Migration. Schweiz. Eine Mobilisierung in Fribourg und ein wenig Kontext

Nieder mit dem Röstigraben! Eine Übersetzung dieses Artikels von A l’encontre


Am 20 Juni haben über 300 Personen in Fribourg demonstriert. Im Zentrum der Demo standen zwei Forderungen, welche an die politischen Autoritäten des Kantons gestellt wurden: Der Verzicht auf Ausschaffungen von Asylsuchenden nach Äthiopien oder Erithrea und die Regularisierung von abgewiesenen Asylsuchenden, welche unter dem System der Nothilfe leben.

Die dringende Zersetzung

Die Demo vom 20. Juni wurde von einer Gruppe zurückgewiesener Asylsuchender angestossen, Poya Solidaire. Die Gruppenmitglieder leben unter dem erniedrigenden Regime der Nothilfe. Ein Regime, welches den Asylsuchenden aufgezwungen wird, auf deren Asylgesuch nicht eingetreten wurde oder welche einen Negativbescheid erhielten. Dies kommt einer totalen Verneinung ihrer Rechte gleich: Keine Aufenthaltserlaubnis, kein Recht auf Arbeit oder Ausbildung, Entzug des Rechtes auf freie Bewegung über die Kantonsgrenzen hinaus, kein Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs und kein Ausgang am Abend. Nothilfe ist begrenzt auf 10 Franken pro Tag und diese müssen jeden Tag von neuem verlangt werden. Mit diesen 10 Franken muss Essen, Kleidung und Transport bezahlt werden. Zudem besteht ein Verbot auf ein Handyabo. Bei all dem kommen noch die Demütigungen und der Druck hinzu, die wöchentlich beim erzwungenen Gang zur Fremdenpolizei entstehen.

Das Nothilfe-Regime ist schwarz auf weiss durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) festgeschrieben: „ Bei den betroffenen Personen soll keine Hoffnung auf eine Perspektive mit Aufenthalt geweckt werden“[1]. Kurz gesagt: Sie hinausekeln, damit sie die Schweiz schnellstens verlassen.

Fast 11’000 Personen

Dieser Prozess der sozialen Desintegration wurde 2016 10’614 Menschen aufgezwungen, wenn wir den Statistiken des SEM glauben können. Die Zahl der Betroffenen stieg 2017 auf 11’000 an [2]. Im dritten Quartal 2016 waren 51% der Migrant*innen in der Nothilfe seit mehr als einem Jahr von diesem Regime betroffen. Das SEM nennt sie „Langzeitbeziehende“ (LAB). Im ganzen Jahr 2016 machten diese sogenannten LAB 31% der Nothilfebeziehenden aus. Diese Realität bestätigt das Scheitern dieses Regimes sogar unter dem Gesichtspunkt der Ziele des SEM.

In Fribourg traf die Nothilfe 2016 214 Personen. Die Mehrheit von ihnen lebt in alten Kasernen, die vom Unternehmen ORS AG betrieben werden. Es handelt sich um wahre Brutstätten der Verzweiflung, der psychischen und physischen Beeinträchtigungen.

Angedrohte Auschaffungen

Dieser Verzweiflung kommt die Angst vor einer jederzeit möglichen Ausschaffung hinzu. Für viele der Geflüchteten aus Äthiopien und Eritrea hat diese Furcht in den letzten Monaten noch stark zugenommen.

Anfangs April hat der Tagesanzeiger die Existenz eines „geheimen“ Abkommens zwischen der EU und der äthiopischen Regierung öffentlich gemacht, welches die Schweizer Regierung übernehmen wolle [3]. Dieses Abkommen, das von Amnesty International als „höchst problematisch“ bezeichnet wurde, sieht vor, dass Geflüchtete mit abgelehntem Asylantrag gegen ihren Willen nach Äthiopien ausgeschafft werden können. Das Abkommen impliziert die Zusammenarbeit und die Weitergabe von Informationen an die äthiopischen Geheimdienste. Diese sind wegen ihrer wiederholten Menschenrechtsverletzungen bekannt. Dies bedeutet eine enorme Gefahr für die Leute, die zukünftig ausgeschafft werden sollen.

