Medienspiegel 5. August 2018

+++SCHWEIZ
Deutsche machen Druck für stärkere Kontrollen: Grenzwachtkorps rüstet auf
Das Grenzwachtkorps hat am Simplontunnel eine Kamera installiert. Es geht darum, Migranten zu kontrollieren, die mit dem Zug von Italien nach Deutschland reisen.
https://www.blick.ch/news/schweiz/deutsche-machen-druck-fuer-staerkere-kontrollen-grenzwachtkorps-ruestet-auf-id8690652.html
-> https://www.1815.ch/news/wallis/aktuell/kontrollposten-auf-simplontunnel-eingerichtet/

+++DEUTSCHLAND
Migration über das Mittelmeer: Über Spanien nach Deutschland?
Die Bundesregierung rechnet damit, dass viele der nach Spanien kommenden Migranten nach Deutschland weiterziehen. Deswegen will sie gegebenenfalls die Grenzen zur Schweiz und zu Frankreich stärker kontrollieren.
https://www.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-2059.html

+++SCHWEDEN
Schweden: Gescheiterte Integration
Gemessen an der Bevölkerungszahl hat kaum ein europäisches Land so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Schweden. Doch im Land wächst der Unmut. Es fehlt ein Konzept für die Eingliederung der Flüchtlinge in die schwedische Gesellschaft.
http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/europamagazin/sendung/schweden-integration-gescheitert-100.html

»Die letzte Option«
Die Schwedin Elin Ersson verhinderte eine Abschiebung. Im Interview erklärt sie, warum sie es wieder tun würde
Mit ihrer Aktion hat die schwedische Aktivistin Elin Ersson eine Abschiebung nach Afghanistan verhindert. Die Gruppe »Sittstrejken«, in der sie aktiv ist, setzt sich für Geflüchtete in Schweden ein.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1096318.elin-ersson-die-letzte-option.html

+++SPANIEN
Flucht über das Mittelmeer: Spaniens gefährlicher Sommer
Beinahe täglich gelangen Bootsflüchtlinge an die Südküste Spaniens. Die Opposition macht Stimmung gegen die Willkommenskultur der regierenden Sozialisten. Zu Recht?
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/flucht-mittelmeer-spanien-neuwahlen-willkommenskultur/komplettansicht

Wahlkampfthema Migration – Spaniens Konservative machen Stimmung gegen Regierung
Immer mehr Migranten versuchen, via Spanien nach Europa zu kommen. Das Thema befeuert den beginnenden Wahlkampf.
https://www.srf.ch/news/international/wahlkampfthema-migration-spaniens-konservative-machen-stimmung-gegen-regierung

+++MITTELMEER
Tod im Mittelmeer: Über das Scheitern der europäischen Migrationspolitik
Retter und Flüchtlinge sollen, ginge es nach dem Willen von Pegida in Dresden, sterben. Politische Maßnahmen, Geflüchtete fernzuhalten, werden drastischer. Doch nun formiert sich auch auf der anderen Seite Widerstand. | mehr
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/sendung-vom-05082018-100.html

UN erklären Mittelmeer zur tödlichsten Route für Migranten
Die UN schlagen Alarm. Immer weniger Migranten überqueren das Mittelmeer in Richtung Europa und gleichzeitig ertrinken immer mehr Menschen.
https://www.nau.ch/nachrichten/europa/2018/08/05/un-erklaren-mittelmeer-zur-todlichsten-route-fur-migranten-65386771

NZZ am Sonntag 05.08.2018

«Nur euer Boot wird Griechenland erreichen» – Anleitungen für die Flucht

Das Künstlerduo Baltensperger + Siepert verwandelt Berichte von Geflüchteten in kühle Gebrauchsanleitungen – und erreicht gerade damit unsere Einfühlung in die prekären Schicksale. Ein Tipp aus «Bücher am Sonntag»

von Sieglinde Geisel

«Du reist allein. Du bist eine Frau. Du wirst vergewaltigt werden. Das wird sich nicht vermeiden lassen.» Oder: «Bestecht die Beamten. 150 US-Dollar pro Person werden sie verlangen. Männer verprügeln sie dennoch. Auch deinen. Aber danach werden sie euch passieren lassen.» Oder: «Drei Boote werden es sein. Lasst die anderen Leute vor und besteigt das dritte Boot. Ihr fahrt zuletzt los. Nur euer Boot wird Griechenland erreichen.»

