ORS AG: Schweigen ist Gold

Die Beziehungen und Geldflüsse im Asylwesen sind kompliziert. Wenig hilfreich ist, dass sämtliche Akteure mit Informationen geizen. Mittendrin sitzt die ORS Service AG, eine profitorientierte Aktiengesellschaft, die mit der Betreuung von Asylsuchenden Gewinn erwirtschaftet. Ein Versuch, die Verstrickungen zu lösen.

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Der ORS-Konzern. Illustration: Moritz Koller

Gefunden auf studizytig.ch

Die Zahl der Asylgesuche ist in der Schweiz derzeit stark rückläufig. 2016 wurden 27’207 Gesuche eingereicht, das entspricht einem Rückgang von über 30% gegenüber dem Vorjahr. Zu diesem Schluss kommt das Staatssekretariat für Migration (SEM) in der Ende Januar veröffentlichten Asylstatistik. Zurückzuführen seien die sinkenden Zahlen in erster Linie auf die Schliessung der Balkanroute im März 2016. Nicht nur für Flüchtende bedeutet dies ein Problem. Dass weniger Menschen in die Schweiz kommen, dürfte auch bei der ORS Service AG für Unruhe sorgen. Die Aktiengesellschaft betreut für Bund und Kantone insgesamt 49 Durchgangszentren für Asylsuchende und profitiert finanziell von hohen Gesuchzahlen.

Ein Problem mit der Transparenz

Im Kanton Bern schossen ORS-Durchgangszentren in den letzten Jahren aus dem Boden wie Starbucks-Filialen. 2012 eröffnete das erste Durchgangszentrum, heute gibt es bereits sechs, in denen laut Amt für Migration und Personenstand (MIP) 257 Personen einquartiert sind. Die ORS übernimmt mit der Betreuung von Asylsuchenden eine Aufgabe, mit der eigentlich der Bund betraut wäre. Mittels Betreuungsaufträgen lagert der Staat die Kompetenz aus. Das kostet ihn 49 CHF pro asylsuchender Person, die das SEM täglich an den Kanton auszahlt. Dieser wiederum bezahlt damit verschiedene Asylsozialhilfestellen (ASH), unter anderem die ORS.

Die ORS profitiert finanziell von hohen Gesuchzahlen.

Und mit der ist man im Kanton Bern zufrieden. Schon 2012 hatte der Berner Regierungsrat die ORS als wichtige Partnerin bei der Unterbringung von Asylsuchenden bezeichnet und deren «rasches und unbürokratisches» Handeln gelobt, obwohl die ORS bereits damals vermehrt negativ in Erscheinung getreten war. Beispielweise als die Wochenzeitung (WOZ) 2011 aufgrund einer internen Betriebsabrechnung aufdeckte, dass die ORS im Durchgangszentrum Weiach im Kanton Zürich zu hohe Unterbringungskosten verrechnete. Demnach gab die ORS monatliche Kosten von 7000 CHF für die Unterbringung von zehn Asylsuchenden an, obwohl sie das heruntergekommene Bauernhaus, in dem die Asylsuchenden einquartiert waren, für lediglich 1500 CHF mietete. Bereicherte sich die ORS an öffentlichen Geldern, die eigentlich für Asylsuchende bestimmt waren?

Grund genug, die Abrechnungen der Berner Durchgangszentren genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch weder von Seite des Kantons noch von Seite der ORS ist man bereit, solche Abrechnungen öffentlich zu machen. In den Durchgangszentren reagiert man stets abweisend: Man spreche grundsätzlich nicht mit den Medien, das sei Sache des Unternehmenssitzes in Zürich. Von dort aus lässt die Gesellschaft verlauten, die ORS sei eine nicht-börsenkotierte Gesellschaft und folge den entsprechenden Offenlegungspflichten gemäss Obligationenrecht. Auch die Gemeinden sind wenig auskunftswillig. Die Gemeinde Moosseedorf gibt zwar an, dass der Kanton die Unterkunft stellvertretend für die ORS miete. Über die Höhe des Mietzinses oder die Anzahl der untergebrachten Personen wolle man aber keine Angaben machen, schliesslich handle es sich um einen privaten Vertrag.

Ungenügende Kontrolle

Einen Missstand wie 2011 in Weiach scheint man beim MIP jedenfalls nicht zu befürchten. Die Verwendung der Kantonsbeiträge sowie die Qualität und Wirksamkeit der Aufgabenerfüllung im Asylbereich würden durch den Kanton oder ein von  ihm beauftragten Wirtschaftsprüfungsunternehmen überprüft, beschwichtigt Markus Aeschlimann, Geschäftsführer des Amtes für Migration und Personenstand, und verweist auf die Asylsozialhilfeweisung des Kantons Bern. Diese sieht vor, dass der Kanton auch ausserhalb der Bürozeiten unangekündigte Kontrollen in den Kollektivunterkünften durchführen kann. Die Asylsozialhilfestellen müssen den Zugang jederzeit gewähren. Ausserdem müssen die ASH ihren Finanzhaushalt gemäss den spezialgesetzlichen Bestimmungen des Staatsbeitragsgesetzes und des Subventionsgesetzes führen. Wie oft Kontrollen durchgeführt werden und welche Erfahrungen man in diesem Zusammenhang mit der ORS gemacht hat, darüber will man hingegen keine Auskunft geben. Stattdessen verweist das MIP wiederholt auf die Asylsozialhilfeweisung.

