Medienspiegel: 1. Januar 2017

+++BERN
NZZ am Sonntag 01.01.2017

Asyl: Die Flüchtlingshelfer im SVP-Dorf

In Riggisberg (BE) suchen Freiwillige Arbeit für Asylsuchende. Das hat Pilotcharakter.

Von Lukas Häuptli

Eigentlich heisst Tewie nicht Tewie. Sondern Tewelde Debesay. Doch im Heim nennen ihn alle Tewie. Er arbeitet in der Pflegeabteilung und betreut geistig und psychisch Behinderte. Hilft ihnen beim Essen. Führt sie aufs WC. Redet mit ihnen. Spielt mit ihnen. Geht mit ihnen spazieren. Es ist nicht die leichteste Arbeit, im Gegenteil. Manchmal wollen die Behinderten, manchmal wollen sie nicht. Dann muss Tewie geduldig sein. «Ja, geduldig, das schon», sagt er. Der Mann ist 33-jährig. Bis vor drei Jahren hat er als Biologielehrer in Eritrea gearbeitet. Dann floh er vor dem autoritären Regime des ostafrikanischen Staats. Und jetzt arbeitet er als Praktikant in der Pflegeabteilung des Wohnheims Riggisberg.

Riggisberg liegt über dem Gürbetal, zwanzig Kilometer sind es bis
Bern, zwanzig bis Thun. Hinter dem Dorf tut sich das prächtige
Panorama des Gurnigel und des Gantrisch auf, und vom
2500-Einwohner-Ort fahren Postautos in Dörfer mit allerlei lustigen Namen: Toffen, Hinterfultigen, Niedermuhlern. In Riggisberg selbst stehen Einfamilienhäuser neben Einfamilienhäusern, Mehrfamilienhäusern, Bauernhöfen. Im Dorfkern reiht sich Geschäft an Geschäft, als habe der Detailhandel nie eine Krise gekannt. Bäckerei Steiner, Metzgerei Schwander, Drogerie Grünig. Damen-Mode, Herren-Mode, Eisenwaren. Vieles hier hat Ordnung. Auf der Strasse grüsst man sich in breitem Berndeutsch, an der Urne wählt man stramm die SVP. Bei den Nationalratswahlen 2015 erreichte die Partei einen Stimmenanteil von 55 Prozent. Und bei den Gemeinderatswahlen vor anderthalb Monaten erhöhte die SVP die Zahl ihrer Sitze von vier auf fünf. Zwei blieben für Parteilose.

Ausgerechnet in dieser SVP-Trutzburg machen sich Freiwillige für
Flüchtlinge stark. Sie organisieren Begegnungsorte, mieten Wohnungen, bieten Kurse an. Jetzt gerade setzen sie alles daran, dass Flüchtlinge Arbeit finden. Integration in den ersten Arbeitsmarkt nennt das die Asylbürokratie. Es ist das Erfordernis der Stunde: Die Schweiz hat in den letzten fünf Jahren 24 000 Asylsuchende als Flüchtlinge anerkannt und weitere 26 000 vorläufig aufgenommen. Es wäre längerfristig ein grösseres Problem, sollten diese nicht arbeiten, sondern Sozialhilfe beziehen (vgl. Kasten).

Wie aber kam das, diese Unterstützung für Fremde in einem Dorf, das sich an der Urne gegen Fremde ausspricht? Daniel Winkler sitzt in seinem Arbeitszimmer. Auf dem Pult liegen säuberlich gestapelt Unterlagen, die Gestelle sind lückenlos mit Büchern gefüllt. Winkler ist gross und sportlich, man würde in ihm eher einen Bergführer als den Pfarrer vermuten. Pfarrer von Riggisberg, seit zwölf Jahren, aber weil der 49-Jährige aus der Gegend stammt und in der Männerriege mitturnt, hat die Dorfbevölkerung ihn längst als einen der Ihren akzeptiert.

Sechzig Freiwillige

Daniel Winkler also sitzt im Arbeitszimmer des Pfarrhauses und sagt: «Wir müssen der Ego-Mentalität etwas entgegensetzen.» Und: «Wir brauchen eine Anstandskultur.» Und: «Ich will eine Kirche, die auch für andere da ist.» Hie und da fügt er ein «Weisch, wie ich mein?» an, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Daniel Winkler, Vater von vier Töchtern, ist einer der Initianten der Freiwilligenarbeit in Riggisberg. Zeitweise haben sechzig Männer und Frauen mitgemacht, heute sind es noch gut zwei Dutzend.