Man hält diese Texte fast nicht aus – und genau das ist die Idee. Das Zürcher Künstlerduo Baltensperger + Siepert macht im Buchprojekt «Ways to Escape One’s Former Country» anhand von 18 Einzelfällen deutlich, was es heisst, aus seinem Heimatland zu fliehen. Aus den Berichten der Flüchtlinge haben Stefan Baltensperger und David Siepert Gebrauchsanleitungen destilliert – mit dem Ziel, damit ein neues Narrativ zu schaffen, denn wir könnten kaum mehr über Geflüchtete reden, ohne sie zu stigmatisieren.

«Diese Menschen kommen hierher und sind Flüchtlinge. Doch in Wirklichkeit hatten sie ein ganzes Leben, sie sind nur irgendwann an einen Punkt gekommen, wo sie ihre Herkunft verlassen mussten», sagt der eine. Zugleich sind wir von den ­Geschichten der Flüchtlinge übersättigt: «Wir hören, dass im Mittelmeer schon wieder so und so viele Kinder ertrunken sind, doch diese Geschichten berühren uns nicht mehr.»

Wie schaffe ich den Weg?

Seit zehn Jahren bereits beschäftigen sich die beiden Künstler mit Migration. In ihrer letzten Arbeit widmeten sie sich chinesischen Wanderarbeitern, nun haben sie in der Schweiz Geflüchtete aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Äthiopien, Eritrea interviewt. Es ging weder um die Gründe für die Flucht noch um politische Einstellungen oder Gefühle, sondern einzig um den Weg von A nach B.

Die Fragen lauteten etwa: Wie haben Sie sich vorbereitet? Was wussten Sie von vornherein? Mit wem hatten Sie Kontakt? Wem haben Sie Geld gegeben? Zur Zeit des Gesprächs hatten die Befragten noch keinen Asylbescheid, daher musste erst einmal Vertrauen hergestellt werden.

Viele der Gespräche seien hochemotional verlaufen, sagen die beiden Künstler, sie hätten dabei sowohl Einblick in persönliche Schicksale bekommen wie in die Absurdität des Asylwesens.

Beispielsweise im Fall eines afghanischen Jugendlichen, der sich in ein Mädchen aus einem anderen Stamm verliebt hatte und sich, als die Geschichte aufflog, in Lebensgefahr befand, denn die Familie des Mädchens war «entehrt» und wollte ihn töten. Der Onkel, der ihm die Flucht ermöglicht hatte, erhielt in der Schweiz Asyl, doch der Antrag des Jugendlichen wurde abgelehnt.

So genau wollte man das gar nicht wissen

Im Weiteren gebe es Täter, die zu Opfern würden: Aus dem Irak hatten sie einen jungen Mann getroffen, dessen Vater unter Saddam Hussein ein ranghoher Politiker war. Nun ist er der Gejagte, denn von den früheren Opfern drohe ihm Lynchjustiz, sowohl im Irak als auch unter Geflüchteten in der Schweiz.

All diese Hintergrundgeschichten ha­ben keinen Eingang in die kurzen, stark verdichteten Texte gefunden, denn die Person verschwindet aus ihrer Erzählung. Eine anonyme Stimme spricht in der zweiten Person und sagt voraus, was dem Flüchtling unterwegs widerfahren wird, zugleich als Anleitung und als Vorhersage.

Durch diese Abstraktion verwandelt sich der ursprünglich journalistische Text in eine Art Fiktion – also in Kunst. Es bleiben nur kühle Fakten, und genau dies erzeugt beim Lesen auf unheimliche Weise Gefühle. Man liest und beginnt zu begreifen, was geschieht – und schreckt zurück: So genau wollte man das gar nicht wissen. Was aber sagt das wiederum über uns?

Gefühle aussperren

«Es ist ein brutaler Akt, eine Person mit all ihren Gefühlen aus ihrem Text heraus­zulösen. Bei Gesprächen, die man selbst geführt hat, kann man das fast nicht. Man ist zu nah dran.» Schliesslich teilte das Duo die Arbeit auf: Der eine führte das Gespräch, der andere erstellte die erste Fassung. Die Texte geben keine Antworten, keine Lösungen, kein richtig oder falsch. Doch sie schaffen Möglichkeiten, neu über das nachzudenken, was sie uns zeigen.