Diese Realität geht den Repräsentanten des Schweizer Staates am Arsch vorbei. Ebenso wie die internationalen Berichte über die von der äthiopischen Diktatur durchgeführten Massaker und die humanitäre Krise die sich in Äthiopien anbahnt. [4]. Ihre Prioritäten sind auf einer anderen Ebene, derjenigen der potentiellen Profite, welche der äthiopische Markt für die schweizer Multis bereithält [5].

Parallell dazu erhöhen das SEM und die Bundesanwaltschaft den Druck auf die äthiopischen Asylsuchenden. „Die Voraussetzungen sind gegeben für Ausschaffungen nach Eritrea“, sagte der SEM-Direktor Mario Gattiker der Tageszeitung Le Temps [6]. Natürlich sind sie das nicht. Das eritreische Regime bleibt besonders repressiv und brutal, was durch alle internationalen Berichte bestätigt wird. Aber der Druck ist auf die eritreischen Exilant*innen in der Schweiz gerichtet. Er wird gerade verstärkt durch einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts, nach dem die Ausschaffung nach Eritrea zumutbar ist, auch wenn die asylsuchende Person riskiert, dort zum Militärdienst gewzungen zu werden. „Die Ausschaffung wird einfacher sein“, titelte die NZZ [7].

Netzwerk der Solidarität

Dieser Kontext erklärt unter anderem die wiederholte Mobilisierung der eritreischen und äthiopischen Communities in den letzten Monaten, welche in Opposition zur jeweiligen Regierung stehen. Ihre Mitglieder waren insbesondere in grosser Zahl an der nationalen Demo „Zwischen uns keine Grenzen“ am 16. Juni in Bern präsent.

Die Geflüchteten mit eritreischem und äthiopischem Hintergrund waren auch am 20. Juni in Fribourg zahlreich vertreten. An ihrer Seite solidarische Leute mit und ohne Schweizer Pass.

Sprechgesänge für die kollektive Regularisierung von Sans-Papiers, welche mit voller Stimme wiedergegeben wurden, haben auch ein Netz der Kontinuität gespannt zwischen dieser im Entstehen begriffenen Solidarität und den grossen Mobilisierungen für die Regularisierung der Sans-Papiers, welche in Fribourg anfangs der Nullerjahre organisiert wurden.

In den letzten Monaten hat sich eine Solidaritätsbewegung um das Kollektiv Poya Salidaire gebildet. Sie konstituiert sich rund um die coordin’action Fribourg solidaire. Diese wurde im April auf die Beine gestellt. Das Ziel ist es, sich zusammenzuschliessen rund um die Kämpfe der illegalisierten und prekarisierten Geflüchteten. Es finden sich darin Geflüchtete mit verschiedenem Status, das Kollektiv Bleiberecht, linke – meist junge – Aktivist*innen linker Organisationen und Parteien (SP, JUSO, solidaritéS, Plate-forme anticapitaliste à Fribourg, Jeunes POP, Grüne) sowie Leute die sich in den letzten Jahren zusammen mit Geflüchteten an Solidaritätsinitiativen beteiligten, also Sachen wie Empfang, Unterstützung, Animation, Sprachkurse, Mahlzeiten etc.

Die Ausschaffungsmaschine

Nach den Forderungen von Poya Solidaire hat sich der Regierungsrat von Fribourg im Moment nicht für eine Verweigerung der Ausschaffungen ausgesprochen. Dem Kampf gegen Ausschaffungen und für die Regularisierung von MigrantInnen weht vielmehr ein starker Wind entgegen.

„Die Bilanz der Asylpolitik von Simonetta Sommaruga ist besser als ihre Kritiker glauben lassen wollen“ schrieb vor kurzem die NZZ [8]. Sie unterstrich mit Wohlgefallen die „Entschiedenheit“ mit welcher die SP-Bundesrätin im Vorstand des Justiz- und Polizeidepartements die Maschine der Ausschaffungen von abgewiesenen Asylsuchenden und „Dublinfällen“ am Laufen hält. Diese Praxis umreisst laut der NZZ eine „glaubhafte“ Politik. Mit Resultaten: 2017 gab es in der Schweiz nur 18’000 Asylanträge, die tiefste Anzahl seit 2010. Ein Ergebnis, dass auch Christoph Blocher nicht ablehnen würde.

