Der Genfer Staat krebst zurück: Ende der erweiterten Erpressung durch Nothilfe

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Das collectif Perce-frontières hat einen Bericht über den erfolgreichen Widerstand gegen einen Versuch des Genfer Staates geschrieben, Geflüchtete noch stärker zu drangsalieren. Wir haben ihn übersetzt.

Das neue Genfer Verfahren zur Erlangung von Not-„hilfe“ wurde gestoppt. Sie zwang abgelehnte Asylsuchende, sich auf den Polizeiposten des Genfer Flughafens zu begeben, um weiterhin Nothilfe zu bekommen. Zur gleichen Polizei, die sie danach ausschaffen wird, meistens mit Gewalt, gefesselt und geknebelt im Flugzeug. Auch wenn die abgelehnten Asylsuchenden seit dem 2. Juli nicht mehr für einen Stempel zum SARA (Service d’asile et de rapatriement de l’aéroport) gehen müssen um Not”hilfe” zu bekommen, erleiden sie weiterhin Gewalt durch feindselige Funktionäre des OCPM (Office cantonal de la population et des migrations) und leben mit der ständigen Angst, von der Polizei während ihrer obligatorischen Besuche in den Räumlichkeiten des OCPM eingeknastet zu werden. Der Kampf geht weiter!

Am 1. März 2018 haben die OCPM am Gängelband des Regierungsrates Pierre Maudet beschlossen, die Schikanen für die abgelehnten Asylsuchenden noch zu verschärfen, indem sie eine repressive und perverse Massnahme aus dem Hut zauberten: Von diesem Datum an zwang das OCPM die abgewiesenen Asylsuchenden, welche auf Not“hilfe“ angewiesen sind, zuerst beim SARA einen Stempel zu holen, bevor sie den ihren herausrücken. Um das Minimum zu erhalten das ihnen das Überleben ermöglicht, sahen sich die vom „Asyl“ Ausgeschlossenen damit konfrontiert, von nun an bei zwei Schaltern vorbeizugehen um zwei Stempel zu bekommen. Dies erhöhte den permanente Angstzustand, in dem sie der Staat haben will.

  • Am 15. März wurde ein erster Brief mit der Forderung, dieses unmenschliche Prozedere abzuschaffen, durch die Coalition article 12 (50 unterzeichnende Organisationen) an den Regierungsrat geschickt. Darauf folgte nur eine lakonische Bestätigung durch Regierungsrat Pierre Maudet, man habe den Brief erhalten. Er sagte, das neue Prozedere sei im Rahmen einer „Testphase“ eingeführt worden und dass auf die Unterzeichnenden des Briefes zurückzukomen sei, sobald diese Testphase abgeschlossen sei. Jedoch ohne einen konkreten Zeitpunkt des Austausches zu nennen…
  • Am 28. März versammelten sich 200 Leute vor den Büros des Regierungsrates, um diese neue Praxis und generell das repressive Arsenal zu verurteilen, dass sich auf die Leute entlädt, die im Kanton Genf im Exil sind (Administratifhaft-Knäste, Bundeslager in Grand-Saconnex, Ausschaffungen etc.)
  • Am 13. April versammelten sich 200 Leute um ihre Wut gegen die neue Massnahme der Polizeischikane gegen Geflüchtete herauszubrüllen. Diesmal vor den berüchtigten Räumlichkeiten der OCPM in Onex
  • Am 9. Mai trafen sich um die vierzig Leute in den Räumlichkeiten des „Hospice général“ [zuständig fürs Sozialwesen im Kt. Genf] um einen Brief mit der Forderung abzugeben, dass sich die Kader dieser Institution öffentlich gegen diese neue Massnahme positionieren sollen. Während jedem dieser Zusammenkünfte haben Leute die jeden Tag die Hölle der administrativen und polizeilichen Schikane durchleben mutigerweise die Situationen geschildert, in die sie durch die geschilderten Massnahmen geworfen werden.
  • Während am 25 Mai noch keine seriöse Antwort vom Regierungsrat gekommen war, verschickte die Coalition article 12 einen zweiten Brief (54 unterzeichnende Organisationen) an Pierre Maudet um ihn daran zu erinnern, diese rechtswidrige Massnahme zu stoppen. Immer noch keine Antwort.
  • Am 25. Juni haben sich die Regierungsräte Maudet, Poggia und Apothéloz endlich getroffen, um das Ganze zu besprechen. Wir haben ein paar Tage später erfahren, dass die Massnahme am 1. Juli gestoppt werden soll. Während wir vier Monate darauf warten mussten, dass die Behörden reagieren, haben sie bis zu ihrer Pressmitteilung vom 27. Juni nichts kommuniziert. Erst am 2. Juli hat die Coalition article 12 einen Brief von Maudet erhalten, datiert auf den 29. Juni. Darin wird das Ende des „Probeversuchs“ am 1. Juli und die „momentane“ Rückkehr zum vorherigen Zustand beschrieben. Das alles nicht ohne die Gewalt dieser neuen Praxis kleinzureden und die Angst der Menschen zu verunglimpfen, die sich zur Polizei begeben müssen, die für Ausschaffungen vom Flugplatz zuständig sind. Mit der Begründung, dass „die neue Prozedur, die weitgehend eingehalten wurde, keine Quelle von spezieller Angst oder Verwundbarkeit für die betroffene Bevölkerung gewesen sei“.