Im August 2014 sind die Flüchtlinge ins Dorf gekommen. Der Kanton hatte gefragt, ob er in der unterirdischen Truppenunterkunft am Ortsrand 150 Asylsuchende unterbringen könne. Es waren fast ausnahmslos Männer, die meisten aus Syrien und Eritrea. Zwar stimmte der Gemeinderat dem Projekt zu, aber die Mehrheit der Dorfbewohner hatte Vorbehalte. «Es sind zu viele. Es sind die Falschen. Es sind Verwöhnte», sagten sie. Und klagten über Flüchtlinge, welche «die teuersten Hugo-Boss-Pullover» trügen. Was die Stimmung zusätzlich anheizte: Ein paar Wochen nach der Eröffnung kam es im Asylzentrum zu einer wüsten Schlägerei. Sechs Personen wurden verletzt, sechs
verhaftet.

Es war die Zeit, als Daniel Winkler und die anderen Freiwilligen aktiv wurden. Sie erklärten den Riggisbergern, dass die Hugo-Boss Pullover, welche die Flüchtlinge trugen, aus der Kleidersammlung der Heilsarmee stammten. Sie erklärten den Flüchtlingen, dass in Riggisberg gegrüsst und der Abfall in Abfallkübeln entsorgt werde. Und sie – das vor allem – organisierten Arbeitseinsätze. Im Herbst 2014 zum Beispiel halfen Dutzende Flüchtlinge, nach den Unwettern in der Region aufzuräumen. «Das war ein wichtiges Zeichen», sagt Winkler heute. «Ein Zeichen, dass die Flüchtlinge arbeiten wollen.»

Nach und nach ist das Verständnis des SVP-Dorfes für die Flüchtlinge gewachsen. Sollte es so etwas wie eine Formel geben, die diesen Wandel ermöglichte, könnte diese lauten: Erstens braucht es Menschen, die den Einheimischen erklären, warum Asylsuchende flüchten – und den Asylsuchenden, was die Einheimischen von ihnen erwarten. Zweitens braucht es Menschen, die anpacken, damit Flüchtlinge hier schnell selbständig werden. Und drittens braucht es Menschen, die sich nicht vor einer engen Zusammenarbeit zwischen Flüchtlingen, Freiwilligen, Kirchen, Hilfswerken und Behörden scheuen.

Der Kavallerie-Reitverein im Säli

Mitten in Riggisberg steht der «Adler». Riggisbergerstube,
Vereinssäli, vollautomatische Kegelbahn. Spezialität des Hauses ist
der «hausgebeizte Rindsauerbraten». Der Wirt steht wortlos hinter der Theke, und wenn die Serviererin den Gast fragt, ob er noch ein Bier wolle, antwortet er: «Gern, aber nid grad e Milchchübel voll.» Im Restaurant laufen die Fäden zusammen. Ein Dutzend Vereine gibt es im Dorf, vom Jodlerklub über den Kavallerie-Reitverein bis zum Skiklub. Nicht wenige Vereinsabende enden im «Adler»-Säli und im bierseligen Geplauder über das Dorf.

Auch Michael Bürki ist im Verein. Er führt das Sekretariat der
Gesellschaft «Kleintiere, Sektion Bern-Jura, Abteilung Rassegeflügel». Der 38-Jährige ist Riggisberger durch und durch. Hier kam er zur Welt, hier wurde er gross, hier wohnt er noch immer, mittlerweile im Haus an der Strasse hinunter ins Gürbetal. Der gelernte Kaufmann ist Gemeindepräsident, steht der lokalen SVP vor und sagt: «In der Flüchtlingspolitik vertrete ich eine klare SVP-Linie.» Grundsätzlich, denn er ergänzt: «Wenn die Asylsuchenden einmal da sind, muss man sie unterstützen.» Das sagte Bürki mehrmals öffentlich, worauf prompt mehrere SVP-Mitglieder aus der Ortspartei austraten. Zu flüchtlingsfreundlich. Vielleicht ist auch das eine Riggisberger Eigenheit: ein SVP-Hardliner, der Stellung für Flüchtlinge bezieht.

Im Dezember 2015 schloss der Kanton das Asylzentrum; in Riggisberg geblieben sind dreissig Flüchtlinge. Die meisten stammen aus Eritrea und haben in der Schweiz ein Bleiberecht. Jetzt suchen Daniel Winkler und die Freiwilligen Arbeit für sie: Praktikumsplätze, Lehrstellen, Arbeitsplätze. Sie erfassen minuziös, was die Flüchtlinge können, welche Begabungen, Ausbildungen und Erfahrungen sie haben, was sie noch lernen müssen. Es ist ein langwieriger Prozess; die Vorbehalte gegen Flüchtlinge als Arbeitnehmer sind noch immer gross. Doch der
Erfolg stellt sich ein: In Riggisberg haben das Wohnheim, das
Altersheim, das Spital, eine Stiftung und mehrere Gewerbebetriebe Hand für Beschäftigungen geboten. Heute gehen zwanzig der dreissig Flüchtlinge einer Arbeit nach.