Das schmale Buch ist dreisprachig: Deutsch, Englisch und Arabisch. Die Sätze dieser «Gebrauchsanleitungen» sind kurz und lassen sich eins zu eins übersetzen. Nachdem einige Flüchtlinge dies spontan bemerkt hatten, kommen die Texte inzwischen auch in Deutschkursen als Sprachlehrmittel zum Einsatz.

Die so schlicht wie schön gestalteten Bücher werden von Baltensperger + Siepert gratis abgegeben: Man kann sie auf der Website bestellen oder bei Ausstellungen mitnehmen. Hätten sie dieses Buch verkaufen wollen, hätten die Einkünfte den Gesprächspartnern zukommen müssen, finden die beiden Künstler. «Aber man kann nicht jemanden dafür bezahlen, dass er dieses Schicksal erlitten hat. Und dass am Ende nur wir für unseren Aufwand entschädigt werden, kam erst recht nicht infrage. Deshalb haben wir uns für das Gratismodell entschieden.»
(https://nzzas.nzz.ch/kultur/buecher/nur-euer-boot-wird-griechenland-erreichen-flucht-migration-baltensperger-siepert-ld.1408396)
-> http://www.baltensperger-siepert.com/ways-escape-ones-former-country

+++AFRIKA
EU-Zusammenarbeit mit Sudan: Fragwürdiger Pakt
Das Militärregime im Sudan steht wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Die EU hält das nicht davon ab, bei der Migrationskontrolle enger mit der Regierung zu kooperieren – ein Operationszentrum soll noch im Herbst starten.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-zusammenarbeit-mit-sudan-fragwuerdiger-pakt-a-1221673.html

NZZ am Sonntag 05.08.2018

Migrationsexperte: «Maghrebstaaten muss man Substanzielles anbieten, damit sie die Grenzen kontrollieren»

Die Länder Nordafrikas seien heute nicht in der Lage, die Flüchtlingsströme zu stoppen, sagt Migrationsexperte Ridha Fraoua. Und sie wollten das auch nicht.

Von Beat Stauffer

NZZ am Sonntag: Seit Italien keine Flüchtlingsschiffe aus dem Mittelmeer mehr aufnehmen will, hat sich die Migrationsroute von Italien nach Spanien verschoben. Ist dies das neue Rezept, sich Flüchtlinge vom Leib zu halten?

Ridha Fraoua: Im Moment scheint diese Politik in der Tat zu wirken. Ich zweifle aber daran, dass diese repressive Politik Italiens mittelfristig zu einer Reduktion der Migration führen wird. Der Migrationsdruck wird damit einfach auf Malta, auf Spanien und indirekt auf Frankreich verlagert. Ausserdem ist diese Politik in Italien sehr umstritten. Es ist unsicher, ob sie längerfristig mehrheitsfähig ist.

Jahrelang hatte Marokko die Migrationsströme stoppen können. Nur wenige Migranten nahmen die Route über Spanien. Weshalb geht das nicht mehr?

Das stimmt teilweise. Aber der Druck durch die Migranten hat in Marokko zugenommen, und innenpolitisch ist es für Marokko sehr schwierig, die Auswanderung mit derart harten Mitteln zu stoppen. Zudem war die relativ erfolgreiche Eindämmung der Migration – etwa in den Jahren 2013 und 2014 – nur möglich, weil andere Länder dies nicht getan haben.

Manche Experten glauben, dass Marokko derzeit die Schleusen bewusst öffnet.

Marokko kann gar nicht über längere Zeit gegen die Migrationswelle aus Ländern südlich der Sahara ankämpfen. Das Land hat keine andere Wahl, als die Migranten durchzuwinken und darauf zu warten, dass das Problem grundlegend gelöst wird.

Wäre es nicht lukrativ für Marokko, die Flüchtlinge gegen eine finanzielle Abgeltung von der EU zu stoppen?

Weder die Regierung in Marokko noch die Bevölkerung wären damit einverstanden, über längere Zeit die Rolle des Gendarmen zu spielen – auch wenn sie dafür entschädigt würden. Die sozialen und wirtschaftlichen Risiken wären viel zu hoch.