Das Epizentrum des privaten schweizer Asylwesens liegt über einer Coop-Filiale in einem grauen Plattenbau im Stadtzürcher Kreis 10.

Fakt ist, dass die Kontrolle des Kantons schon einmal eindrucksvoll versagte. 2014 veröffentlichte die Organisation «Menschlicher Umgang mit Flüchtlingen» ein Video, das die prekären Zustände im Berner Durchgangszentrum Hochfeld aufzeigte. Zu sehen waren Abwasserlecks, stark verschmutze Sanitäranlagen sowie schwer deutbare schwarze Flecken an den Wänden, die ebenso Schimmel wie Ungeziefer hätten sein können. Zudem hatten sich in der Unterkunft Bettwanzen eingenistet. Eine Einschätzung, die der Kanton bis heute nicht teilt. Der Berner Regierungsrat war der Meinung, die Räumlichkeiten seien «in einem hygienisch einwandfreien und sauberen Zustand» – den Bildern aus dem Video zum Trotz. Gleichwohl schloss der Gemeinderat im Mai 2016, bereits vier Jahre nach der Eröffnung, den umstrittenen Asylbunker.

Ein Konzern an der Röschibachstrasse 22

Die ORS ist keine Wohltätigkeitsorganisation, sondern ein gewinnorientierter Akteur der Privatwirtschaft. Sie ist ihren Aktionären und Aktionärinnen verpflichtet. Das Recht auf Beteiligung am Gewinn der Gesellschaft mittels Dividende stellt den Angelpunkt der Aktiengesellschaft dar. Und so standen die Skandale, die wie treue Wegbegleiter an der umstrittenen ORS kleben, im Zeichen der Profitorientiertheit. Denn was die ORS an öffentlichen Geldern bei der Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden einspart, fliesst in die Gesellschaftskasse. Sei das durch Einsparungen bei den Wohnkosten (Weiach) oder bei der Hygiene (Hochfeld). 2015 resultierte bei der ORS ein Umsatz von 85 Millionen. Wie viel sie davon als Gewinn einstreicht und wie viel davon sie an ihre Aktionäre ausbezahlt, ist unklar.

2015 resultierte bei der ORS ein Umsatz von 85 Millionen.

Dieser fahle Geschmack der Privatwirtschaft lässt sich auch mit Blick auf die mehrschichtige Konzernstruktur, in welche die ORS eingegliedert ist, nicht übertünchen (siehe Titelgrafik). Die ORS besitzt eine Tochter- und zwei Schwestergesellschaften. In der Hierarchie darüber befinden sich zwei Holdinggesellschaften, also Gesellschaften, deren Hauptzweck es ist, andere Gesellschaften mittels Aktienmehrheit zu beherrschen. Sie tragen die kryptischen Namen OX Holding AG und OXZ Holding AG. Üblicherweise werden Holdinggesellschaften aus Steuergründen geschaffen, denn sie erlauben es, die Gewinne der untergeordneten Gesellschaften privilegiert zu versteuern.

Die Holdings befinden sich in den Händen Stefan Moll-Thissens, Direktor der ORS, Eric Jauns, ehemaliger Direktor der ORS, und der Londoner Beteiligungsgesellschaft Equistone Partners Europe. Bei der Gründung der OXZ Holding war auch die renommierte Anwaltskanzlei Vischer aus Zürich beteiligt. Sie stellt deshalb mit dem Anwalt Dr. Jürg Luginbühl einen der vier Verwaltungsratssitze der OXZ Holding. Die anderen werden von Jaun, Moll-Thissen und einem Abgesandten der Equistone besetzt.

Alle Gesellschaften des Konglomerats unterstehen der Führung von Moll-Thissen und Jaun. Sie sind in jedem Verwaltungsrat vertreten, oft leiten sie ihn sogar alleine. Weder über Moll-Thissen noch über Jaun ist viel bekannt. Moll-Thissen ist Familienvater und wohnt zusammen mit seiner Frau in der steuergünstigen Gemeinde Stallikon im Kanton Zürich. Zuvor hat er laut der «ZEIT» an der HSG studiert. Jaun ist seit 2011 pensioniert und wohnt knapp 40 Kilometer von Moll-Thissen entfernt im noch steuergünstigeren Freienbach im Kanton Schwyz. Doch nicht nur die Namen Moll-Thissen und Jaun verbinden die Firmenkaskade. Auch der Sitz der Unternehmen ist stets derselbe – die Röschibachstrasse 22. Das Epizentrum des privaten Schweizer Asylwesens liegt über einer Coop-Filiale in einem grauen Plattenbau im Stadtzürcher Kreis 10.

