Medienspiegel 29. April 2018

+++LUZERN
Gemeinden haben kein Recht, sich gegen die Zuteilung von Asylsuchenden zu wehren
LUZERN ⋅ Der Kanton hat Neuenkirch während der Flüchtlingswelle im Jahr 2016 rund 30 Asylsuchende zur Unterbringung zugewiesen. Die Gemeinde wehrte sich dagegen. Das Kantonsgericht entschied nun, dass sie dazu gar nicht berechtigt ist.
http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/zentralschweiz/luzern/in-sachen-asyl-haben-die-gemeinden-nichts-zu-melden;art178318,1242713

Sie putzen Luzerns Stuben ohne Papiere
SANS-PAPIER ⋅ Irina lebt seit fast sechs Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in Luzern. Auch wenn sie in diesem Land «alles liebt», muss sie doch auf viel scheinbar Selbstverständliches verzichten.
http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/zentralschweiz/luzern/sie-putzen-luzerns-stuben-ohne-papiere;art9647,1243158

+++SCHWEIZ
An den Schwächsten vergangen
Eine nationale Auswertung beziffert erstmals die Kriminalität in Flüchtlingsheimen – Sexualdelikte nehmen zu.
https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/an-den-schwaechsten-vergangen/story/17170995
-> http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Sexualdelikte-in-Asylzentren-nehmen-zu-10109348
-> https://www.telem1.ch/35-show-aktuell/23570-episode-sonntag-29-april-2018/57013-segment-sexualdelikte-in-asylzentren-nehmen-schweizweit-zu#sexualdelikte-in-asylzentren-nehmen-schweizweit-zu

+++MITTELMEER
»Es bleibt was hängen, wenn man mit Dreck beworfen wird«
Zivile Seenotretter werden immer wieder bezichtigt, mit Schleppern zu kooperieren. Gespräch mit Ruben Neugebauer
https://www.jungewelt.de/artikel/331666.es-bleibt-was-h%C3%A4ngen-wenn-man-mit-dreck-beworfen-wird.html

+++FREIRÄUME
Ein Fest für zwei Kühlschränke
Statt Lebensmittel fortzuwerfen, soll man sie verschenken, findet «Thun isst Thun». Wer will, kann seit Mitte März bei der Schönaukirche und beim AkuT Esswaren bringen oder holen. Mit Konzerten und einem gemeinsamen Abendessen feierte der Verein am Freitagabend die Einweihung.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/163999/

+++NEKANE FREE
Vom Gefängnis ans Rednerpult: Baskische Politikerin will Entschädigung für Haft
Die Baskin Nekane Txapartegi sass 17 Monate in der Schweiz in Haft. Dafür will sie nun entschädigt werden. Die Gewalt der ETA verurteilt sie nicht. Am 1. Mai spricht sie auf dem Zürcher Sechseläuteplatz.
https://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/vom-gefaengnis-ans-rednerpult-baskische-politikerin-will-entschaedigung-fuer-haft-132488435#
-> https://www.watson.ch/!338878486

+++KNAST
Straftäter in Therapie: «Die Leute hier sind ziemlich gemütlich»
Herr Fischer* ist Patient auf der forensischen Abteilung der Psychiatrischen Dienste Aargau. Dass er nach der U-Haft hierher kam, sei «ein Glück», sagt er.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/straftaeter-in-therapie-die-leute-hier-sind-ziemlich-gemuetlich-132489313

+++POLIZEI AG
Wohnung gestürmt und Mann mit Schüssen schwer verletzt: Argus-Einsatz kommt vor Bundesgericht
In Wohlen wurde vor neun Jahren bei einem Einsatz der Spezialeinheit Argus ein Mann schwer verletzt. Mit dem Fall beschäftigen sich nun auch die obersten Richter.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/wohnung-gestuermt-und-mann-mit-schuessen-schwer-verletzt-argus-einsatz-kommt-vor-bundesgericht-132494413
-> https://www.telem1.ch/35-show-aktuell#polizeieinsatz-wohlen-wird-fall-fuer-bundesgericht