Einer von ihnen ist Tewie, der eritreische Flüchtling, der früher
Biologielehrer war und heute Pflegepraktikant ist. Er sitzt im
Aufenthaltsraum des Wohnheims Riggisberg und spielt mit einer
Bewohnerin Nünistein. «Man hat im Leben viele Chancen», sagt er. «Eine war, dass mich die Schweiz aufnahm.» Zwar musste sich Tewie zuerst an Land und Leute gewöhnen, vor allem an die ernsten Gesichter, die er morgens im Postauto sah. Doch von Anfang an war klar: Er wollte hier Fuss fassen und arbeiten. Deshalb machte er das sechsmonatige Praktikum im Wohnheim, ohne zu zögern, deshalb strebt er jetzt eine dreijährige Lehre als Pfleger an. Im nächsten Sommer soll sie beginnen. «Ich will in der Schweiz selbständig sein», sagt er. «Selbständig und frei, das ist die grösste Chance.»

-> https://riggi-asyl.ch/
-> Broschüre zum Freiwilligendienst:
https://riggi-asyl.ch/wp-content/uploads/2016/03/riggi-asyl-Menschen-ein-St%C3%BCck-Heimat-bieten.pdf

Integration: Bleiberecht für 50 000 Flüchtlinge in fünf Jahren

In den letzten fünf Jahren, also seit Ausbruch des Syrien-Kriegs, ist
die sogenannte Schutzquote für Asylsuchende in der Schweiz
kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2012 betrug sie knapp zwanzig
Prozent, gegenwärtig liegt sie bei rund fünfzig Prozent. Das bedeutet, dass fast jeder zweite Gesuchsteller ein Bleiberecht erhält, sei es als anerkannter Flüchtling, sei es als vorläufig Aufgenommener. Alles in allem kamen in den letzten fünf Jahren rund 50 000 Asylsuchende zu einer Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz. Die meisten stammen aus Syrien und Eritrea.

Die Kosten für sie trägt der Bund, allerdings nur in den ersten fünf
Jahren (für anerkannte Flüchtlinge) beziehungsweise in den ersten
sieben Jahren (für vorläufig Aufgenommene). In dieser Zeit entrichtet der Bund den Kantonen und Gemeinden pro Flüchtling und vorläufig Aufgenommenen rund 18 000 Franken pro Jahr. Dazu zahlt er pro Person eine einmalige Integrationspauschale von 6000 Franken.

Nach Ablauf dieser fünf beziehungsweise sieben Jahre müssen die
Kantone und Gemeinden die entsprechenden Integrations- und
Sozialhilfekosten selbst tragen. Wegen der höheren Schutzquoten wird das in den nächsten Jahren bei mehreren zehntausend Personen der Fall sein. Zurzeit liegt die Erwerbsquote von Flüchtlingen nach fünfjährigem Aufenthalt in der Schweiz bei 28 Prozent, diejenige von vorläufig Aufgenommenen bei 46 Prozent. Das bedeutet, dass zu diesen Zeitpunkten 72 Prozent der Flüchtlinge und 54 Prozent der vorläufig Aufgenommenen ohne Arbeit sind. (sbü)

+++LUZERN
Brand in Asylunterkunft in Hergiswil bei Willisau gelöscht – Ursache weiter unklar
In Hergiswil bei Willisau ist am Silvesterabend in einer
Asylunterkunft ein Brand ausgebrochen. Ob die sieben Bewohner zuhause waren, ist unklar. Auch die Brandursache ist nicht bekannt. Inzwischen ist der Brand gelöscht.
http://www.watson.ch/Schweiz/Blaulicht/773826839-Brand-in-Asylunterkunft-in-Hergiswil-bei-Willisau-gel%C3%B6scht-%E2%80%93-Ursache-weiter-unklar
->
http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/zentralschweiz/luzern/Wohnhaus-in-Hergiswil-brennt;art92,933417
->
http://tele1.ch/DesktopModules/MyVideoPlayer/Player.aspx?id=26631|526&embedd=false&autoplay=true
->
http://www.telem1.ch/35-show-aktuell/13990-episode-sonntag-1-januar-2017#asylunterkunft-durch-flammen-inferno-zerstoert
->
http://www.zentralplus.ch/de/news/aktuell/5519388/Brand-in-Asylunterkunft-%E2%80%93-die-gesamte-Feuerwehr-r%C3%BCckt-aus.htm