Vor ein paar Tagen wurden erstmals Flüchtlinge von Schiffen, die auf hoher See gerettet wurden, nicht nach Italien oder Spanien gebracht, sondern zurück nach Libyen und Tunesien. Steigt die Bereitschaft, Flüchtlinge zurückzunehmen?

Die Maghrebstaaten werden wohl nur in Ausnahmefällen bereit sein, Flüchtlinge und Migranten zurückzunehmen, die auf hoher See – und nicht in ihren Territorialgewässern – gerettet werden. So hat etwa die tunesische Regierung klargemacht, dass sie die Einreiseerlaubnis für die geretteten Flüchtlinge nur aus humanitären Gründen erteilt hat.

Die Küstenwachen der drei Maghrebstaaten Marokko, Algerien und Tunesien könnten doch mehr tun, um die illegale Migration zu bekämpfen.

Die Küstenwachen könnten mehr tun, wenn die Infrastruktur, die Logistik und die Ausrüstung besser wären. Diese Staaten sind nicht in der Lage, ihre Grenzen effizient zu schützen. Das Problem ist komplex. Die Regierungen müssten auch mafiöse Gruppen bekämpfen, die ebenfalls im Schleusergeschäft tätig sind. Sie haben aber andere Prioritäten. Solange der Terrorismus noch eine Bedrohung darstellt und der Kampf gegen die Korruption nicht ernsthaft aufgenommen wurde, wird sich daran nichts ändern. Dazu kommt gerade im Fall Tunesien ein Mangel an Produktivität, an Arbeitsdisziplin und an Effizienz sowohl auf staatlicher wie auch auf privater Ebene.

Europa wäre ja noch so gerne bereit, diese Länder in Sachen Grenzsicherung finanziell und logistisch zu unterstützen.

Ja natürlich. Aber die politische Voraussetzung dafür wäre, dass sich Maghrebstaaten einig werden, diese Rolle als Gendarm überhaupt wahrzunehmen. Dem ist nicht so. Libyen hat gegenüber der EU bereits klargestellt, dass das Land dazu nicht bereit ist. Es geht ja nicht nur darum, Migranten südlich der Sahara von der Durchreise abzuhalten. Die Grenzen dichtzumachen, würde auch bedeuten, junge arbeitslose Männer davon abzuhalten, das Land zu verlassen. Männern, die in Cafés herumhängen, nicht heiraten können und die zum Teil auch straffällig werden, würde die Chance genommen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Die Situation ist explosiv. Ich kenne keine Politiker im Maghreb, die bereit wären, diese frustrierten Männer von der Abreise abzuhalten.

Offiziell sprechen sich alle Maghrebstaaten auch gegen Aufnahmezentren für Migranten auf ihrem Territorium aus. Doch halten Sie es für denkbar, dass sie in Zukunft einlenken? Etwa, wenn die Zentren von der EU finanziert und bewacht würden?

Solche Zentren werden von der Bevölkerung als Bedrohung für die innere und äussere Sicherheit ihres Landes wahrgenommen, und sie werden als unzulässiger Eingriff in die nationale Souveränität betrachtet.

Auch wenn es sich um offene Zentren handeln würde, in denen Flüchtlinge und Migranten ein und aus gehen könnten?

Solche Zentren könnten nur geschaffen werden, wenn gleichzeitig Entwicklungsprojekte angestossen würden. Die Bevölkerung muss spüren, dass sie von den Auffanglagern profitiert und nicht nur Europa.

Wie sieht die Bevölkerung die Migrationsproblematik?

Die Bevölkerung im Maghreb ist überzeugt davon, dass sich der Westen in einer komfortablen Situation befindet, dass es den Menschen dort recht gut geht und dass es eine Frage der Moral sei, diesen Reichtum in einem gewissen Mass mit anderen Menschen zu teilen, die auf vieles verzichten müssen.

Was müsste Europa tun, um Maghrebländer längerfristig als Partner zu gewinnen?