+++POLIZEI CH
2017 wurden 726 Meldungen gegen Beamte des Bundes registriert
Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) hat im vergangenen Jahr 726 Meldungen von Politikern, Richtern und Bundesangestellten wegen Drohungen registriert. In zehn Prozent aller Fälle ging die Bundespolizei von einer ernsthaften Bedrohung aus.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/2017-wurden-726-meldungen-gegen-beamte-des-bundes-registriert-132494128
-> https://www.watson.ch/Schweiz/Blaulicht/219581388-Im-letzten-Jahr-wurden-726-Drohungen-gegen-Beamte-des-Bundes-registriert
-> https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/politiker-geraten-haeufiger-unter-beschuss/story/29632778

Gegenwind für Sommaruga: Maudet verschärft Kurs der Kantone
Der neue Präsident der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren verlangt eine selbstbewussteren Umgang im Verhältnis mit dem Bund und SP-Ministerin Simonetta Sommaruga.
https://www.blick.ch/news/politik/gegenwind-fuer-sommaruga-maudet-verschaerft-kurs-der-kantone-id8317281.html

NZZ am Sonntag 28.04.2018

Polizeidirektor Pierre Maudet: «Wir brauchen mehr Polizisten, rund 2000 Leute zusätzlich»

Pierre Maudet, oberster Schweizer Polizeidirektor, fordert mehr Stellen für Polizisten. Die Cyberkriminalität und Grossereignisse wie das WEF und Staatsbesuche machten diese nötig.

von Andrea Kučera

NZZ am Sonntag: Pierre Maudet, als neuer Präsident der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) besetzen Sie eine Schlüsselposition in der Schweizer Sicherheitspolitik. Welche Probleme möchten Sie anpacken?

Pierre Maudet: Wir können gerne über die grössten Herausforderungen wie Cyberkriminalität, Terrorismus und organisiertes Verbrechen sprechen. Die vorgelagerte Frage aber lautet: Wie kann man auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit einer Struktur aus dem 19. Jahrhundert reagieren? Wir drehen uns in der interkantonalen Zusammenarbeit im Kreis. Bei jeder neuen Bedrohung handelt zunächst jeder Kanton für sich, bis man später merkt, dass alle das Gleiche machen. Nachgelagert wenden wir dann wahnsinnig viel Energie auf, um polizeiliche Vereinbarungen und Konkordate zu schliessen. Unser Rückstand auf die Kriminalität wird immer grösser.

Nennen Sie ein Beispiel.

Man kann etwa Cyberkriminalität nicht auf kantonaler Ebene bekämpfen. Gerade kleinere Polizeikorps haben nicht die Ressourcen, um dieses Problem vollumfänglich anzupacken. Zudem konkurrenzieren sich die Kantone bei der Rekrutierung von Cyber-Spezialisten gegenseitig. Und im Bereich des organisierten Verbrechens nutzen mafiöse Organisationen wie die ’Ndrangheta die föderalen Strukturen aus, um einer Strafverfolgung möglichst zu entgehen.

Was schlagen Sie vor, die Abschaffung der kantonalen Polizeihoheit?

Auf keinen Fall. Ich bin ein Verfechter des Föderalismus. Gerade bei der Terrorprävention braucht es lokal verankerte Polizisten, die den Imam im Quartier und die Sozialarbeiter kennen. Aber wir müssen agiler werden und mehr im Verbund arbeiten. Die Schaffung eines nationalen Kompetenzzentrums für Cyberkriminalität ist ein guter Anfang. Was aber fehlt, ist eine nationale Polizei-Reserve, die im Notfall aktiviert werden kann. Selbst bei einem planbaren Grossereignis sind wir heute am Limit.

Werden Sie konkret.

Im Januar 2017 besuchte der chinesische Präsident die Schweiz, während gleichzeitig das WEF in Davos und eine Zypern-Konferenz in Genf stattfanden. Wir schafften es nur mit Mühe und Not, genügend Polizisten bereitzustellen. Aktuell denkt die Schweiz darüber nach, 2026 olympische Winterspiele auszurichten. Falls dann gleichzeitig etwas Unvorhersehbares passiert, bin ich mir nicht sicher, ob wir genug Personal haben, um die Sicherheit zu gewährleisten.

Wie viele zusätzliche Polizisten fordern Sie?

