Medienspiegel 2. März 2018

+++BASEL
Geschäft mit Flüchtlingen – Schwere Kritik an Asyl-Betreuungsfirma
Die Unterkünfte der Firma ABS seien teils menschenunwürdig. Einzelne Gemeinden haben ABS den Auftrag entzogen.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/geschaeft-mit-fluechtlingen-schwere-kritik-an-asyl-betreuungsfirma

+++SCHWYZ
Eine Asylunterkunft mit speziellem Betriebskonzept -RegionalDiagonal
Die Schwyzer Gemeinde Ingenbohl-Brunnen hat ein Haus für Asylsuchende gebaut mit einem speziellen und für die Zentralschweiz einzigartigen Betriebskonzept: Die Bewohnerinnen und Bewohner aus unterschiedlichen Ländern sorgen nämlich selber für Ruhe und Ordnung – der Hausabwart kommt aus den eigenen Reihen und sorgt unter anderem dafür, dass die richtigen Abfallsäcke in die richtigen Container kommen, so wie man das eben macht in der Schweiz. Das Konzept scheint aufzugehen – es gibt kaum Reklamationen, die ablehnenden Stimmen, die es vor der Eröffnung gegeben hat, sind verstummt.
https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=ebc4b327-aeab-4e60-9e48-51d2581942e7

+++SCHWEIZ
«Appel d’elles»: Rückschaffungen stoppen!
Frauen aus der Westschweiz haben 2017 den «Appel d’elles» lanciert. Die Petition, die am 8. März, dem Tag der internationalen Frauenbewegung, eingereicht wird, fordert den sofortigen Stopp der Ausschaffung von asylsuchenden Frauen und Kindern in Länder, die nicht in der Lage sind, für deren Sicherheit zu garantieren. Insbesondere geht es dabei um Italien. Allein 2016 sind rund 180 000 Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend in Italien angekommen – darunter unzählige Frauen und Kinder.
https://www.woz.ch/1809/appel-delles/rueckschaffungen-stoppen
-> Die Petition kann noch bis 8. März 2018 unterschrieben werden: http://www.appeldelles.ch

+++DEUTSCHLAND
Weltverbesserung durch Kooperation mit libyschen Milizen?
Ein wissenschaftliches Gutachten zur europäischen Kooperation mit der »libyschen Küstenwache« legt nahe: Dort werden internationale Konventionen verletzt. So weit, so schlecht. Fassungslos macht dann aber, dass die Bundesregierung die Kooperation tatsächlich zum Beitrag für eine »bessere und humanitärere« Welt erklärt.
https://www.proasyl.de/news/weltverbesserung-durch-kooperation-mit-libyschen-milizen/

+++ITALIEN
Flüchtlinge in Italien: Ein Euro für jede Kiste Mandarinen
Viele Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, stranden in Süditalien. Dort werden viele von ihnen als Tagelöhner bei der Ernte von Zitrusfrüchten ausgebeutet. Hilfe kommt von den Gewerkschaften.
http://www.migazin.de/2018/03/02/fluechtlinge-italien-ein-euro-kiste

+++EUROPA
Europäische Union startet Drohnen-Offensive
Zivile und militärische EU-Agenturen drängen auf die Entwicklung und Beschaffung unbemannter Plattformen. Polizeien und Grenzpolizeien könnten dabei Fähigkeiten des Militärs mitnutzen. Über dem Mittelmeer werden die Pläne jetzt konkret.
https://netzpolitik.org/2018/europaeische-union-startet-drohnen-offensive/

Der Dublin-Irrsinn: Nullsummenspiel mit gigantischem Bürokratie-Aufwand
Der Plan, die Verantwortung für Asylverfahren den Staaten an der EU-Außengrenze zuzuschieben, ist krachend gescheitert. Trotzdem wird immer noch am sogenannten Dublin-System festgehalten. Das sorgt nicht nur für immense Bürokratie, sondern auch dafür, dass Flüchtlinge hin- und hergeschoben werden und oftmals in unhaltbaren Zuständen enden.
https://www.proasyl.de/news/der-dublin-irrsinn-nullsummenspiel-mit-gigantischem-buerokratie-aufwand/

+++ISRAEL
Gefängnis oder Ausreise
Das Ultimatum der israelischen Regierung an 40.000 Flüchtlinge ist umstritten
Israels Regierung hat Zehntausende Flüchtlinge aus Afrika vor die Wahl gestellt: freiwillige Ausreise oder Gefängnis. Doch auf die Abgeschobenen warten extreme Lebensbedingungen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1081173.israels-asylpolitik-gefaengnis-oder-ausreise.html

+++FREIRÄUME
Besetzer im Steigerhubel dürfen doch bleiben
Die besetzte Liegenschaft an der Bahnstrasse 69 in Bern wird nun doch nicht geräumt.
https://www.derbund.ch/news/standard/steigi-69-darf-bleiben/story/12133405

«Ich rufe nur die Polizei, wenn die Nachtruhe nicht eingehalten wird»
Im Lärm-Streit um die Cuba-Bar hat sich nun die beschwerdeführende Anwohnerin zu Wort gemeldet.
https://www.derbund.ch/bern/stadt/cubabargegnerin-spricht-zum-streit/story/20567648

+++GASSE
«Obdachloser» Radiomoderator Dominik Widmer beendet seine Zeit auf der Strasse: «Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen»
Radio-24-Moderator Dominik Widmer hat in einem Selbsttest eine Woche lang auf den Strassen von Zürich gelebt. Die Aktion hat ihn verändert, wie er im BLICK-Interview sagt.
https://www.blick.ch/people-tv/schweiz/obdachloser-radiomoderator-dominik-widmer-beendet-seine-zeit-auf-der-strasse-ich-habe-freundschaften-fuers-leben-geschlossen-id8060786.html

+++DROGENPOLITIK
Regierung schafft Klarheit: Kleinbesitz straffrei, Konsum aber nicht
Wer weniger als 10 Gramm Cannabis mit sich trägt, geht straffrei aus. Anders sieht es aus, wenn es geraucht wird. Für Jugendliche gelten spezielle Sanktionen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/regierung-schafft-klarheit-kleinbesitz-straffrei-konsum-aber-nicht-132268570

+++AUSLÄNDER_INNEN-RECHT
Flüchtlinge in Solothurn
Kann der Kanton arbeitswilligen Flüchtlingen einen Kredit geben?
Ein Ausländer mit F-Ausweis möchte selbständig arbeiten und so die Sozialhilfe entlasten. Doch es fehlt am Startkapital.
https://www.srf.ch/news/regional/aargau-solothurn/fluechtlinge-in-solothurn-kann-der-kanton-arbeitswilligen-fluechtlingen-einen-kredit-geben

