist wohl zu befürchten, dass noch mehr so Querfront-Typen auftauchen…)
«Es ist alles so einfach»
Der Historiker Daniele Ganser ist in Bern an der ersten Kundgebung des Vereins Friedenskraft aufgetreten. Was er sagte – und was er nicht sagte: eine Demo-Nachlese.
https://www.derbund.ch/bern/kanton/es-ist-alles-so-einfach/story/14477509

Leak: Extreme Rechte kämpft um europäischen Menschenrechtspreis
Die extreme Rechte will einen anerkannten Preis gewinnen, setzt dabei auf die Mär vom weissen Genozid und verdreht die Apartheid.
https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Leak-Extreme-Rechte-kampft-um-europaischen-Menschenrechtspreis

Deutschland im Sog der Rechten: Das Fanal von Chemnitz
Ein Monat nach den Ausschreitungen wird klar: Chemnitz markiert eine Zeitenwende, das politische Koordinatensystem in Deutschland verschiebt sich. Eine Analyse von SonntagsBlick-Redaktor Fabian Eberhard.
https://www.blick.ch/news/ausland/deutschland-im-sog-der-rechten-das-fanal-von-chemnitz-id8889134.html

Rechtsextreme Gewalt: Warum Chemnitz nicht der Hambacher Forst ist
Wieso muss jemand in Zeiten von Chemnitz und Köthen vor linksextremer Gewalt warnen? Es liegt an der schrägen Idee vom Hufeisen. Eine Replik auf Eckhard Jesse.
https://www.tagesspiegel.de/politik/rechtsextreme-gewalt-warum-chemnitz-nicht-der-hambacher-forst-ist/23101702.html

+++SPORTREPRESION
(Die Welt aus der Sicht der NZZ…)
NZZ am Sonntag 23.09.2018

Die Rivalität zwischen Anhängern des FC Zürich und des Grasshopper-Clubs ist offen ausgebrochen

Alte Ehrenkodizes gelten nicht mehr, schwere Gewalt ist jederzeit möglich. Jetzt wollen Politik, Polizei und Klubs reagieren und härter gegen gewaltbereite Fans vorgehen. Ein Blick in Zürichs «Fieberkurven».

von Samuel Tanner

An der Heinrichstrasse 65 in Zürich liegt das «Sächs Foif», die Bar der GC-Fanszene, ihr wichtigster Treffpunkt. «Sächs Foif» spielt auf die Hausnummer an, aber vor allem auf ein spektakuläres Zürcher Derby. Im März 2004 gewann der Grasshopper-Club im Cup mit 6:5 gegen den FC Zürich. Der Name der Bar ist Machtanspruch und Provokation.

Die Inneneinrichtung rekapituliert die grosse Vergangenheit, die Fassade erzählt von der Gegenwart: Fensterscheiben und Haustüren sind regelmässig eingeschlagen, die Wände mit «FCZ» verschmiert. Überall hängen die Kleber des Feindes. Sie sollen anzeigen, wer die Macht hat in der Stadt. Es ist die harmlose Variante des Revierkampfs.

Ende August kam es rund um das «Sächs Foif» zu einer Massenschlägerei, krawallbereite Fans verletzten eine Polizistin. Im Mai detonierten mitten in der Nacht pyrotechnische Gegenstände vor dem Lokal. Die Betontreppe sei versprengt worden, berichtet ein Anwohner, noch zwei Häuserblocks weiter seien die Alarmanlagen angesprungen.

Im Februar des vergangenen Jahres wurde nach Ausschreitungen zwischen den verfeindeten Lagern am gleichen Ort ein junger GC-Fan niedergestochen. Als die Polizei eintraf, flüchteten FCZ-Fans in einem Auto. Neulich habe irgendein GC-Fan das Lokal um zwei Uhr verlassen, da sei er von sechs Männern angegriffen worden. So etwas sei jederzeit möglich. «Es sind nicht mehr nur Schlägereien. Die FCZler wollen uns ausmerzen», sagen Leute aus der Fankurve von GC. Das sei das verbreitete Gefühl.