Wir müssen eine doppelte Strategie fahren: Um die öffentliche Meinung des Maghreb für bessere Grenzkontrollen zu gewinnen, braucht es einen klaren Willen und verpflichtende Zusagen von Europa, grosse Beiträge für die wirtschaftliche Entwicklung der Maghrebstaaten zu leisten. Dazu braucht es einen eigentlichen (Marshall-)Plan, bedeutende Investitionen und grosse Projekte, die sich über mehrere Jahre hinziehen, die Arbeitsplätze und dadurch wirtschaftliche Perspektiven für die junge Generation schaffen. Wir können unmöglich von den Maghrebstaaten verlangen, ihre Grenzen besser zu kontrollieren, und ihnen damit die Sorge um die Zukunft eines Teils ihrer Jugend allein aufbürden, ohne ihnen dafür etwas Substanzielles anzubieten.

Die Schweiz hat vor sechs Jahren mit Tunesien eine Migrationspartnerschaft aufgebaut. Was müsste die Schweiz denn Tunesien im Rahmen einer solchen Partnerschaft anbieten?

Ein wichtiger Bestandteil dieses Abkommens waren Ausbildungsplätze für junge tunesische Berufsleute in der Schweiz. Doch in den letzten 6 Jahren konnten nur gerade 45 junge Tunesier einen Stage machen. Im Abkommen ist hingegen von 150 Stagiaires pro Jahr die Rede. Es braucht sehr viel mehr solcher Ausbildungsplätze. Da wundert es nicht, dass Tunesien das Gefühl hat, auf diese Weise nicht auf seine Rechnung zu kommen. Wie soll man unter solchen Umständen von einem Land verlangen, dass es bei der Rückschaffung seiner Bürger sehr viel effizienter zusammenarbeitet?

Im ganzen Maghreb gibt es also einen Reformstau, und zugleich ist der Migrationsdruck überall hoch oder nimmt sogar zu. Gleichzeitig macht Europa seine Grenzen dicht. Ist dies nicht eine ziemlich dramatische Situation?

Das ist so. Schauen wir nochmals nach Tunesien. Die Hauptsorge der Menschen dort ist, genügend Strom, Trinkwasser und Milch zu haben. Seit ich mich entsinnen kann, also seit etwa 60 Jahren, kann ich mich nicht an so eine desolate Lage in Tunesien erinnern. Der Staat ist überall mit Hindernissen konfrontiert. Es herrscht eine Mentalität des «Je-m’en-foutisme». Der Bürgersinn ist weitgehend verloren gegangen. In Tunesien macht jeder, was er will. Die Politikerkaste kämpft für ihre Interessen, und es gibt eine enorme Korruption. Für die meisten Menschen bedeutet leben überleben.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Ich denke, es gilt realistisch zu sein: Europa hat genügend Druckmittel, um den Staaten im Süden seine Migrationspolitik aufzuzwingen. Die Maghrebstaaten sind nicht in der Lage, sich längerfristig dieser Politik zu widersetzen. Aber gleichzeitig muss Europa helfen, die Maghrebländer zu stabilisieren. Libyen ist ein Warnzeichen. Es zeigt, wie ein Staat scheitern kann.

Was für Druckmittel sind das?

Im Vordergrund stehen für mich Gelder, die für die Entwicklungszusammenarbeit gesprochen werden und – im Falle Tunesiens – für die Unterstützung der Regierung in der Phase der demokratischen Transition. Die EU hat zudem weitere Druckmittel im Rahmen der Freihandelsabkommen.

Europa kann vielleicht den Maghrebstaaten zu mehr Entwicklung verhelfen, doch es strömen Migranten aus ganz Afrika nach Europa. Ein Marshall-Plan für den ganzen Kontinent ist doch illusorisch.

Ja. Es ist primär Aufgabe der afrikanischen Staaten, Bedingungen zu schaffen, damit die junge Generation in ihren Ländern bessere Perspektiven hat. Doch Europa muss mitwirken, damit in Afrika die Bedingungen dafür geschaffen werden. Dies erfordert eine andere Migrationspolitik und einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungszusammenarbeit.