Arbeitshindernis für Ausländer: Ohne Startkapital kein Coiffeursalon
Ein Ausländer mit F-Ausweis wollte sich im Kanton Solothurn selbständig machen. Das Verwaltungsgericht verbietet es ihm.
https://www.srf.ch/news/regional/aargau-solothurn/arbeitshindernis-fuer-auslaender-ohne-startkapital-kein-coiffeursalon
-> https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/syrer-darf-keinen-coiffeursalon-eroeffnen-weil-er-sozialhilfe-bezieht-132270760

Revision des Ausländergesetzes: Botschaft des Bundesrats
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 2. März 2018 die Botschaft zur Revision des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) verabschiedet. Diese Revision trägt der jüngsten Entwicklung der Rechtsprechung und der Praxis im Migrationsbereich Rechnung. Die Vorlage regelt namentlich den Aufenthalt und die Rückkehrhilfe für Personen, die von der Aufhebung des Cabaret-Tänzerinnen-Statuts betroffen sind, und erhöht die Durchsetzbarkeit des für Flüchtlinge geltenden Verbots von Reisen in den Heimat- oder Herkunftsstaat. Die Vorlage wird an die Eidgenössischen Räte überwiesen.
https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2018/2018-03-022.html
-> https://www.nau.ch/politik-wirtschaft/bundesrat-geht-gegen-heimatreisen-von-fluchtlingen-vor-65304680
-> http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/schweiz/heimatreisen-sollen-konsequenzen-haben;art46447,1209775

+++BIG BROTHER
Wegen BÜPF: Provider speichern sechs Monate lang, wann du auf welcher Website warst
Vor der Einführung des Bundesgesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs BÜPF kommunizierten die Behörden, es würden nur Metadaten auf Vorrat gespeichert. Jetzt zeigt sich: Dem ist nicht so.
https://www.watson.ch/!191777608

Neues Überwachungsgesetz:  Verfolgung auf Schritt und Tritt im digitalen Raum
Im Rahmen des Büpf werden auch alle unsere Surfbewegungen aufgezeichnet – dies zeigt die Recherche von SRF.
https://www.srf.ch/news/schweiz/neues-ueberwachungsgesetz-verfolgung-auf-schritt-und-tritt-im-digitalen-raum

Neues Überwachungsgesetz: «So etwas ist kein Beweis für irgendeine Tat»
Das in Kraft getretene Bundesgesetzt (Büpf) gibt zu reden. Das sagen unsere User dazu.
https://www.srf.ch/news/schweiz/neues-ueberwachungsgesetz-so-etwas-ist-kein-beweis-fuer-irgendeine-tat

Überwachungsfirma: Behalten iPhone-Lücken lieber für uns – im Dienste der “öffentlichen Sicherheit”
Cellebrite, die angeblich aktuelle iPhones knacken kann, hält es für völlig legitim, Sicherheitslücken nicht an den Hersteller zu melden. Eine dadurch für Behörden bewahrte Zugriffsfähigkeit sei wichtig für die “öffentliche Sicherheit”.
https://www.heise.de/mac-and-i/meldung/Ueberwachungsfirma-Behalten-iPhone-Luecken-lieber-fuer-uns-im-Dienste-der-oeffentlichen-Sicherheit-3985234.html

Überwachung von Versicherten: Die HardlinerInnen drücken im Bundeshaus aufs Gaspedal
Ein Urteil aus Strassburg hat die Überwachungspraktiken der Schweizer Sozialversicherer vorläufig beendet. Nun aber arbeitet das Parlament an einer Vorlage, die noch viel weiter geht – mit Schützenhilfe der Suva.
https://www.woz.ch/1809/ueberwachung-von-versicherten/die-hardlinerinnen-druecken-im-bundeshaus-aufs-gaspedal

Stadtrat ist für Videoüberwachung
ZUG ⋅ Das Gebiet zwischen dem Bahnhof und der Bossard-Arena soll mit Kameras überwacht werden. Nun äussert sich der Stadtrat zum umstrittenen Vorhaben. Unterdessen verzögert sich das Projekt weiter.
http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/zentralschweiz/zug/stadtrat-ist-fuer-videoueberwachung;art9648,1209248

+++ARMEE
Schutz ausländischer Vertretungen: Unterstützung durch die Armee noch bis 2019
Die Armee soll den Kanton Bern und die Stadt Zürich noch bis Ende 2019 mit maximal 32 Personen beim Schutz ausländischer Vertretungen unterstützen. Ab dann werden nur noch einzelne Armeeangehörige im Botschaftsschutz tätig sein, um die für solche Einsätze nötigen Kompetenzen zu erhalten. Die entsprechende Botschaft hat der Bundesrat in seiner Sitzung vom 2. März 2018 verabschiedet.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-69971.html

+++POLICE BE
Informationsveranstaltungen Polizeischule
Wir empfehlen Ihnen die unverbindliche Teilnahme an einer unserer Informations-veranstaltungen.
Ihre Anmeldung nehmen wir, bei entsprechenden Platzverhältnissen, gerne bis einen Tag vor dem Anlass entgegen. Bei Verhinderung erwarten wir eine Abmeldung.
Auf Ihren Besuch freuen wir uns.
http://www.police.be.ch/police/de/index/jobs/jobs/polizist_in/informationsveranstaltungen.html

+++POLIZEI BS
Prozess wegen Einschreiten bei einer rassistischen Personenkontrolle
Marc O. steht vor dem Strafgericht Basel-Stadt, weil er sich getraut hat, eine rassistische Polizeikontrolle kritisch zu hinterfragen. Im Prozess wird allerdings nur die Frage behandelt, ob Marc O. die Kontrolle behindert hat.
Wir aber interessieren uns für die Frage, ob eine dunkle Hautfarbe als einziger Grund für eine Personenkontrolle nicht als rassistisch bezeichnet werden muss.
https://barrikade.info/Prozess-wegen-Einschreiten-bei-einer-rassistischen-Personenkontrolle-856

+++ANTIFA
Mann bedroht Nein-Stimmende mit dem Tod
Auf Facebook droht ein Mann, «alle zu erschiessen, die No Billag ablehnen». Auf seinem Profil posiert er mit Waffen. Nun ermittelt die Polizei.
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Mann-bedroht-Ja-Stimmende-mit-dem-Tod-25521478
-> https://www.blick.ch/news/er-will-alle-erschiessen-no-billag-befuerworter-dreht-durch-id8062128.html

Rechtsextreme unterwandern Fasnachts-Umzug: Pnos als «Neger» verkleidet in Basel
Dass die Pnos die Basler Fasnacht infiltrierte, war bekannt. Nun hat die rechtsextreme Partei das Video dazu veröffentlicht. In Basel ärgert man sich.
https://www.blick.ch/news/schweiz/basel/rechtsextreme-unterwandern-fasnachts-umzug-pnos-als-neger-verkleidet-in-basel-id8059568.html