Das «Sächs Foif» ist nur einer der Schauplätze für die Gewalt, die es zwischen Anhängern der beiden Zürcher Fussballklubs gibt. Aber es steht wie ein Symbol für die derzeitige Lage. Nachdem das Lokal im Frühling 2011 eröffnete, habe es einen Kodex zwischen den Kurven der beiden Klubs gegeben: Ihr greift unsere Bar nicht an, wir lassen eure in Ruhe!

Der Kodex gilt nicht mehr. Die Kurven haben zuletzt gegensätzliche Entwicklungen erlebt, die Südkurve des FC Zürich ist gewachsen, die Fankurve von GC erodiert – das ist einer der Hauptgründe für die Eskalation und die Gewalt der letzten Zeit. Dieses Bild ergibt sich aus Gesprächen mit Personen, die die Kurven und die Psyche von gewaltbereiten Fans von innen kennen. Sie wollen anonym bleiben.

«Die GC-Kurve? Ein Trauerspiel»

Die FCZ-Ultras waren zuletzt immer in der Überzahl, aber in den Reihen der Grasshoppers gab es lange die Zuversicht, dank einigen «bösen Buben» dem Gegner ebenbürtig zu sein. Diese Gewissheit hat sich aufgelöst. Die Fankurve von GC zerfiel in den letzten Jahren in verschiedene Fraktionen – «im Moment ist die Kurve tot, ein Trauerspiel», sagt einer, der bis vor kurzem zum harten Kern gehörte.

Die Südkurve des FC Zürich bilden dreitausend Leute, viele von ihnen sind nicht mehr als Fans. Der harte Kern aber besteht aus etwa neunhundert Personen und dreissig Gruppierungen – und erlebte in der gleichen Zeit einen grossen Andrang. Als der Verein im Sommer 2016 in die Challenge League abstieg, gewann er an Reiz. Die Fans zogen jetzt durch kleine Stadien, bald war klar, es würde das grosse Jahr des Aufstiegs werden. Es war ein Abenteuer, unzählige Junge, auch Minderjährige, stiessen dazu. Es ist ein kritischer Moment für eine Kurve: Die neuen Fans bringen die alte Hierarchie durcheinander, alles ist möglich, alle wollen sich jetzt beweisen.

Das ist die Ausgangslage für eine lange Chronologie der Gewalt, sie beginnt am 25. Mai 2016 im Zürcher Letzigrund. Auf dem Platz kämpft der FC Zürich erfolglos gegen den Abstieg, in der Südkurve entlädt sich die Wut dieser Tage. Gegen Ancillo Canepa, den eigenen Präsidenten, und gegen GC-Fans, die vor dem Spiel zu einer FCZ-Abstiegsparty eingeladen hatten.

Nach dem Abpfiff stürmen vermummte Chaoten den Spielertunnel – und dann die Zürcher Innenstadt. Rund um den Hauptbahnhof kommt es zu Ausschreitungen, die Polizei setzt Wasserwerfer, Tränengas, Gummischrot ein. Das Video davon wird auf der Website von «Hooligans TV» über 47 000-mal angeklickt. Alle Medien berichten.

Im November 2016 hat die Südkurve ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden. Die Mannschaft liegt im ersten Rang, der Wiederaufstieg steht praktisch fest. Nach dem Super-League-Spiel der Grasshoppers gegen Thun warten etwa vierzig Vermummte aus der Südkurve vor dem Letzigrund auf die GC-Fankurve. Es kommt zu wüsten Schlägereien, die Polizei schreitet ein. Irgendwann ziehen sich die Fans von GC in das «Sächs Foif» zurück. Es ist der Prolog zur nächsten Saison.

