Zwanzig antirassistische Aktivist*innen haben sich heute um die Mittagszeit vor dem Hauptsitz des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement versammelt. „Solidarität mit dem Widerstand gegen den Rassismus in Ungarn“ oder „Ausschaffungen abschaffen“ war auf Transparenten zu lesen. Der Protest richtete sich gegen den grassierenden Rassismus in Ungarn und gegen Ausschaffungen nach Ungarn. Zudem wollte die Aktion solidarisch auf den Hungerstreik von hundert geflüchteten Aktivist*innen in Ungarn aufmerksam machen. Zur Kundgebung aufgerufen hatte das Bleiberecht Kollektiv Bern.
Gefunden auf ajour-mag.ch
Am Montag starteten rund hundert geflüchtete Aktivist*innen im Lager Bekescsaba in der Nähe der rumänischen Grenze einen Hungerstreik. Sie protestierten damit gegen ihre Internierung und forderten, dass der ungarische Staat sie weiterreisen lässt. Aufgrund des Dublinsystems sind sie juristisch an Ungarn gebunden. Laut Medienberichten ging der Hungerstreik vor einigen Stunden zu Ende. Ob die geflüchteten Aktivist*innen ihr Ziel erreicht haben, ist noch unklar. Der Hungerstreik startete rund eine Woche nachdem das ungarische Parlament die generelle Internierung von Geflüchteten im Asylprozess beschlossen hatte. Das neue Gesetz sieht vor, dass auch Kinder in von Stacheldraht umgebenen Containerlagern festgehalten werden. Dass sich das Orban-Regime von Rechtsstaatlichkeit verabschiedet, zeigte sich auch Dienstag, als der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die ungarischen Behörden schuldig sprach. Das Gericht befand, dass zwei aus Bangladesch geflüchteten Personen in Ungarn unrechtmässig inhaftiert und nach Serbien abgeschoben wurden. Die beiden sollen jeweils 10 000 Euro Entschädigung erhalten. Die Orban-Regierung lehnt das Urteil jedoch ab.
Die Schweiz als Komplizin
Obwohl der rassistische Umgang mit Geflüchteten in Ungarn bereits länger bekannt ist und täglich Menschen schädigt, schaffen die schweizer Behörden weiterhin nach Ungarn aus. Im vergangenen Jahr wurden 65 Personen abgeschoben, im vergangenen Monat drei. Das Bleiberecht Kollektiv kritisiert diese bewusst in Kauf genommene Gewalt. Seit einer Woche ist das Kollektiv nicht mehr allein mit der Kritik. Auch NGO’s wie Human Rights Watch, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht und sogar die Schweizerische Flüchtlingshilfe, die sich nicht rasch aus dem Fenster lehnt, fordern mittlerweile einen sofortigen Ausschaffungsstopp. Aufgrund des Selbsteintrittsrechts wäre das Staatssekretariat für Migration (SEM) jederzeit frei die Ausschaffungen zu stoppen und Asylgesuche von Geflüchteten, die über Ungarn in die Schweiz einreisten, anzunehmen. Die menschenverachtende Praxis des SEM erfolgt derzeit sogar entgegen den Einschätzungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer). Dieses hatte sich kritisch zur Lage in Ungarn geäussert. Seit Februar 2016 bearbeitet es deshalb keine Beschwerden gegen Dublin-Negativentscheide mehr, die eine Abschiebung nach Ungarn zur Folge hätten.
Bundesverwaltungsgericht nutzt Spielraum nicht
Eine geflüchtete Familie aus Afghanistan erklärte an der Kundgebung, was die Praxis des BVGer in ihrem Fall bedeute. Sie seien zwar einer Ausschaffung nach Ungarn entkommen, doch seit Oktober 2015 warten sie darauf, dass das BVGer ihren Rekurs gutheisst. Dieses Warten sei Leiden. Lebenszeit gehe verloren und das Asylregime wirke zermürbend, erklärten sie den versammelten Aktivist*innen vor dem EJPD.
Das Bleiberecht Kollektiv Bern machte klar, dass auch das BVGer Freiheiten hätte, die es zu Gunsten der Geflüchteten nutzen könnte. Statt wegzuschauen, könnte es zum Beispiel die Dublin-Negativentscheide aufheben und das SEM zwingen, die Gesuche in der Schweiz zu prüfen. Dass das BVGer dies nicht mache, spreche für sich.
Interessant ist auch die Tatsache, dass es seit der Praxisänderung des BVGer überhaupt noch zu Ausschaffungen kommt. Entweder die abgeschobenen Personen wollten unbedingt nach Ungarn ausgeschafft werden oder die Pflichtanwält*innen in den Bundeslagern haben ihrem Job schlecht gemacht. Das Bleiberecht Kollektiv Bern vermutet, dass die Pflichtanwält*innen in teilweise darauf verzichten gegen die Dublin-Negativentscheide des SEM Beschwerden einzureichen.