SPEAK-IN: GEGEN AUSSCHAFFUNGEN NACH UNGARN

Am 18. Mai 2017 haben 10 Personen vor dem EJPD gegen Dublinausschaffungen nach Ungarn demonstriert. Ein Protestschreiben mit Beweismaterial zur Gewalt gegen Geflüchtete in Ungarn wurde dem EJPD-Sprecher Philipp Schwander überreicht. Fragen wollte oder konnte der Sprecher nicht beantworten. Nach der Übergabe informierte die Kantonspolizei, dass das EJPD Strafanzeige gegen die Demonstrierenden einreichen werde. Der Kampf für ein Ende der Ausschaffungen nach Ungarn geht weiter.

Gefunden auf bleiberecht.ch

Wir veröffentlichen hier die Ansprache einer Aktivistin der antirassistischen Gruppe Migszol aus Ungarn, die während des Ungarn-Aktionstages gehalten wurde.

Wir sind heute vor dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement zusammengekommen, um den ausführenden Akteuren des Schweizerischen Asylsystems bildlich darzulegen, wofür sie sich mitschuldig machen, wenn Menschen, die in der Schweiz Asyl suchen, nach Ungarn abgeschoben werden. Durch eine kurze Kontextualisierung der Ungarischen Politik aus einer weniger bekannten Perspektive und einer Darstellung der Situation an Ungarns Grenzen, wird erläutert warum Dublin III Abschiebungen uneingeschränkt ausgesetzt werden müssen!

Die rechts-konservative Regierung unter Viktor Orbán macht seit Jahren negative Schlagzeilen durch eine immer restriktivere und repressivere Politik. Nicht nur wird mit Gesetzesänderungen versucht, liberalen Bildungsinstitutionen wie der Central European University und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen die Handlungsgrundlagen zu entziehen, um uneingeschränkte Überwachung der Bevölkerung zu erreichen. Die Gräueltaten gehen viel weiter. Viktor Orbán strebt einen weissen, christlichen Nationalstaat an, ähnlich dem des Deutschen Reiches vor weniger als 100 Jahren. Niemand traut sich, diese Tatsache auszusprechen. Untersucht man jedoch die sich schleichend verändernde öffentliche Rhetorik, welche nicht nur Diskurse prägen, sondern die Realpolitik bestimmen, dann muss man feststellen, dass der Vergleich nicht an den Haaren herbeigezogen ist.

Orbáns grösstes Problem ist demnach nicht zunehmende Armut, nicht eine zu langsam wachsende Wirtschaft oder demographische Überalterung, auch nicht Terrorismus. Im Gegenteil! Die genannten Bereiche, die allesamt den Staatsapparat prägen, sind Realitäten, die Orbáns Politik entgegenkommen. Je ärmer eine Bevölkerungsgruppe ist, desto einfacher ist sie zu manipulieren, wenn man sie zu einer unterdrückten Mehrheit erklärt. Orbans grösstes Problem also ist eine Frage des Blutes, eine Frage der Rasse, der Herkunft und Hautfarbe. Das Ziel einer weissen, christlichen Bevölkerung, die „ursprüngliche“ Europäische Werte „schützt“ und die sich nicht mit Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe mischen soll, verfolgt Orban weder über demokratische Verhandlungen, noch durch die Stärkung demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Natürlich nicht, denn sein Ziel ist unvereinbar mit der demokratischen Staatsform. Deshalb verfolgt Orban seine Ziele über autoritäres, autokratisches Regieren. Gesetzesänderungen werden in Schnellverfahren durchgeführt, damit sie nicht verhindert werden können. Die Argumente, die dabei verwendet werden, sind weder rational noch entspringen sie einer realen Situation. Die Argumente sind moralisch, oft Angst einflössend, und basieren auf propagandistisch verdrehten Geschichten, die mit Fakten nichts gemeinsam haben. So zum Beispiel, dass Geflüchtete weisse Frauen verunreinigen wollen, um die Macht des Abendlandes zu stürtzen. Seinen Argumenten liegt ein biologistisches Rassendenken wie zu Zeiten des zweiten Weltkrieges zugrunde. So betonte er letztes Jahr in einer Rede im EU-Parlament, Ungarn habe schon mit dem „Roma-Problem“ zu kämpfen, deshalb könne man keine Geflüchteten aufnehmen.

Viktor Orbans rassistische Politik geht davon aus, dass eine weisse, christliche Bevölkerung an der Spitze menschlicher Entwicklung steht und legitimiert darüber die Abwertung, ja sogar eine Entmenschlichung all derjenigen, die seinem Idealmenschen nicht entsprechen. Diese Wertung führt dazu, dass Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe jegliche Menschenwürde abgesprochen wird. Das bedeutet, dass Menschenrechte für Geflüchtete keine Gültigkeit haben; das bedeutet, dass Grundrechte nicht geschützt werden; es bedeutet, dass in Ungarn seit Jahren Geflüchtete interniert, schikaniert und misshandelt werden; es bedeutet, dass das Recht auf Schutz vor Verfolgung nicht garantiert wird; es bedeutet, dass das Recht auf Asyl ausgesetzt wurde, indem ein militärisch bewachter Zaun errichtet wurde, der eine legale Einreise nach Ungarn verunmöglicht; es bedeutet, dass Gesetzestexte im Monatstakt dahingehend umgeschrieben werden, dass die Kriminalisierung, Internierung, Isolierung und Externalisierung von Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe ungehindert immer weiter geführt werden kann.