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Illustration: Moritz Koller

Ebenso wie die Geschäftszahlen der ORS lassen sich auch ihre Gesellschaftsverhältnisse nur schwer recherchieren. Das ist zwar kein Skandal, aber es ist zumindest beunruhigend. Eleonora Heim von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht bemängelt die Intransparenz der ORS: «Diese fehlende Transparenz ist absolut stossend.» Auch nach mehrmaligem Nachfragen würden keine Zahlen an die Öffentlichkeit gebracht, schreibt Heim. Die Menschenrechtsorganisation «augenauf» schreibt auf Anfrage der studizytig, es könne wohl davon ausgegangen werden, dass die ORS um ihren Profit bange, wenn die Öffentlichkeit erfahre, mit welchen Methoden wieviel Gewinn auf dem Buckel von Flüchtlingen generiert wird.

Teil des globalen Marktes

Vielleicht ist das konsequente Schweigen aller Seiten aber auch ein subtiler Ausdruck von Schuldbewusstsein – des Unwohlseins des Staates, weil er für die Unterbringung von Asylsuchenden keine bessere Lösung anbieten kann, als eine private Aktiengesellschaft in den Händen von zwei Unternehmern und einer Londoner Beteiligungsgesellschaft, und der Gewissensbisse der ORS, die sich der Absurdität ihres Geschäftsmodells zumindest teilweise bewusst ist und deshalb den Kontakt mit der Öffentlichkeit um jeden Preis zu vermeiden sucht. Durch die ORS und deren Konzernmutter, Equistone, ist das Schweizer Asylwesen unlängst Teil des globalen Marktes geworden. Es wird investiert, gekauft und verkauft. Gemäss der WOZ ist sogar eine Schweizer Pensionskasse an Equistone und damit am Gewinn der ORS beteiligt. Indem die ORS ihre finanziellen Aufwendungen auf Kosten der Asylsuchenden minimiert und damit den eigenen Gewinn erhöht, finanziert sie Schweizer Rentnerinnen und Rentnern den Lebensabend.

Nicht-profitorientierte Organisationen seien deshalb unbedingt bevorzugt mit der Betreuung von Asylsuchenden zu beauftragen, findet «augenauf», ansonsten würden Durchgangszentren plötzlich noch an der Börse gehandelt. Mit Blick auf die Beteiligung von Equistone an der ORS scheint diese Möglichkeit zumindest denkbar. Auch Eleonora Heim ist skeptisch: «Aus unserer Sicht ist es fraglich, ob eine externe Firma, die primär wirtschaftliche Interessen verfolgt, den Rechten und Bedürfnissen der Asylsuchenden genügend Rechnung tragen kann und will.» Man werde deshalb weiterhin fordern, dass Schweizer Hilfswerke bei Bewerbungen um die Betreibung von Asylzentren priorisiert würden, so Heim.

(…) des Unwohlseins des Staates, weil er für die Unterbringung von Asylsuchenden keine bessere Lösung anbieten kann, als eine private Aktiengesellschaft in den Händen von zwei Unternehmern und einer Londoner Beteiligungsgesellschaft (…)

Anders sieht das der Kanton Bern. In einer Stellungnahme gegenüber dem Grossen Rat hielt der Regierungsrat 2012 fest, dass es für die Vergabe der Betreuungsmandate keine entscheidende Rolle spiele, welche Organisationsform die betreuende Gesellschaft habe. Demnach wird eine gemeinnützige Stiftung wie die Heilsarmee gleichbehandelt wie die ORS, eine Aktiengesellschaft, deren oberstes Ziel die Erwirtschaftung von Gewinn ist. Die Profitorientiertheit der Aktiengesellschaft ist so integral mit ihrem Charakter verkeilt, dass sie nur mit der Zustimmung aller Aktionärinnen und Aktionären aufgehoben werden kann. So steht es im Gesetz.

Spardruck nimmt zu

Die Anzahl neuer Asylgesuche wird auch 2017 sinken, davon geht das SEM aus. Prognostiziert sind 24’500 Gesuche, was einem Rückgang von rund 10% gegenüber 2016 entspräche. In Zürich konnten innerhalb des letzten Jahres die Zentren Zürich-Witikon und Zürich-Altstetten geschlossen werden, in Basel schloss jüngst die Zivilschutzanlage St. Jakob. Auch der Kanton Bern wird aktiv: Er schliesst im April die Notunterkunft Eyfeld in Ittigen. Sie wird von der ORS geführt.

Demnach wird eine gemeinnützige Stiftung wie die Heilsarmee gleichbehandelt wie die ORS, eine Aktiengesellschaft, deren oberstes Ziel die Erwirtschaftung von Gewinn ist.

Die letzten Jahre waren fett, das lässt sich an der Expansion der ORS im Kanton Bern ablesen. Seit 2012 grast die Gesellschaft auf den Wiesen des Kantons, doch es drohen trockenere Zeiten. Gleichlaufend mit der sinkenden Gesuchzahl sinkt die Nachfrage nach den Dienstleistungen der ORS. Was tut ein Betrieb, dessen Markt schrumpft? Die ORS könnte das Betreuungsverhältnis verändern, indem sie Personal entlässt, sie könnte bei der Hygiene, der Gesundheitsversorgung oder bei der Verpflegung sparen. Fest steht, dass die Asylsuchenden es spüren werden.