+++ANTIRA
Schweizer Demokrat erneut wegen Rassismus verurteilt
Der ehemalige Präsident der SD, Willy Schmidhauser, musste sich wegen Rassismusvorwürfen wiederholt verantworten. Sein Plädoyer war chancenlos.
https://www.landbote.ch/region/andelfingen/ehemaliger-sdparteipraesident-erneut-vor-gericht/story/15412568
-> http://www.toponline.ch/tele-top/sendungen/top-news/news/heute-auf-tele-top-0083590/

+++KNAST
derbund.ch 02.03.2018

Im besten Gefängnis der Welt

Die Strafanstalt Lenzburg, ein fünfsterniger Bau aus dem Jahr 1864, gilt weltweit als Vorbild im Justizvollzug. Warum eigentlich?

Charlotte Theile

Der Weg in das beste Gefängnis der Welt führt durch Scanner, Türen und Gitter, dann einen langen Gang, der früher einmal dunkel gewesen sein muss. Jetzt hängt hier Kunst, gut ausgeleuchtet. Ein kleines Schild mahnt: «Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.» Das nächste Gitter, eine kurze, steile Treppe. Im Zentrum des Fünfsterns, da, wo also die fünf langen Flure auf­einandertreffen, steht ein kleines Häuschen. Das Herz der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Von hier aus sieht man alles, oder zumindest genug.

Gefängnisdirektor Marcel Ruf umkreist das Häuschen, er ist auf der Suche nach einer funktionstüchtigen Kaffeemaschine, vergeblich. Männer in roten Fleece-Jacken laufen vorbei, Marcel Ruf tippt einem jungen Mann auf die Schulter. Ob er Zeit habe, ein bisschen über die Justizvollzugsanstalt Lenzburg zu erzählen? Der Mann sagt Ja, Zeit habe er.

Ruf geht weiter, anderes Gebäude, viele Schlösser, eines muss er mit seiner Iris aufschliessen, ein Blick, und die Tür öffnet sich. Der Kaffee, der endlich aus der Maschine tröpfelt, ist, um es freundlich zu sagen, trinkbar.

«Was ist gut? Wenn keiner ausbricht?»

Was bringt Menschen dazu, diesen unspektakulären Ort als internationales Vorbild im Strafvollzug zu sehen? In Norwegen gibt es eine Insel, auf der die Straftäter ganz ohne Mauern und Stacheldraht leben dürfen. Andernorts gibt es hypermoderne Raumschiffzellen und solche, die eher an einen Designkatalog als an eine Strafanstalt erinnern.

Marcel Ruf hat in seinem Büro Fotos all dieser Modellzimmer und Vorbildanstalten. Daneben ein rotes Herz mit der Aufschrift «Ein Herz für Arschlöcher», der Bestseller «Sohn» von Jo Nesbø, in dem es über ein modernes skandinavisches Hochsicherheitsgefängnis heisst: «Im Staten hatte er an alles gedacht. Schon in der Planungsphase hatte er mit Architekten und internationalen Experten zusammengesessen. Ihr Vorbild war das Gefängnis in Lenzburg gewesen, im Schweizer Kanton Aargau. Hypermodern, aber einfach und mit Fokus auf ­Sicherheit und Effektivität statt auf Komfort.»

Das beste Gefängnis der Welt? Marcel Ruf schliesst die Augen. «Was soll das heissen? Ist ein Gefängnis gut, wenn niemand ausbricht? Wenn sich keiner umbringt? Wenn kein Mitarbeiter angegriffen wird? Oder geht es um die Rückfallquote nach der Entlassung? Es kommt immer darauf an, wen man fragt.»

Jedes Gefängnis ist ein Ort der Zahlen, Jahre, Monate, Tage.

In vielen dieser Kategorien ist Lenzburg ganz vorn mit dabei, den letzten Ausbruch gab es vor mehr als zehn Jahren, die Fluktuation bei den Mitarbeitern ist extrem gering. Aber ein Bilanz-Suizid? Jemand, der am Morgen erwacht, sein bisheriges Leben resümiert und kühl beschliesst, dass er nicht mehr leben will? «Natürlich kann uns das passieren. Jederzeit.»

Jedes Gefängnis ist ein Ort der Zahlen. Jahre, Monate, Tage. Auf wie viel Quadratmetern? Wie viele Stunden Tagesfreizeit, wie viel Sport, wie viel Arbeit? Wie viele Ausbrüche, wie viele Wärter auf wie viele Gefangene? Und überhaupt: Wie viele von denen, die hier drin sitzen, gehen als ungefährliche Männer wieder hinaus?

Das Beste wäre, wenn wir keine Gefängnisse brauchten.» Marcel Ruf, Gefängnisdirektor Lenzburg

Direktor Marcel Ruf hat aus diesen Zahlen Provokationen gezimmert. Bei einem Vortrag Anfang Oktober – die angereisten Journalisten sind Fachleute für Sicherheitstechnik – präsentiert er sie ohne jedes Lächeln. «Unsere Zellen sind von 1864 und gut sieben Quadratmeter gross. Nach aktuellen Tierschutzbestimmungen dürfte ich darin nicht einmal einen gross gewachsenen Schäferhund über Nacht einschliessen. Ein Chihuahua wäre in Ordnung.» Es sei im Übrigen so, dass sich die Sache mit der Kriminalität von selbst erledigen würde, wenn man alle Männer unter 35 Jahren einsperren würde. Das meint er irgendwie ernst. Ruf stellt nur ältere Menschen ein, am besten solche über 40, die schon Familie haben und, bei den Männern, einen tiefen Testosteronspiegel. Das sei wichtiger als ein Hochschulabschluss.

Doch das Gefängnis ist nicht nur ein Ort der Zahlen, es ist auch ein Ort, an dem Menschen mit ihrem Schicksal hadern. Ein Ort des Hoffens und Wartens, ein Ort, an dem manche Menschen kaputtgehen. Oder, wie es Marcel Ruf sagt: «Es gibt kein bestes Gefängnis. Das Beste wäre, wenn wir keine Gefängnisse brauchten.»

Die Wärter machen den Unterschied

Vor seiner Bürotür wartet der junge Mann, den der Direktor eine Stunde zuvor auf dem Gang gesehen hat. «Ich lasse euch allein», sagt Ruf und verschwindet mit einer Akte unterm Arm. Er wolle die Antworten nicht verfälschen.