Bevor im Sommer 2017 die neue Meisterschaft beginnt, kommt es zu gegenseitigen Attacken. In Fehraltorf greifen Chaoten des FCZ zwei siebzehnjährige Fans von GC an. Sie verlangen Schals und Jacken und schlagen zu. Wochen später kommen etwa hundert Chaoten von GC zum Jugendkulturhaus Dynamo an der Zürcher Limmat und greifen Fans des FCZ an. Es kommt zu einer Massenschlägerei.

Gewalt kann überall ausbrechen

Die Gewalt kann heute überall ausbrechen, sie hat sich aus dem Stadion verlagert, seit das sogenannte Hooligan-Konkordat wirkt. Der Staat kann seither Rayonverbote, der Fussballverband und die Klubs können Stadionverbote aussprechen. Massnahmen wie diese sehen die Kurven als Grund, sich zu radikalisieren.

Und Radikalisierung führt zu neuen Massnahmen. Kurven wollen nicht reguliert werden, sie wollen sich selber regulieren. Gleichzeitig sind sie zu heterogen, als dass das funktionieren könnte. Die Medien berichten dann über die Gewalt – die Prügler finden die grosse mediale Bühne interessant, prügeln weiter, und die Medien berichten wieder. Das System ist in sich gefangen.

Seit fünf Jahren wird an Risikospielen kein Alkohol mehr ausgeschenkt. Die Kehrseite davon: Die Fans betrinken sich jetzt vor den Spielen in der Stadt und kommen erst spät zu den Stadien. Dann wollen alle gleichzeitig hinein.

Einer, der diese Dynamik kennt, erzählt, wie sich im Letzigrund die Auswärtsfans gerne zu Hunderten vor den Drehkreuzen versammeln – die ersten zweihundert Personen, alle sauber, passieren die Sicherheitskräfte und bleiben direkt hinter diesen stehen. Anschliessend wollen alle anderen, teilweise mit versteckten Pyros, passieren. Die Sicherheitskräfte stehen in diesen Momenten zwischen mehreren hundert Männern, Nervosität und Druck steigen, das Spiel beginnt gleich, und sie müssen die Fans schneller passieren lassen, als sie es vielleicht gewollt hätten, wenn die Situation nicht eskalieren soll.

Als die Saison 2017 beginnt und es zum ersten Derby kommt, werden in beiden Kurven die Trophäen der vorangegangenen Attacken in die Höhe gehalten. Pullover, Schals des Gegners. In der Fankurve von GC wird eine Fahne des FC Zürich verbrannt. Es ist eine Urform männlicher Aggression: capture the flag. Erobere die Fahne des Feinds! Eine Woche später revanchieren sich die Chaoten des FCZ mit einer Massenschlägerei beim Viadukt in Zürich. Denn Fahnen sind Symbole – und Symbole alles in dieser Welt.

Im September 2017 wird Bruno beerdigt, der alte Chef der City Boys des FCZ. Er war an einer schweren Krankheit gestorben. In der Südkurve hängt künftig ein Transparent: «Wo mir sind, bisch du Bruno.» Er war eine wichtige Figur der Kurve, respektiert auch beim Feind. In der Stadt gibt es ein Graffito: Ruhe in Frieden, Bruno. Bald steht darüber gesprayt: Die Schwachen nimmt’s. Es ist eine Revancheaktion von jungen GC-Chaoten, selbst in der GC-Fankurve schämen sich viele dafür. Noch ein Kodex, der nicht mehr gilt.

Generell bestätigen Personen aus beiden Kurven, dass es derzeit keinen Dialog gebe. Die Situation ist festgefahren. In der Südkurve ist man nicht bereit, auf Chaoten von GC zuzugehen, von denen man noch vor kurzem verprügelt worden sei.

In der Fankurve der Grasshoppers beklagt man den eigenen Niedergang. Die Mannschaft schleicht seit Jahren durch die untere Hälfte der Super League, die Führung ebenfalls. Dem Verein fehlen eine Identität und ein eigenes Stadion. Im Letzigrund hängt seit Jahren das Transparent: «Trotz Exil a jedem Spiel». Die Kurve ist der des FC Zürich inzwischen so hoffnungslos unterlegen, dass jetzt auch aktiv Prügler akquiriert würden, so berichten es Quellen aus dem Umfeld von GC. Man trainiert Kampfsport und verbündet sich.