Zur Person

Der 63-jährige Jurist ist schweizerisch-tunesischer Doppelbürger. Ridha Fraoua war lange Jahre für den Bund tätig und in Expertenkommissionen und Verhandlungsdelegationen für ausländer- und asylrechtliche Themen zuständig. Er verfolgt die Situation in Tunesien und im Maghreb seit Jahrzehnten.
(https://nzzas.nzz.ch/international/ridha-fraoua-maghrebstaaten-muss-man-substanzielles-anbieten-damit-sie-grenzen-kontrollieren-ld.1408930)

+++FREIRÄUME
Die parkplatzfreie Ära beginnt turbulent
Aktivisten mit einem Monsterjoint, ein Stadtpräsident, der cool & clean bleibt, und Ursula Wyss’ Kügelchen. Dies war der Auftakt zum vierten Neustadtlab auf der Berner Schützenmatte.
https://www.derbund.ch/bern/stadt/die-parkplatzfreie-aera-beginnt-turbulent/story/12025522

+++DROGENPOLITIK
Spanien: Kampf gegen den Drogenschmuggel
14 Kilometer trennen an der Straße von Gibraltar Europa von Afrika – und damit Spaniens Südküste von Marokko, dem größten Haschischproduzenten der Welt. | mehr
http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/spanien-drogenschmuggel-marokko-100.html

+++BIG BROTHER
Sonntagszeitung 05.08.2018

Ermittlungen ohne Grenzen

Seit zehn Jahren fahndet die Schweiz per Schengen-System. Es lieferte 4037 Festnahmen und spürte 3225 Vermisste auf.

Roland Gamp

Seit Januar lebte der junge Mann unbehelligt in der Westschweiz. Bis er letzte Woche auf der Genfer Rue des Deux-Ponts in eine Routinekontrolle der Polizei gerät. Die Beamten tippen seine Personalien in ein Gerät. Und verhaften ihn auf der Stelle – Luxemburg sucht den 23-Jährigen wegen mehrfacher Vergewaltigung.

Aufgeflogen ist er dank des Schengener Fahndungssystems (SIS). Mitte August sind es genau zehn Jahre, seit die Schweiz darauf Zugriff hat. Vorgestellt wurde es als Kernstück im Kampf gegen internationale Kriminalität, als Gegengewicht zu wegfallenden Grenzkontrollen durch Schengen. Nun zeigen Daten des Bundesamts für Polizei (Fedpol), wie erfolgreich das System läuft. Allein letztes Jahr erzielte es 17’597 Fahndungstreffer mit Bezug zur Schweiz, im Durchschnitt zwei pro Stunde.

«Es ist für Polizisten, aber auch für Grenzwächter das zentrale Fahndungswerkzeug schlechthin», sagt Benedikt Scherer, Chef für Internationale Polizeikooperation beim Fedpol. Europaweit geben Beamte Personen oder Sachen im SIS ein, nach denen sie fahnden. «Solche Angaben sind in null Komma nichts einsehbar, für Behörden vom Nordkap bis nach Sizilien.»

Rund 75 Millionen Einträge zählt die Datenbank. Auch die Schweiz sucht intensiv. Nach 828 Personen, die Polizeien oder Staatsanwaltschaften zur Verhaftung ausgeschrieben haben. Oder nach 551 Vermissten, 6813 Waffen und 27 571 Autos. Den grössten Teil machen über 1,2 Millionen gesuchte Ausweise aus.

Gefunden werden sie von den verschiedensten Behörden. Das SIS schlägt an, wenn Polizisten oder Grenzwächter eine gesuchte Person oder Sache überprüfen. Auch Migrationsbehörden, Zollfahnder und Strassenverkehrsämter gleichen täglich Daten ab und erzielen so Treffer. Die meisten dieser «Hits» gibt es an Flughäfen aufgrund der vielen Passagierdaten.

Zahl der Treffer hat sich seit Einführung von SIS verdoppelt

So war es bei einem Mann aus Wettingen AG. Er verliess nach einem Streit mit der Partnerin das Haus mit beiden Töchtern. Die Mutter alarmierte die Polizei, welche den Vater im SIS ausschrieb. Es meldete ihn, als er schon in München am Flughafen war, sich mit den Kindern in einen Flieger nach Kanada setzte. Er wurde wegen Verdachts auf Entführung festgenommen.

Das SIS führt aber auch in der Schweiz laufend zu Hits, aufgrund von Fahdnungen anderer Staaten. Österreichische Ermittler suchten zum Beispiel nach einem Mann, der in Wien ein Au-pair-Mädchen ermordet haben soll. Hier schlug das System Alarm, als es den Verdächtigen im Verfahrenszentrum Kreuzlingen TG registrierte.