«Lenzburg ist anders», sagt Stefan Elias Fuchs*. «Ganz anders.» Fuchs hat Erfahrung mit diversen Vollzugsanstalten in Deutschland. Er ist aufgeregt. Seine Meinung ist gefragt. In der Schlosserei, wo er jeden Tag Gewinde schleift, sei es eher eintönig, und von dem Geld, das er dort verdiene, gebe er viel zu viel beim Kiosk aus. Shampoo, Duschgel, Briefmarken, Zigaretten, Softdrinks, Gas zum Kochen. «Die ziehen uns aus, alles kostet etwas.» Er lacht. In einem anderen Knast bekam er kein Bargeld, selbst kochen auf der Zelle, das durfte er noch nie. Der grösste Unterschied aber seien die Wärter. «Die sind so viel angenehmer, distanzierter. Korrekt und sachlich.» Er habe das noch nie erlebt. Keiner werde bevorzugt, keiner benachteiligt, er wisse genau, woran er sei. Unpersönlich? Fuchs schüttelt den Kopf. «Der Direktor hat mich gleich erkannt auf dem Gang. Nach zwei Wochen. Ich weiss, woran ich bin.»

Fuchs: «Jetzt gehöre ich dem Staat»

Im Moment ist Fuchs in einer Erziehungsmassnahme. Zwei Wochen keine Freizeit, keinen Sport. Beim letzten Besuch seiner Freundin kam es zum Streit. Sie wollte gehen, stand auf. Fuchs wollte sie zurückhalten, stand auch auf. «Der Wärter sagte, ich solle mich setzen. Das hab ich nicht gemacht, ich hab ihn nicht gehört.» Die Strafe begann sofort. Fuchs findet sie zu hart. «Aber es ist meine Schuld, dass ich hier bin. Jetzt gehöre ich dem Staat.»

Marcel Ruf kommt wieder herein. Er will jetzt doch wissen, was der Häftling über die Anstalt sagt. Fuchs lobt die Sauberkeit, deutsche Gefängnisse seien viel dreckiger, das übertrage sich auf alles, auf den Umgang miteinander, das Selbstwertgefühl. Ruf unterbricht, vieles sei doch auch angenehmer in Deutschland, mehr Zeit für Sport, grössere Zellen. Fuchs nickt. Er ist 1,90 Meter gross. Die Zelle sei wirklich sehr klein.

Verpönte Stockschläge

1864, als der Fünfstern gebaut wurde, waren die sieben Quadratmeter mit eigenem Nachttopf und hochklappbarem Bett Ausdruck einer neuen Zeit. Durch die Fenster strömte Licht, die Gefangenen bekamen Raum, um sich zurückzuziehen, und die Möglichkeit, sich im Freien zu bewegen. Stockschläge, gerade noch ein beliebtes Erziehungs­mittel in der Rechtsprechung, waren in jenen ­Jahren verpönt, man strafte mit Dunkelhaft und «schmaler Kost».

Gefängnisse sind Zeitmaschinen. Immer wieder liest man Geschichten von Menschen, die lange eingesperrt waren und draussen fassungslos Telefonkabinen suchen. Heute ist der Freiheitsentzug noch einschneidender als früher. Schliesslich sind die Gefangenen von einem Tag auf den anderen offline. «Der Wegfall des elektronischen Netzwerks, das Fehlen dieses digitalen Körperteils, wirkt bei manchen jüngeren Gefangenen wie ein Entzug», sagt Ruf. Drinnen gibt es eine Bibliothek, man kann Briefe schreiben und pro Woche dreimal zehn Minuten von einer Zelle aus telefonieren. Andererseits sind Gefängnisse eng mit den Debatten draussen verknüpft. Wenn, wie Anfang der 90er-Jahre geschehen, ein Gefangener in den Ferien einen Mord begeht, gibt es bald darauf kaum noch Ferien.

Fitnessstudio fast immer ausgebucht

Marcel Ruf zeigt Schwarzweissfotos aus den 70er-Jahren. Rotwein auf der Zelle, lange Haare, ­gemeinsames Gitarrenspiel. Der «Blick» interviewte einen Ausbrecher zu Hause und fand: der arme Mann. Bei diesen Bedingungen wären sie wohl auch ausgebrochen.

Heute sitzt Joachim Schneider* (51) in Marcel Rufs Büro und seufzt. Er ist ein kleiner Mann mit freundlichem Gesicht und kurz rasierten Haaren. Unter seinem weissen T-Shirt spannen sich Brust- und Armmuskeln. Das Fitnessstudio der Anstalt ist fast immer ausgebucht.

Schneider hat ein laufendes Verfahren. Sein Urteil, lebenslange Haft mit anschliessender Verwahrung, ist gerade vom Bundesgericht in Lausanne bestätigt worden. Das ist auch für die nationalen Medien ein Thema. In den Kommentarspalten freuen sich die Leser und finden, man solle ihm die Anwaltskosten vom Stundenlohn abziehen. «Zeit genug hat er nun, Körbe zu flechten oder Stimmmaterial einzupacken.» Tatsächlich leitet Schneider die Joghurtproduktion in Lenzburg, die übliche Arbeitspflicht übertrifft er deutlich. «An 29 von 30 Tagen arbeite ich da unten. Ich bin selbstständig, niemand redet mir drein.»

Theater im Gefängnis

Schneider, der für einen Doppelmord unter ­Einfluss von Kokain im Gefängnis sitzt, ist hier zum Anwalt geworden. In einem Theaterstück spielt er den Verteidiger Wilhelm Tells. Schneider überzeugte: Das Publikum sprach Tell frei.

Ob der Direktor keine Angst hat, dass bei einer solchen Veranstaltung, bei der Gefangene und auswärtige Gäste aufeinandertreffen, etwas passiert? Ja, sagt Ruf, das könne theoretisch sein – auch wenn Gäste und Gefangene vorher genau überprüft würden. «Ich kann mir aber nicht nur vorstellen, was alles passieren könnte. Pessimismus kann blockieren, im Extremfall den Betrieb der Anstalt infrage stellen. Das heisst nicht, dass wir nicht über Sicherheitsbedenken sprechen. Aber wir fragen uns auch: Was kann schlimmstenfalls passieren? Und wie wahrscheinlich ist das?»

Die Sichtweise des Doppelmörders

Auch Joachim Schneider lässt der Chef mit dem Besuch allein. Die Geschichte, die der 51-Jährige erzählt, ist verworren. Während ihn die Boulevardpresse als «Doppelmörder von Zug» bezeichnete, erzählt der 51-Jährige eine andere Geschichte – eine, in der er unter Kokaineinfluss in die Wohnung einer Frau fuhr, mit der er eine Affäre hatte; es kam zum Streit, er war auf Drogen – und rastete aus. Totschlag im Affekt. Wenn die Richter das auch so sehen würden, müsste er nicht Jahrzehnte hinter Gittern verbringen. Er könnte seine Kinder wiedersehen, ein neues Leben beginnen. Schneider kämpft vor Gericht für seine Version, er hat Anwälte, Zeugen, eine eigene Version. Und trotzdem. Im Gefängnis hört man immer mal wieder den sarkastischen Spruch, jeder hier drin sei unschuldig.