Im Schnitt kommt in Europa ein Polizist auf 277 Einwohner. In der Schweiz beträgt das Verhältnis 1 zu 455. Wir brauchen hierzulande 10 bis 15 Prozent mehr Polizisten, also rund 2000 Leute zusätzlich, die man je nach Bedarf einsetzen könnte.

Und woher soll das Geld kommen für 2000 neue Stellen?

Die Wirtschaft boomt, die Steuereinnahmen steigen. Man muss nirgends Abstriche machen, um 15 Prozent mehr Polizisten einzustellen zu können. Der Bund hat letztes Jahr einen Überschuss von 9 Milliarden Franken erzielt. Man könnte einen Teil dieses Geldes in die Sicherheit investieren. Es gäbe zudem ein einfaches Mittel, um mehrere Millionen jährlich freizuspielen.

Nämlich?

Es ist ein Skandal, dass Telekomanbieter wie Swisscom das Abhören von Telefongesprächen in Rechnung stellen. Diese Bezahlpflicht ist in Europa einzigartig und verteuert die polizeiliche Aufklärungsarbeit. Von der Swisscom, ursprünglich ein Staatsbetrieb, ist dieses Vorgehen besonders stossend. Es wäre ein Einfaches für den Bund, den Telekomanbietern nur eine Konzession zu erteilen, wenn sie für Abhörungen kein Geld verlangen. Ich verstehe nicht, weshalb das nicht gemacht wird.

Angenommen, das Geld ist tatsächlich vorhanden. Worauf würden Sie die zusätzlichen Leute ansetzen?

Ich erachte die Möglichkeit eines Cyberangriffs als die grösste Bedrohung. Hier müssen wir aufrüsten. Als Wirtschaftsminister sehe ich, welche Probleme mit der steigenden Internetkriminalität einhergehen.

Und die wären?

Es ist heute leider gang und gäbe, dass Firmen gehackt und erpresst werden: Falls sie nicht so und so viele Bitcoins zahlen, werden die gestohlenen Daten auf dem Dark Web verteilt. Um ihren Ruf nicht zu ruinieren, lassen sich gerade kleine KMU lieber erpressen, als Anzeige zu erstatten. Das Bild, das auf diese Weise vom Schweizer Wirtschaftsstandort vermittelt wird, ist aber verheerend: Es entsteht der Eindruck, Firmen seien in der Schweiz nicht geschützt.

Was können ein paar zusätzliche Polizisten dagegen ausrichten?

Sie können präventiv gegen Cyberkriminalität vorgehen. Und sie können proaktiver einfordern, dass Anzeige erstattet wird.

Auch im Kampf gegen den islamistischen Terror stösst das föderalistische System an seine Grenzen. Wie können 26 Kantone zu einer gemeinsamen Strategie finden?

Als Erstes müssen alle Akteure besser zusammenarbeiten. Und wir müssen gemeinsame Datenbasen betreiben. Es ist haarsträubend, dass wir noch immer kein nationales Gefangenenregister haben. Wir werden ein nationales Register von Schwarzfahrern haben, aber keines für Häftlinge.

Wieso braucht es ein solches Register in der Terrorabwehr?

Weil in Schweizer Gefängnissen potenzielle Terroristen sitzen. Es ist eine Tatsache, der wir ins Auge blicken müssen: Gefängnisse sind Brutstätten der Radikalisierung – auch hierzulande. Und deshalb müssen alle Kantone Bescheid wissen, wenn ein solcher Häftling seine Strafe abgesessen hat und wieder auf freiem Fuss ist.

Ein wichtiges Problem, das vor allem in der Deutschschweiz zu reden gibt, haben Sie nicht angesprochen: den Hooliganismus.

Die Gewalt im Sport ist ein Problem, aber in erster Linie ein gesellschaftliches. Der gesetzliche Rahmen stimmt, um dem Problem Herr werden zu können. Wir müssen nur die Gesetze richtig anwenden.

Sind Sie sicher? Das Hooligan-Konkordat wurde 2011 verschärft. Trotzdem eskaliert die Gewalt regelmässig. Wie können die Klubs zur Verantwortung gezogen werden?