Im Oktober 2017, rund um das erste Zürcher Derby seit dem Aufstieg des FCZ, verstärken sich die Chaoten von GC für eine Schlägerei beim Hardturm mit befreundeten Gruppen aus Montpellier und Chemnitz. Es ist der Versuch, dem Feind ebenbürtig zu sein. Treffpunkt ist das «Sächs Foif» an der Heinrichstrasse 65. Anwohner berichten, wie die Freunde aus dem Ausland mit ihren Autos im Innenhof parkiert hätten – und wie anschliessend auf dem Hausdach eine Art Party stattgefunden habe.

Es kommt zu Sachschäden. In GC-Kreisen überlegt man sich inzwischen jedoch, ob die Freundschaft zu den Chemnitzern gekündigt werden solle. Die Chemnitzer Chaoten waren im Spätsommer in die rechtsextremen Ausschreitungen in ihrer Heimatstadt involviert.

Am 27. November 2017 veröffentlicht die GC-Fankurve auf der Website «Sektor IV» einen mehrseitigen Text unter dem Titel «Jeder Rivalität sind Grenzen gesetzt», es ist ein Aufruf zur Mässigung – adressiert an den Feind: «Wer zulässt, dass das GC-Fanlokal wiederholt angegriffen wird, achselzuckend hinnimmt, dass GC-Fans systematisch ausgeraubt werden, Andersdenkende mit Waffen bedroht und selbst Kinder instrumentalisiert, demaskiert die angeblich selbstregulierte Fankurve als Farce.» Der Inhalt des Aufrufs erscheint Stunden später auf der Website des «Tages-Anzeigers».

Die Chaoten des FCZ reagieren auf zwei Arten: Sie greifen die Chaoten von GC beim Kampfsporttraining in einer Turnhalle in Leimbach an – weil sie finden, dass man mit so einer Botschaft nicht an die Öffentlichkeit gehe. Zehn Leute werden verletzt. Und sie bedrohen eine Journalistin des «Tages-Anzeigers» massiv. Es ist eine neue Dimension der Gewalt. Wie weit würden sie gehen?

Was Loyalität bedeutet

Fankurven sind die grössten Jugendzentren der Schweiz, Fiebermesser der Adoleszenz: Junge Männer (viel seltener Frauen) finden hier ihre vielleicht erste Leidenschaft. Sie malen Fahnen, sie reisen durch das Land, entwickeln Grundsätze: Für immer für dich! Sie lernen, wie Gruppen funktionieren, was Loyalität bedeutet, wie Drogen wirken, wie sich eine Dynamik verändert und wie mächtig man wird, wenn man unter vielen ist.

Als der FC Zürich abstieg und kurze Zeit später den Cup gewann, gingen Alain Nef und Gilles Yapi, die zwei wichtigsten Spieler der Mannschaft, mit dem Pokal zur Südkurve und stellten ihn da ab, wie eine Opfergabe. Die Kurve schwieg – und genoss die Macht.

In jedem Jugendzentrum gibt es einen grossen Prozentsatz an emotional instabilen Leuten – und einen kleineren Prozentsatz an Idioten (oder in diesem Fall Straftätern): Personen, die andere gefährden. Die Funktionäre der Fussballklubs distanzieren sich von ihnen, aber möglichst nicht so laut, dass es alle im Jugendzentrum hören. Der Unterschied zwischen Unvernunft und Gewalt ist klein. Die Unvernunft sehen die Klubs gern, weil sie Europacup-Reisen nach Rumänien, nächtelange Arbeit an Choreografien, das Ausleben von Rivalitäten erst ermöglicht.