«Ich bin nicht unschuldig», sagt Schneider, als könne er Gedanken lesen. «Aber ich bin auch kein Mörder.» Der Satz steht noch im Raum, als Schneider schon wieder in seiner Zelle verschwunden ist. Den Journalisten für Sicherheitstechnik hat Marcel Ruf einige Wochen zuvor eine andere Seite gezeigt. Den Hochsicherheitstrakt, bei dem einzelne Zellen permanent videoüberwacht werden. Das neu errichtete Zentralgefängnis, in dem schon die Essenklappen in den Türen so schwer sind, dass man sie kaum bewegen kann. Die Drohnenabwehrsysteme, die biometrischen Zugangskontrollen, die Mobilfunkerkennsysteme. Den Herzschlagdetektor, der jedes Fahrzeug, das hinausfährt, noch einmal auf heimliche Mitfahrer überprüft. Die sauberen ­Einmannzellen, eine kleine Pritsche, eine Toilette, abwaschbar, modern geschnitten. Es scheint, als könne hier nichts schiefgehen, als träfen in Lenzburg Profiwärter auf Profigefangene.

Tanzende Albaner und eine Predigt

Ein kalter Vormittag im Dezember, drei Tage vor Weihnachten. Das Gefängnis steht zwischen nebligen Wiesen und leeren Strassen. In der Kapelle im Innenhof warten Vertreter der katholischen Kirche. Auf den Tischen liegen Tannenzweige und Mandarinen, es gibt Wasser vom Discounter, alle fünfzig Zentimeter ein Teelicht. Die Tür geht auf. Die Häftlinge kommen herein. Stefan Elias Fuchs* winkt herzlich. Zufrieden aber ist er in Lenzburg nicht mehr. Während die Geistlichen auf Deutsch, Englisch und Französisch von einem Licht der Hoffnung in dunklen Zeiten sprechen, beschwert sich Fuchs über die Bürokratie von Lenzburg. Er fühlt sich eingeengt, gegängelt, der kleine Sohn seines Cousins wurde zum Weihnachtsbesuch nicht zu­gelassen, er ist nicht nah genug mit ihm verwandt. Die Stelle in der Schlosserei hat er aufgegeben, jetzt bügelt er, das sei ebenso langweilig. Der Pfarrer spricht von Einsamkeit und Dunkelheit, Fuchs hört zu. Ein älterer Häftling übersetzt auf Albanisch. Fuchs deutet auf die Musikerin, seine Stimme voller Respekt: «Die sieht aus, als ob sie das gut kann.» Wieso das? «Sie ist so schön.»

Die Seelsorgerin stimmt «O Tannenbaum» an, Fuchs singt als einer der wenigen auf Deutsch mit. «90 Prozent Ausländer hier», raunt er, während das Lied auf Englisch und Französisch erklingt. «Wird aber versucht, das zu vertuschen.»

Nüsschen und Schokolade

Dann spielt die Irish-Folk-Band. Die Musikerin, eine junge blonde Frau im dunkelroten Kleid, begeistert nicht nur Stefan Fuchs. Die Musik ist laut, schnell, rhythmisch. Nach zwei Takten wird geklatscht, dann gesungen. «Hey, hey, hey!», ruft die junge Frau, zwei ältere Albaner tanzen eng ineinander gehakt, von Dunkelheit ist nichts zu spüren, übersetzen muss auch niemand mehr.

Teller mit Nüsschen und Schokolade werden hineingetragen, was nicht aufgegessen wird, landet innerhalb von Sekundenbruchteilen in den Plastiksäcken der beiden Albaner, die gerade noch getanzt haben.

Marcel Ruf lacht, als er von der Feier erfährt. «Das ist auch für uns eine Premiere.» Normalerweise sei das eine ruhige Veranstaltung, den meisten Gefangenen sei über die Festtage nicht zum Klatschen und Tanzen zumute. Ruf hat wenig Zeit. Der Regierungsrat kommt zum Mittagessen vorbei. Seine Assistentin führt in eine der Werkstätten. Grosse Holzbretter, Sägen, schweres Gerät. In der Schreinerei arbeiten zurzeit Gefangene mit den unterschiedlichsten Vorbildungen: Einer war mal Bäcker, ein anderer Journalist, ein dritter Koch. Der sogenannte Schreinerpraktiker ist einer von vielen Berufen, die die Gefangenen hier ausüben – wer will, kann sich auch zum Gemüsebauassistenten, Metallbearbeiter, Kleinteilemechaniker oder Gebäudereiniger ausbilden lassen. Andere Jobs sind weggefallen: Obwohl das Gefängnis eigene Kühe und Schafe besitzt und die Arbeit mit den Tieren stets sehr beliebt war, ist kaum ein Gefangener mehr in der Landwirtschaft – denn dieser Job findet ausserhalb der Gefängnismauern statt. Ein zu hohes Risiko, finden die Gesetzgeber. Ob es sicherer ist, die Strafgefangenen nach Jahren ohne Kontakt mit der Aussenwelt zu entlassen? Rufs Assistentin zuckt mit den Schultern. Das sei eine politische Frage.

Das Gefängnis steht unter Druck

Im Gefängnis wird vieles sichtbar, was sich draussen nur erahnen lässt. Warum etwa gibt es so viele Ausländer hinter Gittern? Bekommen Schweizer Geldstrafen und Wiedereingliederungsprogramme, während Ausländer weggesperrt werden? Oder sind Schweizer einfach selten kriminell? Und: Wie viele Gefangene bekommen Psycho­pharmaka und wären in einer Klinik besser aufgehoben als im Knast?

Das Gefängnis Lenzburg mit seinen blitzsauberen Gängen, den tanzenden Gefangenen und dem netten Laden, direkt vor der Tür, wo man «Zuchthausbrot» und hausgemachtes Joghurt kaufen kann, ist ein Ort, der unter Druck steht. Ein Ort, an dem sich erahnen lässt, wie sich der Strafvollzug verändert und welche Anstrengung es kostet, hier jeden Tag ein Regelwerk aufrechtzuerhalten, von dem man selbst nicht immer überzeugt ist.