+++SCHWEIZ
Asylwesen: In den Kantonen explodieren die Kosten
Die Zahl der Asylgesuche ist 2016 um ein Drittel gesunken. Trotzdem kommen auf Kantone und Gemeinden Zusatzkosten in dreistelliger Millionenhöhe zu.
http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/asylwesen-in-den-kantonen-explodieren-die-kosten-ld.137541

2016 verschwanden so viele Asylsuchende wie noch nie
Sind sie ein Sicherheitsrisiko? Das Staatssekretariat für Migration
sieht kaum Gefahr.
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/nachrichten/2016_verschwanden_so_viele_asylsuchende_wie_noch_nie/
->
http://www.watson.ch/Schweiz/Migration/521836193-2016-verschwanden-so-viele-Asylsuchende-wie-noch-nie
->
http://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/2016-verschwanden-so-viele-asylsuchende-wie-noch-nie-130826287
->
http://www.blick.ch/news/schweiz/asyl-mehr-als-8000-asylsuchende-sind-2016-untergetaucht-oder-ausgereist-id5979072.html
->
http://www.derbund.ch/schweiz/standard/kantone-klagen-ueber-asylkosten/story/13604729
->
http://www.srf.ch/news/schweiz/8-000-asylbewerber-im-letzten-jahr-verschwunden

Happy Birthday: Weshalb das häufigste Geburtsdatum der 1. Januar ist
In der Schweiz haben offiziell 44 500 Einwohner am 1. Januar
Geburtstag. Mehr als doppelt so viele wie durchschnittlich an anderen Tagen. Das ist kein Zufall.
http://www.nzz.ch/schweiz/happy-birthday-weshalb-das-haeufigste-geburtsdatum-der-1-januar-ist-ld.137462

+++ITALIEN
Migration: Italien will Abschieberegelungen verschärfen
Italien will künftig schärfer gegen Migranten vorgehen, denen eine
Aufenthaltsgenehmigung verweigert wurde und die abgeschoben werden sollen.
http://www.nzz.ch/international/europa/migration-italien-will-abschieberegelungen-verschaerfen-ld.137534?cid=dlvr.it

+++SPANIEN
Verletzte im marokkanischen Ceuta: 1100 Migranten wollen spanische Exklave in Nordafrika stürmen
Rund 1100 afrikanische Flüchtlinge und Migranten haben in Marokko versucht, die spanische Exklave Ceuta zu stürmen und so EU-Gebiet zu erreichen.
http://www.nzz.ch/international/verletzte-im-marokkanischen-ceuta-1100-migranten-wollen-spanische-exklave-in-nordafrika-stuermen-ld.137572?cid=dlvr.it
->
http://www.derbund.ch/ausland/europa/mehr-als-tausend-migranten-stuermen-zaun-vor-ceuta/story/24863338
->
http://www.spiegel.de/politik/ausland/marokko-afrikanische-migranten-stuermen-grenzzaun-in-ceuta-a-1128196.html
->
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-01/ceuta-spanien-migranten-afrika-exklave

+++SERBIEN
Flüchtlinge in Serbien: Die Vergessenen
Seit Ungarn seine Grenzkontrollen verschärft hat, stecken viele
Flüchtlinge in Serbien fest. Allein in Belgrad leben mehr als 1000 auf der Straße – sie kämpfen gegen Kälte, Hunger und Hoffnungslosigkeit.
http://www.spiegel.de/video/fluechtlinge-stecken-in-serbien-fest-video-1731647.html

+++EUROPA
Malta übernimmt den EU-Ratsvorsitz: Hauptziel Konfliktentschärfung
Der Inselstaat will in den nächsten sechs Monaten an einem gemeinsamen europäischen Asylsystem arbeiten. Vor allem die Osteuropäer mauern.
http://taz.de/Malta-uebernimmt-den-EU-Ratsvorsitz/!5370326/

+++RACIAL PROFILING
Racial Profiling der Kölner Polizei
In der Sylvesternacht kontrollieren Beamte vorsorglich Hunderte
Männer, die »augenscheinlich aus Afrika stammen«
Die Polizei in Köln verdächtigt Personen aufgrund ihres Aussehens und ihrer Hautfarbe. 1.000 Menschen werden gehindert, zum Kölner Dom zu gelangen. Die Polizei spricht von einer Nacht »ohne größere Zwischenfälle«.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037088.racial-profiling-der-koelner-polizei.html
->
http://www.n-tv.de/politik/Wer-feiern-darf-und-wer-nicht-article19445146.html
-> https://www.taz.de/Kommentar-Racial-Profiling-in-Koeln/!5367094/
->
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/silvester-kontrollen-in-koeln-was-bitteschoen-ist-ein-nafri-a-1128172.html
-> http://de.reuters.com/article/deutschland-k-ln-polizei-idDEKBN14L175?il=0
->
http://www.huffingtonpost.de/2017/01/01/racial-profiling-koeln-polizei-_n_13921512.html
->
http://amnesty-polizei.de/massives-racial-profiling-durch-die-koelner-polizei-in-der-silvesternacht-massnahme-muss-kritisch-aufgearbeitet-werden/
->
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-01/koeln-silvesternacht-polizei-nafri-tweet-racial-profiling
->
http://www.stadtrevue.de/archiv/archivartikel/10506-polizeikessel-statt-party/
->
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037154.rassistische-grosskontrollen-zum-jahreswechsel.html
->
https://www.vice.com/de/article/maschinenpistolen-taschenkontrollen-und-racial-profiling-die-nacht-am-koelner-hauptbahnhof
-> http://www.jungewelt.de/2017/01-02/007.php