Lange Gesänge, pyrotechnische Fackeln und grosse Choreografien, die Kritik am kommerziellen Fussball waren immer Erkennungsmerkmale der sogenannten Ultras. Dieses tendenziell linke Fanverständnis kommt aus dem Süden. Am Anfang der nuller Jahre eroberten die Ultras die Machtzentren der Schweizer Kurven und lösten die Hooligans ab. Während die Ultras die Gewalt gerne in Kauf nehmen, war bei den Hooligans eine organisierte Form der Gewalt das Leitmotiv. Man traf sich irgendwo im Wald und prügelte sich. Die jungen Chaoten, die heute in die Stadien einziehen, könnten nun die Post-Ultra-Generation sein. Es sehe nach einem Hooligan-Revival aus, erzählen Insider.

«Es ist, wie es heute generell ist: Man schlägt schneller zu. Man hat eher ein Messer dabei», erzählt der junge Mann, der bis vor kurzem zum harten Kern der GC-Fankurve zählte. «Und es kommt hinzu, dass viele auf Kokain sind, da fühlst du dich unantastbar – bei mir war es genau so. Sorry, aber ich fand es geil, wenn wir in der ganz grossen Gruppe in St. Gallen einfuhren, wenn du durch die Strassen marschiertest und eine Mutter mit ihren Kindern in Panik geriet, weil wir kamen. Bei mir war es der Stress im Büro: Ich wollte mich am Wochenende abschiessen. Wenn wir ein Auswärtsspiel hatten, gab es vor der Toilette eine lange Schlange – alle wollten sich eine nächste Linie Kokain reinziehen. Das gab dir den Drive. Heute ist mir das peinlich.»

Die Drogen können vielleicht die Brutalität erklären. Im Februar dieses Jahres kommt es beim Prime Tower in Zürich zu einer Massenschlägerei zwischen Chaoten von GC und FCZ. Die Polizei veröffentlicht später ein Fahndungsvideo – es zeigt junge Männer, die anderen auch dann noch auf den Kopf treten, wenn diese am Boden liegen.

Die Schlacht dauert nur Minuten, aber sie zeigt wieder einmal, wer die Gewaltmacht hat in der Stadt. In den Wochen und Monaten danach gibt es diverse Meldungen von GC-Fans, die irgendwo in der Stadt von Chaoten des FCZ verprügelt werden. Im Tram, am Hauptbahnhof, in einem Klub. Nach den Spielen von GC ziehen Väter ihren Söhnen die Fussballleibchen aus, damit diese nicht als Fans erkannt werden.

Im Umfeld der Südkurve heisst es, es handle sich bei ihren Schlägern um wenige junge Männer, die sich jeder Kontrolle entzögen. Sie seien es auch gewesen, die vor einem Monat am Zürcher Seebecken die Polizei und die Sanität angegriffen und zwei Polizisten verletzt hätten.

Politik, Polizei und Klubs sind inzwischen in der Arbeitsgruppe Doppelpass versammelt worden, sie reden von zweihundert Schlägern auf beiden Seiten – und davon, dass das Problem grösser geworden sei. Man wolle künftig hart dagegen vorgehen. An einer Pressekonferenz vor einer Woche sassen Klubfunktionäre und Politiker nebeneinander, es sollte ein Symbol sein: Wir sind noch da. Eine neue Stadion-Abstimmung steht bevor. Die Nervosität ist gross, die Hoffnung nicht.

Die Gegenmassnahmen

1. Das Ziel des Projekts Doppelpass von Politik und Klubs ist die Zusammenarbeit aller Akteure gegen Gewalt.

2. Präventiv sollen vor allem junge Fans angesprochen werden. Jugend- und Fanarbeit sollen eng kooperieren.

3. Zentral ist die Repression. Die Polizei will mehr Personal, mehr Videoüberwachung und härter vorgehen. Zürichs Sicherheitsdirektorin sagt: «Die Brutalität hat massiv zugenommen.»
(https://nzzas.nzz.ch/sport/die-rivalitaet-zwischen-anhaengern-des-fc-zuerich-und-des-grasshopper-clubs-ist-offen-ausgebrochen-ld.1422319)