Der Weg zurück führt durch den Fünfstern, einige Gittertüren, eine steile Treppe, dann ein langer Gang, Türen, Schleusen. Draussen wartet ­Gefängnisdirektor Marcel Ruf auf seinen Chef, den Regierungsrat. Auf einer Wiese neben der alten Mauer stehen ein paar Kühe im Nebel. Sie gehören weiter zum Betrieb, auch wenn ja im Moment fast kein Gefangener mit ihnen arbeiten darf. Doch auch das kann sich ändern. Ruf sagt, er habe nicht vor, die Tiere wegzugeben.

* Namen von der Redaktion geändert

In Zahlen

300

Die Lenzburger Justizvollzugsanstalt, kurz JVA, besteht aus der Strafanstalt und dem nahen Zentralgefängnis. Die Anstalt bietet Platz für 300 Häftlinge. Diese werden überwacht, betreut und begleitet von etwa 200 Mitarbeitenden.

7

Sieben Quadratmeter gross sind die Zellen in Lenzburg. Seit dem Bau 1864 hat sich diesbezüglich nichts verändert. Laut dem Direktor dürfte nach aktuellen Tierschutzbestimmungen darin nicht einmal ein gross gewachsener Schäferhund über Nacht eingeschlossen werden. Ein Chihuahua wäre in Ordnung.

(https://www.derbund.ch/schweiz/standard/im-besten-gefaengnis-der-welt/story/27860490)

+++DROGENPOLITIK
nzzas.nzz.ch 01.03.2018

«Die Zustimmung zur Cannabis-Legalisierung ist stark gestiegen»

Der Bundesrat setzt sich für eine legale Cannabis-Abgabe ein.  Für den Harvard-Ökonomen  Ethan Nadelmann ist das erst der Anfang. Er will, dass Heroin und Kokain straflos konsumiert werden dürfen. Vom Schweizer Modell der Heroinabgabe ist er begeistert.

von Katharina Bracher

NZZ am Sontag: In Kalifornien ist Cannabis seit Anfang 2018 legal käuflich. Acht US-Gliedstaaten haben Marihuana legalisiert. Wie steht Donald Trump dazu?

Ethan Nadelmann : Dazu hat er sich widersprüchlich geäussert. Ohnehin macht mir sein Umfeld mehr Sorgen. Zum Beispiel Rudi Giuliani, der frühere Bürgermeister von New York. Er führte in den 1990ern einen verheerenden Drogenkrieg. Zehntausende wurde für marginale Drogendelikte eingesperrt.

60 Prozent der Amerikaner sind laut Umfragen für die Legalisierung. Dagegen können Trumps Leute wohl nicht viel machen.

Der Markt wird Fakten schaffen. 40 Millionen Amerikaner leben jetzt an Orten, wo Cannabis legal konsumiert werden kann. Vor allem vom bevölkerungsreichen Kalifornien geht eine hohe Dynamik aus. Die legale Marihuana-Industrie wird sich rasant ausbreiten. Allein in Kalifornien wird die Legalisierung dazu führen, dass die Zahl der in Haft Gesetzten um jährlich 20 000 Personen sinkt. 6000 Gefangene müssen vermutlich auf freien Fuss gesetzt werden, und über eine Million Personen können ihren Leumund von Vorstrafen, die Marihuana betreffen, säubern. Und das Beste: Es werden keine Kinder mehr verhaftet. In Kalifornien konnten bis jetzt auch 17-Jährige oder noch Jüngere für Cannabis-Delikte ins Gefängnis kommen.

Wie wird die Legalisierung von Marihuana sich international auswirken?

Mit der Legalisierung in Kalifornien kommt die Wende. Wer kennt ausserhalb der USA schon Oregon oder Colorado, wo Cannabis bereits seit Jahren legalisiert ist? Kalifornien hat eine internationale Ausstrahlung. Und eine starke Wirtschaft. Der Druck auf andere westliche Staaten, Konsum und Handel zu entkriminalisieren, wird steigen. Die Energie, die eine Legalisierung freisetzt, wird unterschätzt. Die Polizei kann sich endlich Wichtigerem zuwenden, als kiffenden Teenagern nachzustellen und Kleindealer einzusperren.

Als Sie in den 1990ern angefangen haben, für die Cannabis-Legalisierung zu kämpfen, war der Mainstream noch gegen Sie. Wie haben Sie die Leute überzeugt von Ihrem Vorhaben?

Ich hatte einflussreiche Verbündete. Eine wichtige Stimme war Kurt Schmoke, der ehemalige Bürgermeister von Baltimore – ein Afroamerikaner. Ende der 1980er forderte er die Entkriminalisierung des Drogenkonsums. Als Staatsanwalt hatte er gesehen, wie der Drogenkrieg die Gefängnisse mit Süchtigen und Kleindealern füllte – überwiegend Schwarze aus armen Verhältnissen. Daneben stand ich mit respektierten Intellektuellen des konservativen Spektrums in Kontakt, die eine Liberalisierung der Drogenpolitik forderten. Darunter der Ökonom Milton Friedman und der libertäre Autor William Buckley. Dieses Netzwerk half mir als jungem, unbekanntem Akademiker, gehört zu werden.

Mit Ihren Ansichten standen Sie damals noch quer zur öffentlichen Meinung.

Und wie! So etwas wie ein «Drogenproblem» wurde von der Gesellschaft gar nicht wahrgenommen. Erst als ich in den Achtzigern meine Dissertation abschloss und nach Princeton ging, wurden Drogen plötzlich das Thema Nummer 1. Der Krieg gegen Drogen und eine paranoide Hetze gegen Konsumenten begann. US-Politiker sagten, dass Dealer schlimmer bestraft werden sollten als Vergewaltiger und Mörder. Es war schlimmer als die Kommunistenjagd im Kalten Krieg. Drogenpolitik unter Reagan war wie die Mc-Carthy-Ära auf Anabolika.

Und wie konnten Sie dieses konservative Lager auf Ihre Seite ziehen?

Die wichtigsten Intellektuellen der Konservativen waren schon vor mir dort – und gingen sogar noch weiter. Milton Friedman scherzte gerne, dass ich für seinen Geschmack zu moderat sei. Er war für einen freien Markt.

Friedman stand aber nicht gerade für eine menschliche Drogenpolitik.

Das ist etwas hart formuliert. Er fand einfach, Drogensucht sei nicht das Problem des Staates, sondern des Einzelnen. Ich sah das nie so radikal. Drogensucht muss als Krise des öffentlichen Gesundheitswesens behandelt werden. Eine komplette Legalisierung würde die Probleme nicht lösen.

Sie finden also nicht, dass alle Drogen im Supermarkt verkauft werden sollten?