+++DROGENPOLITIK
Wenn du Drogen nimmst, misst das dieser Forscher im Abwasser
Jedes Jahr publiziert die europäische Drogenbehörde ein Ranking:
Welche Stadt kokst am meisten? Wo ist Crystal Meth im Vormarsch? An welchem Tag werden die meisten Pillen gespickt?
https://tsri.ch/zh/wenn-du-drogen-nimmst-misst-das-dieser-forscher-im-abwasser/

+++GASSE
Schweiz am Sonntag 01.01.2017

Eskalation zwischen Soup&Chill und Sozialhilfe

Die Wärmestube darf wegen Wanderarbeitern keine Gutscheine mehr für die Notschlafstelle abgeben.

Von Annika Bangerter

Ab 21 Uhr herrscht für auswärtige Randständige eisige Kälte. Zu diesem Zeitpunkt schliesst die Wärmestube Soup&Chill ihre Türen. Wer in Basel gemeldet ist, findet für 7.50 Franken Unterschlupf in der Notschlafstelle. Ausserkantonale müssen tiefer in die Tasche greifen: 40 Franken kostet für sie eine Übernachtung. Zu viel für mittellose Menschen.

In den Wintermonaten dürfen daher soziale Institutionen wie der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter oder die Caritas sogenannte Kostengutsprachen aushändigen. Auswärtige oder ausländische Obdachlose können diese Gutscheine in der Notschlafstelle einlösen. Die sozialen Institutionen bezahlen diese Übernachtungen, aber bloss den tieferen Tarif. Damit ist Schluss, zumindest für das Soup&Chill.

Mitte Dezember erhielt Claudia Adrario de Roche, Präsidentin der
Wärmestube, einen Brief. Darin teilte ihr das Sozialamt mit, dass in
Rücksprache mit Regierungsrat Christoph Brutschin die Anzahl der
Kostengutsprachen auf monatlich dreissig begrenzt werde. Verteilt
Soup&Chill darüber hinaus solche Gutscheine, akzeptiere diese die
Notschlafstelle nicht mehr. Die Personen würden abgewiesen. Für
Adrario unverständlich: «Wir besitzen Bons, und dennoch sollen
Menschen draussen schlafen?» Ihr Team hat nun einen Aufruf für warme Kleider und Schlafsäcke gestartet. «Es ist eine echte Notsituation», sagt Adrario.

Die Not hat allerdings einen Vorlauf. Bereits Anfang Dezember hatte die Präsidentin des Soup&Chill eine Mail vom Sozialamt erhalten. Darin wurde sie aufgefordert, «zurückhaltender mit den Kostengutsprachen» umzugehen. Das Umgekehrte geschah: Hatte die Wärmestube zu diesem Zeitpunkt 98 Gutschriften verteilt, waren es zehn Tage später bereits 194. Für die Sozialhilfe galt es, «die Reissleine zu ziehen», sagt Leiterin Nicole Wagner: «Dieser Anstieg ist enorm. Wir gehen davon aus, dass es sich über Basel hinaus herumgesprochen hat, wie Soup&Chill hier Kostengutschriften verteilt.» Die Sozialhilfe fürchtet eine «Sogwirkung», einen eigentlichen Notschlaf-Tourismus unter
ausländischen Wanderarbeitern. Den Grossteil der Gutscheine erhielten mittellose Menschen aus Rumänien, der Slowakei und Polen, die eine Arbeit in Basel suchen. Bei diesen «grösseren Gruppen» hätte es Probleme in der Notschlafstelle gegeben, sagt Wagner. Einzelpersonen hätten sich unwohl und verdrängt gefühlt: «Steigt deren Zahl weiter an, können wir unseren Kernauftrag nicht mehr erfüllen und müssen notleidende Baslerinnen und Basler abweisen.» Christoph Brutschin sagt: «Wir sind nicht in der Lage, allen, die unterwegs sind, Unterschlupf zu gewähren.»