Sie müssen sich stärker an den Sicherheitskosten beteiligen. Es geht nicht an, dass die Kantone die Klubs indirekt subventionieren, indem sie für die Sicherheit an den Spielen aufkommen. Ich plädiere dafür, dass sich der Anstieg der Sicherheitskosten auf dem Eintrittspreis niederschlägt. Auf jedem Ticket muss vermerkt sein, welcher Anteil ins Sicherheitsdispositiv fliesst. Die Leute müssen merken: Je mehr Volltrottel Radau machen, desto teurer wird der Matchbesuch. Das erhöht die soziale Kontrolle.

Und diese Massnahme nimmt die Klubs in die Verantwortung?

Indirekt ja. Sie kassieren das Geld für die Tickets und entschädigen im Anschluss die Kantone für die Polizeiarbeit. Wenn die Tickets immer teurer werden und die Leute nicht mehr an die Spiele kommen, dann sind die Klubs gezwungen, stärker auf ihre Fans Einfluss zu nehmen.

Wie stehen Sie zur Idee, Polizisten in den Stadien zu stationieren?

Das wird bereits gemacht. Es gibt die sogenannten Polizei-Spotter, welche die Fankurven nach Leuten absuchen, die in den einschlägigen Datenbanken registriert sind. Ich bin für ein hartes Durchgreifen, für Stadionverbote und Freiheitsstrafen. Aber einfach die Polizeipräsenz zu erhöhen, das ist zu wenig weit gedacht: Das kostet wahnsinnig viel, ohne dass das Resultat zwingend dem entspricht, was man sich erhofft.

Wenn man Ihnen zuhört, erhält man den Eindruck, Sie möchten lieber mehr Agenten für Terrorabwehr und Cyber-Security als mehr Polizisten bei Fussballspielen.

Terrorismus, Cyberkriminalität, organisiertes Verbrechen – das sind für mich heute die grössten Herausforderungen. Der Hooliganismus ist in meinen Augen kein brennendes Problem unserer Zeit.

Pierre Maudet: Seit 2017 im ganzen Land bekannt

Pierre Maudet ist ein guter Verlierer. Nachdem er am 20. September 2017 nicht in den Bundesrat gewählt worden war, sagte er: «Ich verliere nie. Entweder ich gewinne, oder ich lerne.» Der Genfer FDP-Staatsrat startete vergangenen Sommer als Aussenseiter ins Rennen um die Nachfolge von Didier Burkhalter.

Obwohl er am Schluss klar gegen den Tessiner Ignazio Cassis unterlag, war die Wahlkampagne für ihn ein Erfolg: Er, der in der Westschweiz seit längerem zu den bekanntesten Politikern gehört, konnte sich endlich auch in der Deutschschweiz einen Namen machen. Ein halbes Jahr lang hörte man danach ausserhalb von Genf nicht viel von Maudet.

Er konzentrierte sich auf sein Amt als Vorsteher des Genfer Wirtschafts- und Sicherheitsdepartements. Und er führte erneut Wahlkampf, diesmal mit Erfolg: Am 15. April wurde der 40-Jährige als einziges Mitglied der Genfer Regierung im ersten Wahlgang bestätigt. Zwei Tage zuvor hatte ihn die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren zum Präsidenten gewählt. Maudet folgt auf den Berner Hans-Jürg Käser.

Es ist ein Amt, das dem Juristen auf den Leib geschnitten ist. Denn Sicherheitsfragen begleiten Maudet seit Beginn seiner Politkarriere. Bereits als Mitglied der Genfer Stadtregierung kümmerte er sich um Polizei und Feuerwehr. Seit 2012 ist er kantonaler Justiz- und Polizeidirektor, seit 2013 führt er auch das Volkswirtschaftsdepartement. Und er ist schon lange überzeugt: Die Schweizer unterschätzen die Bedrohungslage. (aku.)
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/polizeidirektor-pierre-maudet-wir-brauchen-mehr-polizisten-rund-2000-leute-zusaetzlich-ld.1381690)
-> https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/oberster-polizeidirektor-will-2000-polizisten-mehr-fuer-die-schweiz/story/25620868