Neue Verschärfungen am Horizont

Im Kontext einer tiefen ökonomischen, politischen und sozialen Krise sind die Verschärfungen des Migrationspolitik in den Zentrumsländern noch lange nicht zu Ende. Die „Vereinbarung über die Migration“, welche erst gerade am EU-Gipfel in Brüssel ausgehandelt wurde, zeigt die eingeschlagene Richtung auf: Einsperren und sortieren eines Maximums der Geflüchteten in den „hot spots“ ausserhalb der EU. Gewisse wollen noch weiter gehen. Der österreichische Minister Herbert Kickl von der FPÖ – der rechtsextremen Partei welche zusammen mit den Konservativen regiert – „will auch, dass das Asylrecht komplett aus der EU ausgelagert werde. Kein einziger Migrant soll mehr einen Asylantrag auf europäischem Boden stellen können“ [9].

In einem Punkt sind sich alle Länder der EU einig: Die Rückschaffung von Geflüchteten durch die Küsten- und Grenzwachen der Festung Europa soll weiter ausgebaut werden. Auch wenn – paradoxerweise – „die EU noch nie so geringe Migrationsströme erlebt hat“ [10].

Die Konsequenzen dieser Verschärfungen ohne Ende sind angsteinflössend. Laut Ärzte ohne Grenzen sind „600 Personen die versuchten das Mittelmeer zu überqueren sind in den letzten vier Wochen ertrunken, darunter Babys und kleine Kinder.“ laut ÄoG „sind diese Tragödien, die die Hälfte aller Toten in der Zone 2018 repräsentieren, bewusst produziert worden, da keine Rettungsschiffe von nichtstaatlichen Organisationen mehr im Mittelmeer aktiv sind.“[11] Die neue italienische Regierung macht bereits ihren Einfluss spürbar.

Die Solidaritäten verstärken

Diese barbarische Politik generiert nicht nur Gleichgültigkeit oder Zustimmung. Auch in der Schweiz versuchen tausende von empörten Leuten mit Geflüchteten solidarische Initiativen aufzubauen. Diese Solidarität nimmt verschiedene Formen an wie die Aufnahme in Familien, Sprachkurse, Orte des Zusammenlebens, Mahlzeiten, Demonstrationen und Besetzungen.

Diese Initiativen können und müssen verstärkt werden. Und sich wo immer möglich mit den Kämpfen für die kollektive Regularisierung und die Rechte aller Migrant”innen verbinden.

Die Organisationen der Exilierten unterstützen, Bewegungen aufbauen um sie zu verstärken, die verstreuten Solidarisierungen in kämpfende, möglichst grosse Bewegungen umformen. Das ist ein unumgänglicher Graben für alle, die konkret beabsichtigen, gegen die tiefen Spaltungen zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten im kapitalistischen System in der Krise anzukämpfen. Diese Spaltungen begleiten und erleichtern das brachiale Hinterfragen der Arbeits- und Lebensbedingungen, welche die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen niederknüppeln.

Dieses Programm ist sowohl mühsam als auch unverzichtbar. Jeder Kampf, schreibt sich in eine konkrete Realität hinein. In Fribourg wird die Herausforderung der kommenden Monaten darin bestehen es zu schaffen, die Mobilisierungen gegen die Auschaffungen und für die Regularisierung der MigrantInnen in der Nothilfe zu verstärken [12]. Das ist die unverzichtbare Voraussetzung damit es gelingt, Menschen der Auschaffungs- und Spaltungsmaschinerie zu entreissen.

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[1] SEM: Questions fréquentes sur l’exclusion de l’aide sociale et l’aide d’urgence. Février 2017.

[2] SEM: Rapport de suivi sur la suppression de l’aide sociale. Berne-Wabern, juin 2017.

[3] Tages Anzeiger, 5 avril 2018.

[4] Voir le communiqué du CICR: Éthiopie: la violence à l’origine de déplacements massifs sur fond de saison des pluies. 12 juillet 2018.

[5] Le Temps, 5 juin 2018.

[6] Le Temps, 10 avril 2018.

[7] NZZ, 13 juillet 2018.

[8] NZZ, 21 avril 2018.

[9] Le Monde, 12 juillet 2018.

[10] Le Monde, idem.

[11] Le Monde, idem.

[12] Eine Petition um die Demonstrierenden zu unterstützen kann hier unterschrieben werden : https://www.change.org/p/conseil-d-etat-fribourgeois-non-aux-expulsions-vers-l-ethiopie-et-erythr%C3%A9e