Mit Legalisierung meine ich immer auch Regulation. Ich spreche nicht vom freien Markt. Die Leute denken immer, Prohibition sei die ultimative Form der staatlichen Regulation. Tatsache ist aber, dass Prohibition der Verzicht auf jegliche Regulation darstellt.

Was heisst das für die Supermarkt-Frage? Sollen wir alle Drogen frei kaufen können?

Legalisierung kann Verschiedenes bedeuten. Bei manchen Drogen kann das heissen, dass die Substanzen durch lizenzierte Geschäfte abgegeben werden, wie momentan das Modell in den US-Gliedstaaten, wo Cannabis legal ist. Dann gibt es Modelle wie das neuseeländische, wo Hersteller von Cannabinoiden eine Bewilligung vom Staat beantragen können. Und dann gibt es noch die Variante der medizinischen Verschreibung von Drogen.

Wo liegen eigentlich die Unterschiede zwischen europäischer und amerikanischer Drogenpolitik?

Europa hat viele fortschrittliche Modelle getestet. In der Schweiz ist mit der Heroinabgabe ein revolutionärer Ansatz einführt worden. Andererseits beobachte ich eine Umkehrung der Verhältnisse: Kam ich in den frühen 1990ern nach Europa, um etwas über fortschrittliche Drogenpolitik zu lernen, bin ich heute auf Vortragsreise, um den Europäern zu erzählen, wie das mit der Cannabis-Legalisierung geht.

Ist die westliche Gesellschaft bereit, neben Cannabis auch andere Drogen zu legalisieren?

Unsere Organisation macht regelmässig Umfragen unter Amerikanern. Wir haben festgestellt, dass die Akzeptanz für die Cannabis-Legalisierung kontinuierlich gestiegen ist. Vor 16 Jahren waren 34 Prozent für die Legalisierung von Cannabis. Heute sind es bereits bis 60 Prozent. Aber: Für alle anderen Drogen ist die Zustimmung extrem niedrig. Und zwar seit Jahren. Ich glaube nicht, dass wir die Legalisierung anderer Drogen noch erleben werden.

Wenn es so aussichtslos ist – warum setzen Sie sich dafür ein?

Aus zwei Gründen. Das Nachdenken über die Legalisierung zwingt uns, klar zu unterscheiden zwischen den Problemen, die eine Drogensucht mit sich bringt, und den Problemen, welche das Drogenverbot verursacht: Masseninhaftierung und organisierte Kriminalität. Zweitens: Warum wollen wir nicht, dass Drogen in einer kontrollierten Art und Weise über den Ladentisch gehen, wie es bei Alkohol der Fall ist? Wovor fürchten wir uns?

Würden nicht viel mehr Menschen Drogen ausprobieren, wenn alle Substanzen legal erhältlich wären?

Die meisten Menschen würden auch dann auf Drogen verzichten, wenn sie legal wären. Die Mehrheit ist einfach nicht daran interessiert, sich zuzudröhnen. Jene, die Probleme hätten, wenn Drogen legal würden, haben heute schon ein Suchtproblem.

Das Suchtproblem ist ja das eine. Schädigungen durch Konsum das andere. Es gibt zum Beispiel Belege dafür, dass Cannabis Schizophrenie begünstigt. Besonders junge Menschen sind gefährdet.

Wir sprechen hier von sehr schwachen Belegen. Man weiss noch viel zu wenig darüber. Die zwei niederländischen Wissenschafter, die den Zusammenhang von Schizophrenie und Cannabiskonsum seit Jahren untersuchen, sind meiner Meinung.

Klar sind sie das, in den Niederlanden ist Cannabis-Konsum legal.

Die Forscher sagen sich: Wie denn sonst sollen wir die Probleme, die Cannabis verursacht, unter Kontrolle bringen, wenn der Konsum verboten ist? Prohibition erschwert den Wissenszuwachs durch Forschung. Davon abgesehen muss ich nochmals betonten, dass die Legalisierung von Cannabis in den USA nur für Erwachsene ab 21 Jahren gilt. Der Jugendschutz ist gewährleistet.

Ist es nicht ein fatales Signal an Teenager, wenn potenziell gefährliche Drogen wie Crystal Meth für Erwachsene legal erhältlich sind?

Mal ehrlich. Wir leben in einer Gesellschaft, die kleine Jungs mit einer Substanz namens Ritalin abfüllt, damit sie still sitzen und in der Schule keinen Blödsinn anstellen. Wussten Sie, dass Ritalin, wenn es geschnupft wird, die gleichen Rauschzustände mit allen schädlichen Auswirkungen hervorruft wie Crystal Meth?

Jetzt übertreiben Sie aber.

Eben nicht! Wenn Sie Crystal Meth oral einnehmen, hat es denselben Effekt wie Ritalin. Ich ziehe die Parallele ja nur, um zu zeigen, mit welcher Scheinheiligkeit die Gesellschaft Drogen verteufelt. Mir geht es darum, die wissenschaftliche Sicht in die öffentliche Diskussion einzubringen. In diesem Fall sagt die Wissenschaft: Ritalin und Crystal Meth sind sich sehr ähnlich. Das eine verteufeln wir, mit dem anderen füllen wir unsere Teens ab.

Wollen Sie im Ernst sagen, dass Drogen gar nicht gefährlich sind?

Das sage ich nicht. Ich sage: Jede Droge kann verantwortlich konsumiert werden. 80 Prozent aller Leute, die Alkohol konsumieren, tun dies verantwortungsvoll. Die US-amerikanische Drogenbehörde DEA sagt offen: Cannabis ist die am wenigsten gefährliche Droge. Und trotzdem ist es Cannabis, das verboten wurde, und nicht Alkohol. Tabak ist die Substanz mit dem höchsten Suchtpotenzial. 95 Prozent der Bevölkerung glauben mir das nicht. Und doch ist das der Befund der Wissenschaft.

Die Schweiz hat einige Erfahrung im Umgang mit Drogensüchtigen. Kennen Sie sich damit aus?

Sicher. Die Bilder vom «Needle-Park» am Zürcher Platzspitz gingen ja um die Welt. Ich reiste selbst mehrmals hin, um mir einen Eindruck zu verschaffen. Wie die Schweizer mit dem Problem umgingen, hat mich beeindruckt. Man blieb pragmatisch – bis hin zur Heroinabgabe, der auch die Bevölkerung zugestimmt hat. Und das in einem so konservativen Land!

Nett von Ihnen, aber so war es nicht. Schweizer Drogenpolitik ist das Resultat von Irrungen und Wirrungen.

Aber Trial and Error gehört nun mal zu einem liberalen Umgang mit Drogen. Die Liberalisierung von Drogen ist ja kein unumkehrbarer Prozess. Wer weiss, vielleicht sieht man in ein paar Jahren, dass die Legalisierung nicht der Weisheit letzter Schluss war.