+++ANTIFA
Neonazis marschierten an Hitlers Geburtstag: Diese Schweizer feierten mit
«Schild und Schwert» hiess der Aufmarsch in der sächsischen Provinz. Auch Eidgenossen nahmen an dem Neonazi-Festival teil.
https://www.blick.ch/news/schweiz/zentralschweiz/neonazis-marschierten-an-hitlers-geburtstag-diese-schweizer-feierten-mit-id8317005.html
-> https://twitter.com/antifa_bern/status/990504106560278529

Lösch Dich! So organisiert ist der Hate im Netz I Doku über Hater und Trolle
Die Doku verfolgt ein Team, das undercover als Trolle und Hater im Netz unterwegs war und berichtet von gesteuerten Shitstorms, Mobbingattacken, Wahlmanipulationen. In der Doku sprechen sie mit Trollen, Nazis und Hatern, sind verdeckt in Trollnetzwerken unterwegs.
https://www.youtube.com/watch?v=zvKjfWSPI7s&feature=youtu.be

+++BIG BROTHER
(SoZe-Artikel als Quelle)
Bund will hochsensible Passdaten von Privaten erfassen lassen: «Das kann gewaltige Folgen haben»
Das Staatssekretariat für Migration (Sem) will das System für unsere Passdatenerfassung ersetzen. Mit der Ausschreibung können sich auch ausländische Firmen bewerben. Selbst aus zweifelhaften Ländern.
https://www.blick.ch/news/politik/bund-will-hochsensible-passdaten-von-privaten-erfassen-lassen-das-kann-gewaltige-folgen-haben-id8317473.html

Sonntagszeitung 29.04.2018

Künstliche Intelligenz auf der falschen Spur

Angeblich können Algorithmen die sexuelle Orientierung und kriminelle Neigung an Gesichtern ablesen. Doch in der Praxis entpuppen sich die Fähigkeiten oft als Täuschung.

Eva Wolfangel

Na klar, ein Schwuler! Man sehe sich nur das schmale Kinn, die lange Nase und die hohe Stirn an. Und lesbische Frauen erst, sie erkennt man natürlich an ihrem breiten Kinn und einer kleinen Stirnpartie. Zu diesem Ergebnis war im vergangenen Jahr ein KI-System gekommen, das Tausende Bilder von erklärtermassen homosexuellen Menschen analysiert und auf vermeintlich typische Gesichtsmerkmale abgesucht hatte.

Die Nachricht erregte enormes Aufsehen. Sollte derart die Physiognomik bestätigt sein – jene Pseudowissenschaft, die vorgibt, menschliche Eigenschaften im Gesicht ablesen zu können? Sie bildete im vergangenen Jahrhundert den Unterbau für Rassismus und Eugenik. Was war geschehen?

Forscher zieht Fehlschluss

Der Psychologe Michal Kosin­ski von der Stanford University, eigentlich ein renommierter Forscher, veröffentlichte die Studie im Herbst 2017. Gemeinsam mit Kollegen hatte er 35’000 Fotos einer Dating-Plattform samt Selbstauskunft über die sexuelle Orientierung benützt, um einen Bilderkennungs-Algorithmus zu trainieren. Die neuen Verfahren des maschinellen Lernens sind besonders gut darin, Muster in Daten zu finden.

Und die fand das System: Die Kriterien, anhand derer es den Menschen eine sexuelle Orientierung zuordnete, waren laut Kosin­ski unter anderem «feminine Gesichtszüge» in Männergesichtern (schwul), wenig Gesichtshaare (schwul), dunklere Haut (heterosexuell). 81 Prozent aller schwulen Männer habe das System korrekt erkannt, berichtete Kosinski, und 74 Prozent aller lesbischen Frauen. Der Forscher folgerte aus diesem Ergebnis, dass gewisse Gene zugleich die sexuelle Identität und das Äussere eines Menschen beeinflussen. Wie sonst könnte eine künstliche Intelligenz (KI) sexuelle Orientierung am Gesicht ablesen? Doch das war ein grober Fehlschluss.