Dies sei eine «Ausrede» und lenke vom Thema ab, sagt Claudia Adrario. Die Stimmung in der Notschlafstelle sei seit längerem schlecht und Betten würden auch in Wintermonaten leer bleiben. Tatsächlich betrug die Auslastung im November und Dezember knapp sechzig Prozent. Dass es «durchaus schwierige Gruppen» gibt, streitet Adrario nicht ab, aber dieses Kontingent würde nun alle treffen, die bei ihnen Hilfe suchen.

Zürich hat eine Lösung

Auch die Stadt Zürich führte die Diskussion um Wanderarbeiter: Im Pfuusbus von den Sozialwerken Pfarrer Sieber gab es Spannungen zwischen ihnen und einheimischen Obdachlosen. Deshalb rief die soziale Institution vor vier Jahren das Iglu ins Leben. Das Matratzenlager wird seither jeden Winter eingerichtet. Die ausländischen Arbeitssuchenden erhalten bei Bedarf eine Sozialberatung. Die Übernachtung mit einem einfachen Nachtessen und Frühstück ist für sie gratis, allerdings auf zehn Nächte pro Saison beschränkt. Für Stefan Haun, Leiter der Auffangeinrichtung, hat sich das Modell bewährt: «Nicht einige Gratisnächte treiben diese Personen in die Schweiz, sondern die Not in ihren Heimatländern und die Suche nach Arbeit.» Innert zehn Tagen lasse sich herausfinden, ob sie eine Perspektive hier hätten; wenn nicht, hilft Hauns Team, die Rückreise zu organisieren.

Im Schnitt nächtigen 17 Personen im privat finanzierten Iglu. Die von der Stadt befürchtete Sogwirkung sei ausgeblieben, sagt Haun. Das Angebot ist inzwischen unbestritten. In Basel wird stattdessen über Gutscheine gestritten.

->
http://www.tageswoche.ch/de/2016_53/basel/738736/Notschlafstelle-schickt-Obdachlose-in-die-K%C3%A4lte.htm

+++BIG BROTHER
Nach Berlin: Opferschutz vor Datenschutz
Politiker fordern, dass Videos von Überwachungskameras bis zu hundert Tage lang gespeichert werden dürfen.
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/nachrichten/nach_berlin_opferschutz_vor_datenschutz/

Sonntagszeitung 01.01.2017

Threema prüft Wegzug ins Ausland

Mit einer neuen Verordnung zum Überwachungsgesetz Büpf können Text-Messaging-Dienste gezwungen werden, Vorratsdaten anzulegen – der Branchenverband schlägt Alarm

Von Dominik Balmer

Zürich – Threema ist so erfolgreich wie noch nie. Heute nutzen 4,5
Millionen Menschen den Messaging-Dienst des Unternehmens aus Pfäffikon SZ. Die kostenpflichtige App erlaubt es, Nachrichten verschlüsselt zu verschicken, und schützt so vor dem Datenhunger der Behörden.

Doch jetzt gerät das Unternehmen selbst ins Visier der staatlichen
Spitzelei. Das zeigt ein neu ausgearbeiteter Verordnungsentwurf zum neuen Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf ). Der Entwurf gibt den
Strafverfolgungsbehörden praktisch einen Blankocheck.

Im Papier heisst es sinngemäss, in Ausnahmefällen könne jedes
Unternehmen, das Applikationen mit einer Chatfunktion anbiete,
gezwungen werden, eine Vorratsdatenspeicherung anzulegen. Dabei werden die Randdaten der Kommunikation erfasst: Also wer mit wem, wann, wie lange, von wo aus und mit welchem Gerät in Kontakt gestanden ist. Gemäss dem neuen Büpf müssen diese Daten ein Jahr aufbewahrt werden.

Die Ausnahme gelte «bei einem Ereignis mit besonderer Relevanz für die Strafverfolgungsbehörden», sagt Nils Güggi, Leiter Recht beim Dienst Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr Üpf. Dazu zählen Terroranschläge. In einem solchen Fall kann laut Güggi jeder Anbieter abgeleiteter Kommunikationsdienste, wozu auch Threema gehört, «verpflichtet werden, Vorratsdaten anzulegen».

«Es gibt keine totale Überwachung»

So weit wollen es die Entwickler des im März 2014 gegründeten
Unternehmens aber gar nicht erst kommen lassen. «Sollten wir vom Gesetz gezwungen werden, eine Vorratsdatenspeicherung anzulegen, werden wir prüfen, unsere Server und gegebenenfalls auch unseren Geschäftssitz ins Ausland zu verlagern», sagt Threema-Mitgründer Martin Blatter. «Wir haben dazu juristische Abklärungen in Auftrag gegeben.» Threemas Geschäftsmodell basiert darauf, möglichst keine Daten zu speichern und so die Privatsphäre zu schützen. «Eine Vorratsdatenspeicherung widerspricht unserer Philosophie», sagt Blatter.