Er wurde verhaftet und ausgeliefert. Wie Tausende andere auch. Die 17’597 Fahndungstreffer im In- und Ausland bedeuten für die Schweiz Rekord. Es sind 30 Prozent mehr als im Vorjahr und doppelt so viele wie nach der Einführung des SIS. Zum Ärger von Kriminellen: 4037 Festnahmen mithilfe des SIS hat das Fedpol mit den Schweizer Korps bisher verbucht.

«Zahlen dieser Grössenordnung waren vor Schengen undenkbar», sagt Direktionsbereichsleiter Scherer. Kriminalität verlaufe zunehmend über Landesgrenzen hinaus. «Daher wenden die Korps das SIS konsequent an, was zu vielen Hits führt.» Das System habe die Prozesse enorm vereinfacht. «Alle internationalen Fahndungen mussten früher einzeln via Interpol an jeden Staat verschickt werden. Und dann hatte man keine Ahnung, ob diese die Suche auch tatsächlich ausschreiben.»

Die Bundespolizei berechnete, dass der Aufwand für Korps um zehn Prozent steigen würde, wollten sie den Ermittlungsstandard ohne SIS gleich halten wie heute. Das sind im Jahr bis zu 500 Millionen Franken. Scherer: «Ohne SIS wäre die Polizei über die Schweizer Grenze hinaus plötzlich blind.»

Heimliche Überwachung gegen Terrorverdächtige

Kritiker bemängeln, das System werde nicht wie versprochen zur Verbrechensbekämpfung genutzt. Sondern vor allem zur Kontrolle von Migranten. 6986 Hits gab es 2017, weil eine Einreisesperre mit Bezug zur Schweiz missachtet wurde. Das ist der Grossteil aller Treffer. Scherer sagt dazu: «Die Zahl zeigt nur, wie effizient das SIS auch gegen irreguläre Migration ist.»

Es gehe eben nicht nur um den Kampf gegen Verbrecher, wie ein Beispiel vom letzten Herbst zeige. Tagelang suchten Polizei, Armee und Feuerwehr eine 14-Jährige, die in Vechingen BE spurlos verschwunden war. Doch der Grosseinsatz samt Hunden und Helikoptern blieb erfolglos. Bis Beamte das Mädchen im französischen Doubs anhielten und per SIS feststellten, dass man nach ihr sucht. Solche Treffer haben sich in zehn Jahren fast verdreifacht, 3225 Vermisste wurden gefunden.

Noch stärker legten «verdeckte Registrierungen» zu. Hier landen Personen im SIS, obwohl sie nichts verbrochen haben. Bei jeder Kontrolle durch Behörden erhalten sie einen Eintrag. Strafverfolger können dann später nachzeichnen, wo sich jemand bewegte und mit wem. Die Zahl solcher Treffer stieg von 626 auf 4223 an. Laut Fedpol vor allem, weil man mehr Terrorverdächtige auf dem Radar hat.

Nur schwere Delikte

Betroffene merken von der Überwachung nichts. Überhaupt gibt es keine aktive Meldung, wenn jemand ins SIS aufgenommen wird. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte prüft deshalb periodisch, ob alles korrekt abläuft. Bisher stellte er keine Verstösse fest, wie es auf Anfrage heisst.

Bereichsleiter Scherer betont, dass es um schwere Delikte gehe. «Den Velodieb zum Beispiel kann man nicht international ausschreiben», sagt er. «Wir sprechen von schweren Straftaten, auf die mindestens ein Jahr Strafe steht.» Welches Urteil der mutmassliche Vergewaltiger aus Genf erhält, könnte sich bald zeigen. Er stimmte der Auslieferung zu und wird demnächst nach Luxemburg gebracht.

Schengen wegen Waffenrecht auf der Kippe
Nach den Attentaten 2015 in Paris verschärfte die EU ihr Waffenrecht. Die Schweiz müsste mitziehen, um nicht aus Schengen/Dublin verbannt werden zu können. Im Herbst entscheidet der Ständerat. Ohne Schengen wäre der Zugriff auf SIS vorbei. Laut Bundesrat könnten jährliche Gesamtverluste bis zu 10,7 Milliarden entstehen, etwa durch Einbussen im Handel und Mehrkosten bei Asylwesen und Grenzschutz.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/ermittlungen-ohne-grenzen/story/13364074)