Die Mode macht den Unterschied

Wollte man sich ein Beispiel ausdenken, das die Gefahren des maschinellen Lernens und vor allem die Missverständnisse zwischen Mensch und Maschine zeigt – man könnte kein besseres finden als diese Studie. Die neuen Mustererkennungsverfahren suchen sich nämlich selbst aus, nach welchen Kriterien sie Menschen oder Dinge klassifizieren. Manchmal sind das zufällige Korrelationen – und Menschen machen dann gerne den Fehler, dahinter Kausalitäten zu vermuten, so wie Kosinski. Andere Wissenschaftler bemängeln deshalb immer wieder, dass sie solchen Systemen nicht «in den Kopf» blicken können – dass man also nie wissen kann, welche Merkmale die KI als relevant einschätzt.

Zu den wenigen, die misstrauisch wurden angesichts des rasanten Comebacks der Physiognomik, gehört Alexander Todorov, Leiter des Social Perception Lab an der Princeton University. Im Gegensatz zu Kosinski arbeitet er nicht mit Algorithmen, sondern mit Menschen. Er untersucht, wie Stereotype und Vorurteile entstehen. «Auch Menschen sind besser darin als der Zufall, Schwule oder Lesben an ihrem Äusseren zu erkennen», sagt er. Doch das liege nicht etwa daran, dass Hormone bei Schwulen zu einer helleren Haut führten oder dass Lesben männ­lichere Gesichtszüge hätten. Das habe vor allem mit gesellschaftlichen Stereotypen zu tun.

Darauf deutet eine Studie, die Todorov gemeinsam mit Margaret Mitchell und Blaise Agüera y Arcas erstellt hat, zwei Experten für maschinelles Lernen bei Google Research. Sie befragten 8000 Freiberufler im Internet nach ihrer ­sexuellen Orientierung und ihren modischen Vorlieben. Dabei zeigte sich unter anderem, dass Hetero-­Frauen sich deutlich häufiger schminken als Lesben. Homosexuelle tragen häufiger Brillen, während Hetero-Männer Brillen eher vermeiden und auf Kontaktlinsen setzen. Das alles sind Merkmale, anhand derer eine KI Schwule und Lesben unterscheiden kann. «Aber das hat nichts mit Hormonen zu tun, wie Kosinski vermutete», erklärt Todorov – sondern mit bestimmten Moden und Lebensumständen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen.

Das Ende der modernen Physiognomik

Eine weitere Schwachstelle sind die Selfies: Wie sich Menschen fotografieren, unterliegt ebenfalls einer Mode. Hetero-Männer fotografieren sich selbst eher von unten (sie wirken dann grösser), Hetero-Frauen eher von oben (macht angeblich schöne grosse Augen), während Schwule und Lesben Selfies häufiger einfach direkt von vorne aufnehmen. Und genau diese Perspektive verschiebt die Proportionen der Gesichtszüge in jene Richtung, die Kosinski und dessen KI als typisch schwul oder lesbisch angenommen hat: So hätten schwule Männer schmalere Kiefer, längere Nasen und grössere Stirnen, während lesbische Gesichter grössere Kiefer, kürzere Nasen, kleinere Stirnen hätten.

Das ist das Ende der modernen Physiognomik: Kosinskis System erkennt Schwule einigermassen zuverlässig an sekundären, nicht biologischen Merkmalen. Die Schlussfolgerung ist falsch, dass uns die Genetik unsere sexuelle Orientierung ins Gesicht schreibt.

Auch die Statistik von Studien wie der von Kosinski muss richtig eingeordnet werden. So sind Erkennungsraten von 80 Prozent nicht mehr so spektakulär, wenn man weiss, dass für das Experiment je ein zufällig ausgewähltes Foto aus der Gruppe Homosexueller und ein zufälliges aus der Gruppe Heterosexueller ausgesucht wurden. Die Software musste nur eines der Bilder erkennen, das andere ergab sich daraus. Würde man also den Zufall entscheiden lassen, würde dieser bereits eine Erkennungsrate von 50 Prozent ­erzielen. Da sind 80 Prozent dann schon nicht mehr so beeindruckend.