Das Collectif Perce frontières freut sich über den siegreichen Ausgang dieses schönen Kampfes. Aber wir sind uns sehr bewusst dass wir nach vier Monaten Mobilisation nur die Rückkehr zum status quo des repressiven Dispositifs erreicht haben, das sich täglich auf die Geflüchteten in Genf und in erweitertem Kontext in der Schweiz und in Europa niederschlägt.

Grundsätzlich ist die Not„hilfe“ keine Hilfe, sondern eine zynische Einrichtung um abgewiesene Asylsuchende zum Untertauchen zu bringen, ein Werkzeug zur Kontrolle und Repression.

Keine Hilfe, die diesen Namen verdient, kann an eine polizeiliche Kontrolle gekoppelt werden. Das collectif Perce-frontières ist der Meinung dass es mehr denn je Zeit ist, gegen diese als Hilfe getarnte Verfolgung anzukämpfen. Das durch eine breite Vereinigung der Kräfte, die dieses rassistische System anwidert.

Was die Situation in Genf betrifft konnten wir in diesen vier Monaten „Testphase“ feststellen, dass sich das „Hospice général“ (wenn auch sehr diskret) einer neuen Vorgehensweise entgegenstellen konnte die die Lage von Leuten, welche das Hospice unterstützt, verschlechtert. Tatsächlich hat das Hospice den Leuten die wollten (oder mehr die davon wussten und sich getrauten) die Möglichkeit angeboten, die Not„hilfe“ auch ohne jegliche Stempel zu bekommen. Diese Reaktion des „gesunden Menschenverstandes“ hat uns dazu gebracht zu denken, dass diese Institution ihren Gedankengang so weit erweitern könnte, dass sie sich grundsätzlich weigert, ihre Hilfe an irgendwelche Polizeikontrollen zu binden.

Also wenn auch seit dem 2. Juli niemand mehr zum SARA für einen Stempel rennen muss, sind die abgewiesenen Asylsuchenden immer noch der Gewalt feindseliger Funktionäre des OCPM und der Angst ausgesetzt, bei den obligatorischen Besuche dieser Orte von der Polizei eingeknastet zu werden. Zusätzlich müssen die Leute, die ihre Not„hilfe“ während diesen vier Monaten auch ohne Stempel erhalten haben, nun wieder beim OCPM vorbei, wenn sie sie weiterhin beziehen wollen. Dadurch sind sie wieder der Bedrängnis einer unsinnigen Prozedur ausgesetzt, gegen die sich das Hospice général wehren könnte.

Als das OCPM am 1. März dieses neue Verfahren einführte und als „technische Entscheidung“ betitelte, hat sie den zu dieser neuen Demütigung gezwungenen Leuten nur einen Plan des Flughafens mit dem Standort des SARA und seinen Öffnungszeiten gegeben. Solidarische Leute der Bevölkerung, vor allem aus den Organisationen und Kollektive die bei der Coalition article 12 mitmachen haben entschieden eine Bereitschaftsdienst für die tägliche Begleitung auf die Beine zu stellen. Wärehnd dieser Bereitschaft konnten wir feststellen, das die Ausschaffungsmaschinerie des Genfer Staats auf hochtouren fährt. So haben praktisch täglich bei der SARA angestellte Personen dabei geholfen, Leute, an Füssen und Händen gefesselt und von der Polizei eskortiert, abzuführen. Für die solidarischen Personen ist das eine Erinnerung, auf was die Politik des institutionellen Rassismus hinausläuft. Für die abgewiesenen Asylsuchenden ist es die Folter, [durch ihren Gang zu den Behörden] zu ihrem Albtraum beizutragen.

Dieses x-te repressive Verfahren, welches im Juli abgeschafft wurde reiht sich ein in eine generelle Politik damit Genf kein Kanton der Begrüssung sondern einer der Kriminalisierung, der Einknastung und der Auschaffung Geflüchteter ist – und ihre Leitfigur ist Pierre Maudet.

Das Projekt zur Errichtung eines Bundeslagers in Grand-Saconnex ist heute das Symbol dieser Politik. Die Regeln in diesem Lager sprechen für sich was die „Knastifizierung“ des Lebens von Asylsuchenden betrifft: Schule für die Kinder nur im Lager selbst, restriktive Zeitpläne, obligatorisches An- und Abmelden beim Verlassen des Lagers, Durchsuchungen, Bestrafungen, Abnahme digitaler Fingerabdrücke, Administratifhaft-Zentrum im gleichen Gebäude… Dieses Lager der Schande darf nie in Betrieb genommen werden, weder in Grand-Saconnex noch anderswo!

Während wir die Abschaffung dieser perversen Prozedur feiern, werden wir weiter für die Trennung von Not„hilfe“ und Polizeikontrolle ankämpfen und gegen alle Gesetzte und Vorgehen, die die Illegalisierung und Repression gegen Geflüchtete vorantreiben, vorgehen.

Das collectif Perce-frontières (Mitglied der Coalition article 12), 9. Juli 2018

Kontakt: perce-frontieres@noborders.ch