Am 15. September 2015 hat Ungarn den ersten Grenzzaum zu Serbien fertiggestellt, vor wenigen Wochen wurde ein zweiter Zaun wenige Meter neben den ersten gesetzt, um die illegalisierte Einreise von Menschen auf der Flucht noch gänzlicher zu verhindern. Am 23. März 2016 sei die sogenannte Balkanroute geschlossen worden, teilten uns die Medien vor mehr als einem Jahr mit. Zu denken, es seien dadurch weniger oder keine Menschen mehr auf der Flucht, ist kurzsichtig und naiv. Zurzeit sitzen in Serbien ca. 8000 geflüchtete Menschen fest, die von der Weiterreise abgehalten werden. Sie werden jedoch nicht nur abgehalten von der Weiterreise, sondern von der ungarischen Polizei systematisch gefoltert, wenn sie Ungarisches Territorium betreten.

Was also geschieht an den Ungarischen Grenzen genau? Es gibt an der Grenze zwei Transitzonen, in denen geflüchtete Menschen einen Asylantrag stellen können. Pro Wochentag werden fünf Personen pro Transitzone eingelassen. Unter dem neusten Asylgesetzt, welches am 28. März 2017 in Kraft trat, werden alle Menschen, die einen Asylantrag stellen und über 14 Jahre alt sind über den gesamten Zeitraum des Asylprozesses in der Transit Zone interniert. Der Prozess dauert zwischen vier und neun Monaten. Diese Regelung verstösst gegen Europäisches und Internationales Recht auf Bewegungsfreiheit, denn um Asyl zu bitten ist keine Straftat und darf daher nicht mit Freiheitsentzug einhergehen. In einem Prozess zwischen zwei Geflüchteten und dem Staat Ungarn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 14. März 2017 entschieden, dass die Internierung von asylsuchenden Geflüchteten in der Transitzone gegen die Internationale Charta für Menschenrechte verstösst, welche von Ungarn ratifiziert ist. Mehrere EU Staaten, darunter Deutschland und Dänemark haben seither Dublin Rückschaffungen nach Ungarn sistiert. Wir fordern jedoch mehr! Wir fordern die Schweiz auf, Dublin III Rückschaffungen dauerhaft auszusetzen!

Die legale Einreise nach Ungarn und damit das Recht um Asyl bitten zu können ist nicht nur physisch durch den militarisierten Hochsicherheitszaun verunmöglicht, sondern rechtlich kriminalisiert worden. Die illegale Betretung Ungarischen Territoriums kann mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft werden. Zurzeit sitzen viele geflüchtete Menschen in Haft und können bis zur Beendigung der Strafe keinen Asylantrag stellen. Unter den Inhaftierten befinden sich unbegleitete Minderjährige, die als 18jährig registriert wurden.

Die häufigste Missachtung internationaler Menschenrechte geschieht jedoch bevor jemand überhaupt registriert wird. Wenn Menschen den Grenzzaun überschreiten und von der ungarischen Polizei gefasst werden, geschieht was ihr auf den mitgebrachten Bildern seht. Die Geflüchteten werden in Handschallen gelegt und durchsucht; ihre Dokumente, Geld und Handys werden abgenommen und zerstört; Kleider werden weggeworfen oder verbrannt; mitten im Winter wurde kaltes Wasser über Gruppen von Menschen geschüttet; die Menschen werden zwanzig Minuten lang geschlagen, angeschrien, schikaniert; Pfefferspray wird aus der Nähe in offen gehaltene Augen gesprüht; Menschen werden gezwungen vor laufender Polizeikamera einen Text vorzulesen, in dem steht, dass die Person Ungarn illegal betreten habe und von der ungarischen Polizei einwandfrei behandelt wurde; dann werden die Menschen statt zu einer Transitzone gebracht einfach zum Grenzzaun zurückgejagt und durch den rasierklingenbesetzten Stacheldraht gedrängt. Dies geschieht nicht selten indem Polizeihunde auf die Geflüchteten losgelassen werden. Das Resultat davon seht ihr auf den Fotos. Das ist Folter.[1] Ich wiederhole, das ist Folter auf dem Territorium der Europäischen Union. Und wie überall, soll die Folter der Abschreckung dienen.

Die Push-backs, die auf diese brutale Art und Weise durchgeführt werden, sind illegal. Sie geschehen nicht nur dort wo Menschen den Grenzzaun „illegal“ überqueren, sondern auch in den Transitzonen. Geflüchtete werden im Schnellverfahren befragt und systematisch als „unzulässig“ eingestuft. In diesem Fall werden sie vor die Tür gesetzt, nach Serbien. Internationale Organisationen wie UNHCR, HRW, MSF, HHC, Statewatch und Bordermonitoring machen seit vielen Monaten auf diese Zustände aufmerksam. UNHCR ruft die Europäischen Regierungen dazu auf, Dublin III Abschiebungen auszusetzen.

Wir verlangen von der Schweizer Regierung, dass Dublin III Rückschiebungen insbesondere nach Ungarn (aber auch nach Bulgarien, Kroatien und Italien) nicht nur sistiert werden, wenn die asylsuchende Person es schafft Einsprache zu erheben gegen einen Abschiebeentscheid, sondern die Regelung mit sofortiger Wirkung ausgesetzt wird. Solange die Schweiz an der Praxis Dublin III festhält, macht sie sich zur Komplizin eines Folterregimes. Wir fordern dazu eine öffentliche Stellungnahme vom zuständigen Regierungsdepartement, dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unter Bundesrätin Simonetta Sommaruga, in der anerkannt wird, dass Menschen, die nach Ungarn ausgeschafft werden, systematischer Abschiebung, rechtswidrigem Freiheitsentzug und nicht selten Folter ausgesetzt werden.

[1] Migszol dokumentiert in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen Augenzeugenberichte