Threema ist mit der Angst vor Lauschangriffen nicht alleine. Ähnliche Überlegungen macht sich der Genfer Mailverschlüsselungsdienst Protonmail. Und auch bei Tresorit, einem Anbieter von verschlüsselten Cloud-Speichern aus Niederteufen AR, ist die Skepsis gross: «Jede Ausweitung von Überwachungsgesetzen ist ausgesprochen besorgniserregend», sagt eine Sprecherin. Die Server des Unternehmens stehen im Ausland.

Alarmiert ist auch Jean-Marc Hensch, Geschäftsführer des ICT-Verbands Swico, der Unternehmen mit einem Umsatztotal von 40 Milliarden Franken vertritt. Hensch sieht die neue Verordnung als Gefahr für die Start-up-Community der Schweiz. Selbst Gaming-Apps und andere Anwendungen würden Kommunikationsschnittstellen enthalten, die für alle möglichen Zwecke genutzt werden könnten. «Die Behörden glauben,
dieser Szene Herr werden und jegliche Kommunikation überwachen zu müssen. Das ist Irrsinn. Es gibt keine totale Überwachung, ausser man sperrt alle Menschen in schalldichte Zellen ein.»

Threema lieferte bislang in einem Fall Daten an Behörden

Für Hensch ist es «nur eine Frage der Zeit, bis Unternehmen wie
Threema die Schweiz verlassen, um Behördenzugriffen und der
Vorratsdatenspeicherung zu entgehen». Die Behörden würden derzeit «das Momentum» nach dem gescheiterten Büpf-Referendum und dem Ja zum Nachrichtendienstgesetz nutzen und sich in den entsprechenden Verordnungen «weitreichende Befugnisse zur Überwachung» geben.

Völlig unklar ist, was die staatliche Spitzelei bringt. Laut dem
Transparenzbericht kann Threema nicht einmal die Handynummer oder die Mail der Nutzer angeben, falls diese nicht mit der App verknüpft sind. Bereitstellen kann Threema nur den öffentlichen Nutzerschlüssel und das Datum des letzten Logins. Bislang lieferte Threema erst in einem Fall Daten – an eine ausländische Behörde in einem Rechtshilfeverfahren.

Vermutlich könnte das Unternehmen mit der neuen Verordnung gezwungen werden, mehr Randdaten zu erfassen. Nils Güggi vom Dienst Üpf sagt: «Was das in der Praxis heisst, kann ich nicht beurteilen.» Logisch ist aber, dass Strafverfolgungsbehörden möglichst viele Daten haben wollen.

Entsprechend düster sieht Anwalt Martin Steiger, Sprecher der
Digitalen Gesellschaft Schweiz, die Zukunft: «Ich fürchte, Anbieter
von Verschlüsselungssoftware wie Threema können diesen Kampf nur verlieren.»

+++GRENZWACHTKORPS
Terror: Grenzwache rüstet auf
GEWALT ⋅ Die Schweizer Grenzwächter werden zunehmend mit schweren Waffen angegriffen. Nun kauft der Bund schwere Schutzwesten und Sturmgewehre.
http://www.luzernerzeitung.ch/nachrichten/schweiz/Terror-Grenzwache-ruestet-auf;art9641,933398

+++ANTIFA
Neonazikonzert vom Toggenburg Mitorganisator war ein vorbestrafter Neonazi
Die Staatsanwaltschaft konnte beim Neonazikonzert vom Toggenburg keine strafbare Handlungen erkennen. Das sahen Walliser Richter in einem ähnlichen Fall anders.
http://www.blick.ch/news/schweiz/ostschweiz/neonazikonzert-vom-toggenburg-mitorganisator-war-ein-vorbestrafter-neonazi-id5977134.html

Gut, gibt es Anita Winter! Sie macht Holocaust-Überlebenden das Leben leichter
Vor zwei Jahren gründete Anita Winter (54) die Stiftung Gamaraal,
welche Holocaust-Überlebende in der Schweiz unterstützt – vor allem finanziell Benachteiligte.
http://www.blick.ch/news/schweiz/gut-gibt-es-anita-winter-sie-macht-holocaust-ueberlebenden-das-leben-leichter-id5976040.html

Sonntagszeitung 01.01.2017

Lügen haben lange Beine

Die Wissenschaft sucht nach Antworten auf Fake-News. Unliebsame Erfahrung damit haben vor allem Klimaforscher gemacht