Ihnen geht es ja vor allem um die Vernichtung der Drogenkartelle. Doch die könnten bei einer Legalisierung auch profitieren.

So effizient und professionell sind die Kartelle nicht. Was Produktion, Vertrieb und Marketing anbelangt, sind Drogenringe nicht annähernd so schlagkräftig wie ein Unternehmen, das mit behördlichen Vorgängen und Prozessen einer legalen Geschäftstätigkeit vertraut ist.

Ein anderes Problem in Ihrem Land: Die Zahl der Heroinsüchtigen ist stark gewachsen.

Viele Schmerzmittel-Süchtige sind auf Heroin umgestiegen, weil das billiger ist. Amerika macht gerade eine existenzielle Schmerz-Krise durch. Die Ärzte haben zu wenig Möglichkeiten, bei chronischem Schmerz Alternativen anzubieten. Sie haben jahrelang Opiate verschrieben. Wir haben keine Krankenversicherung, die alternative Therapien übernehmen würde. Hinzu kommt die Allmacht der Pharma-Lobby. Und schliesslich der Pillen-Wahnsinn der Amerikaner. Wir sind unbewusste Konsumenten und kaufen gerne Pillen gegen dies und das.

Dann würde die Legalisierung von Heroin gar nichts bringen?

Es reicht nicht, die Drogenpolitik anzupassen. Unser Umgang mit dem Schmerz und unser Gesundheitssystem müssen sich ändern. Wir streben die Lockerung der Abgabe von Naloxon an, ein Antidot gegen Heroin. In den USA sterben jeden Tag Dutzende von Opiatabhängigen an Überdosierung. Viele könnten gerettet werden, wenn Naloxon leichter zugänglich wäre. Und schliesslich muss man die kontrollierte Heroinabgabe nach Schweizer Vorbild prüfen. Wir planen ein Pilotprojekt. Die Aufgabe allerdings, das Schweizer Modell auf amerikanische Grössen anzupassen, wird knifflig.

Wie kommt es eigentlich dazu, dass ein braver Harvard-Ökonom ohne Neigung zu Ausschweifungen sein ganzes Leben den Drogen widmet?

An der Universität habe ich gekifft. Mein Konsum war aber nie problematisch. Als Ökonom stiess ich bei meinen Recherchen auf viele Studien über psychoaktive Substanzen, die konträr zu so vielen populären Ansichten und Mythen standen, dass ich nicht anders konnte. Die Beweislage ist auch heute noch erdrückend. Die Prohibition verschlimmert alle Probleme.

Sie sind in New York in eine streng religiöse Familie geboren worden. Wollten Sie nicht einfach rebellieren?

Nein, das ist nicht der Grund. Mein Weg hat sicher mit einem starken Bewusstsein für jüdische Geschichte zu tun. Mein deutscher Grossvater hat für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erhalten, im Zweiten Weltkrieg wurde er in Auschwitz umgebracht. Meine Familiengeschichte hat mir gezeigt, was passiert, wenn die Bevölkerungsmehrheit in hysterische Zustände gerät und eine Gruppe dämonisiert. Und genau das schien während der Reagan-Ära in den 1980ern zu passieren. Drogenkonsumenten standen plötzlich auf einer Stufe mit Schwerkriminellen. Gegen diese Hetze wollte ich etwas tun.

Sie haben eine interessante Theorie, wie es zu dieser Hetze kam.

Es waren rassistische Ressentiments. Einmal gegen Chinesen, dann gegen Mexikaner. Schliesslich gegen Afroamerikaner. Bevor die Chinesen in die USA einwanderten, waren es reichere Frauen im fortgeschrittenen Alter, die Opium konsumierten. Niemand hätte Granny ihre Opiumpfeife verbieten wollen. Erst als die Chinesen kamen, zu deren Kultur auch der Opiumkonsum gehörte, fand man es notwendig, die Substanz zu verbieten. Gleich ging es beim Marihuana-Verbot in den 1920ern, auch das war xenophob motiviert, da Marihuana-Konsum vor allem mexikanischen Einwanderern zugeschrieben wurde. In den 1950ern folgte das Kokain-Verbot, das sich gegen die afroamerikanische Bevölkerung richtete. Wären es vor allem weisse Männer, die Kokain konsumieren, und schwarze Männer, die Viagra nehmen, wäre Kokain heute legal und Viagra verboten.

Wie wird die Zukunft des Drogenkonsums aussehen?

Der Joint wird verschwinden. In ein paar Jahren wird niemand mehr kiffen, sondern nur noch «vapen», Cannabis-Öl in der E-Zigarette rauchen. Senioren werden statt eines Glases Rotwein am Abend Cannabis vapen. Manche Länder werden das Rauchen von Marihuana verbieten, aber das Vapen erlauben. Cannabis wird zur Multimilliarden-Industrie werden. Vielleicht wird es wieder einen Markt für schwach wirkendes Koka geben, der Pflanze, aus der Kokain gewonnen wird. Kennen Sie «Vin Mariani»?

Noch nie gehört.

Sie sollten das googeln. Eine tolle Sache. Es handelt sich um einen Bordeaux-Wein mit Extrakten des Kokastrauchs, der bis in die 1920er Jahre in Europa verkauft wurde. Eine schöne alte Tradition, die man wiederbeleben müsste.

Ethan Nadelmann
Geboren 1957 in New York. Seinen Doktortitel erhielt der Ökonom in Harvard, später hat er in Princeton unterrichtet. 1994, auf der Spitze des Drogenkriegs durch die Reagan-Administration, verliess er Princeton und gründete die «Drug Policy Alliance», die für die Legalisierung von Cannabis kämpft.

Bundesrat befürwortet Cannabis Experiment aus

Das Parlament berät in der laufenden Frühjahrssession über politische Vorstösse, welche die Bewilligung von Versuchen der regulierten Cannabis-Abgaben fordern. Das Bundesamt für Gesundheit hat vor einigen Monaten eine geplante Studie mit dem Hinweis gestoppt, dass dafür die Gesetzesgrundlage fehle. Doch nun hat sich der Bundesrat laut der SRF-Sendung «Heute morgen» für Experimente mit legaler Cannabis-Abgabe ausgesprochen. Die Landesregierung hat sich laut SRF dafür ausgesprochen, hängige Vorstösse des Parlaments zu überprüfen. Die Vorstösse haben zum Zweck, den Bundesrat dazu zubringen, Studien über legale Cannabis-Abgaben auch ohne Gesetzesänderung zu ermöglichen. (brk.)
(https://nzzas.nzz.ch/gesellschaft/die-zustimmung-zur-cannabis-legalisierung-ist-stark-gestiegen-ld.1361350)