Algorithmen entscheiden nach unerwarteten Kriterien

Ähnlich verhält es sich mit einer Studie chinesischer Forscher, die behaupteten, Kriminalität im Gesicht zu erkennen. Sie hatten ihre Software mit knapp 2000 Fotos gefüttert, die Hälfte davon waren verurteilte Straftäter. Ein neuronales Netz erkannte nun die ­Kriminellen mit 89,5 Prozent Treffsicherheit. Nur stammten die Bilder der Verurteilten aus einer anderen Datenbank als jene der Unschuldigen. «Die Verurteilten trugen alle T-Shirts», sagt Todorov. «Wenn man damit eine KI füttert, erkennt sie natürlich die Kriminellen: am T-Shirt.» Aber eben nicht am Gesicht. «Ein solches System macht dich nicht schlauer, sondern dümmer.»

Während die chinesischen Forscher und Kosinski ihre Ergebnisse als Erfolg verkaufen, wollen andere Forscher die Mechanismen der Algorithmen besser verstehen und herausfinden, nach welchen Kriterien neuronale Netze Bilder ordnen. Schliesslich ist es etwa bei autonomen Autos problematisch, wenn man nicht weiss, welche Merkmale im Strassenbild die KI am Steuer für wichtig erachtet. Und da geht es manchmal um unerwartete Details.

So war ein Algorithmus, der auf die Erkennung von Pferdefotos trainiert war, sehr gut beim Sortieren. Doch dann konnten Forscher um Wojciech Samek vom Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut in Berlin zeigen, dass es sich gar nicht auf spezifische Pferdemerkmale stützte, sondern lediglich auf die Copyright-Angabe am Rand der Bilder. Diese Gemeinsamkeit war den Forschern nicht aufgefallen.

Verkehrsschilder sind kein Problem

Das Forscherteam hat deshalb eine Methode entwickelt, mit der sich die Entscheidungen der neuronalen Netze nachvollziehen lassen. Sie lassen dafür ein Netz zur Bilderkennung rückwärts laufen und können so sehen, an welchem Punkt eine Gruppe von Neuronen welche Entscheidung getroffen hat und welches Gewicht diese für das Endergebnis bekam. So konnten sie etwa zeigen, dass sich eine Software bei Fotos von Zügen an den Gleisen und an der Perronkante orientierte – den Zug selbst hatte das Netz nicht für besonders wichtig erachtet. Es würde also womöglich auch auf einem Bild die Existenz eines Zuges annehmen, auf dem lediglich Schienen und ein Perron zu sehen sind.

Andere Forscher arbeiten an weniger fehleranfälligen Methoden der Bilderkennung. So entwickelt Marc Tschentscher von der Universität Bochum Software für autonome Fahrzeuge, die natürlich Verkehrsschilder zweifelsfrei erkennen müssen. Für das Training seiner ­Algorithmen hat er selbst einige Merkmale vorgegeben, auf die sich das Netz vor allem stützen soll, etwa die Farbe Rot, wenn es um ein Stoppschild ging. Das führt zu sehr zuverlässigen Ergebnissen, zumal es im Schilderwald eine überschaubare Anzahl an Motiven gibt. Selbst Regentropfen auf der Scheibe, ein wechselnder Sonnenstand oder ein Scheibenwischer im Bild verwirren die Systeme hier nicht mehr. ­«Verkehrsschilder gelten in der Bilderkennung als gelöst», sagt er. Immerhin das.

Neuronale Netze lassen sich optisch täuschen

Forscher um Seyed Moosavi von der ETH Lausanne haben Verkehrsschilder nur minimal verändert, indem sie die Werte der Pixel ein klein wenig verschoben. Für das menschliche Auge sind diese Veränderungen nicht sichtbar. Doch die künstlichen Intelligenzen liessen sich von den Manipulationen verwirren und austricksen.

Das Ergebnis: Die neuronalen Netze erkannten die Verkehrszeichen überhaupt nicht mehr, während sie für Menschen unverändert aussahen. Diese sogenannten Perturbationen sind quasi optische Täuschungen für neuronale Netze: Moosavis Team entwickelte allgemeingültige Muster, die eine Vielzahl selbst ausgeklügelter Netze durcheinanderbrachten, sodass sie etwa einen Joystick für einen Chihuahua und einen Socken für einen Elefanten hielten.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/kuenstliche-intelligenz-auf-der-falschen-spur/story/30435915)