Joachim Laukenmann

«Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Zehnerpotenz mehr Energie als dessen Produktion.» So besagt es das
«Bullshit-Asymmetrie-Gesetz», nach dessen Erfinder, dem italienischen Informatiker Alberto Brandolini, auch «Brandolini-Gesetz» genannt. Kurz: Fake-News sind kaum totzukriegen. Gemäss einer Untersuchung des Medienportals «Buzzfeed» haben Fake-News zu den US-Wahlen sogar die Top-Ten-News der «New York Times», der «Washington Post», der «Huffington Post» und anderen Medien in puncto Reichweite abgehängt. Schon hat die «Washington Post» gewarnt, der nächste Angriff mit postfaktischen Behauptungen gelte dem kommenden Bundestagswahlkampf in Deutschland. Die sozialen Medien bilden offenbar eine ideale Echokammer, um Bullshit unter die Leute zu bringen.

Viele Wissenschaftler haben schon unliebsame Bekanntschaft mit
Brandolinis Gesetz gemacht. Vom längst widerlegten Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus über die Verharmlosung der Gesundheitsgefährdung von Softdrinks bis zu fadenscheinigen Argumenten gegen den vom Mensch gemachten Klimawandel kursieren Irrtümer hartnäckig im Netz. Teils imitieren die Kreateure der Fake-News sogar Fachzeitschriften. «Seit einigen Jahren ist es einfach, sich mit etwas Geld in erst auf den zweiten Blick obskure Zeitschriften einzukaufen und ohne weitere Prüfung dort zu publizieren», sagt Sophie Mützel,
Assistenzprofessorin für Soziologie mit Schwerpunkt Medien und
Netzwerke an der Universität Luzern. «Das ist das wissenschaftliche Äquivalent zu Fake-News-Portalen.»

Auch für den Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist die Verwirrung der Menschen durch Fake-News keine Erfindung der Brexit- und Trump-Wahlkämpfe. «Verzerrung und Verdrehung? Falschinformationen? Verschwörungstheorien? Gehackte Mails? Das alles kennen Klimawissenschaftler seit Jahrzehnten», schreibt er auf seinem Blog Klimalounge (soz.li/2KNf ).

Fake-News können fatale Auswirkungen haben

Ein aktuelles Beispiel liefert der britische Geochemiker Phil
Williamson im Fachmagazin «Nature». Williamson ist ein führender Fachmann beim Thema Ozeanversauerung: Durch die Aufnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre bildet sich im Meerwasser Kohlensäure. Da Säure Kalk auflöst, ist das Gift für kalkhaltige Organismen wie Korallen, Muscheln und Meeresschnecken. Schon Anfang 2016 geriet Williamson in Konflikt mit der rechtskonservativen Meinungs- und
Nachrichtensite «Breitbart News». Dessen ehemaligen Chef Stephen Bannon hat der kommende US-Präsident Donald Trump kürzlich zu seinem Chefstrategen ernannt.

Wenige Wochen nach dem Konflikt veröffentlichte die britische
Zeitschrift «The Spectator» einen Artikel, der gemäss Williamson «die Forschung zur Ozeanversauerung kritisiert und mehrere Ungenauigkeiten enthält, geschrieben von James Delingpole, der auch ‹Breitbart› London herausgibt.» Williamson publizierte in «The Marine Biologist» eine lange Replik, in der er die überwältigenden wissenschaftlichen Belege aufführt, die Delingpoles Thesen widerlegen.

Entsprechende Fake-News verbreitet hierzulande zum Beispiel die SVP (siehe Kasten). Auch SVP-nahe Medien verkünden seit Jahren die Mär vom ausbleibenden Klimawandel oder behaupten, trotz Erwärmung gebe es in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert keinen Trend bei Hitzewellen und Starkregen. Auch das ist eine Fehlinformation: Studien zu Hitzewellen und Starkniederschlägen zeigen sowohl weltweit als auch für die Schweiz einen Trend nach oben, etwa die von Meteo Schweiz gemeinsam mit der ETH Zürich im «Journal of Geophysical Research» publizierte Forschungsarbeit mit dem Titel «Emerging trends in heavy precipitation and hot temperature extremes in Switzerland».

Fake-News könnten fatale Auswirkungen haben, meint Oliver Bendel vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), der sich mit lügenden Chatbots und Social Bots beschäftigt. «Sie können persönliche und unternehmerische Existenzen zerstören und die Demokratie untergraben.»

Die Frage ist: Wie sollen Wissenschaftler auf Fake-News reagieren? Der Klimaforscher Reto Knutti von der ETH Zürich hat schon in langen E-Mail-Gefechten und Artikeln gegen die Produzenten der Fake-News angeschrieben, hält sich aber mehr und mehr zurück. «Ich versuche den Grabenkampf zu vermeiden, man überzeugt die Kritiker nie, und unter Umständen gibt man ihnen nur eine Plattform», sagt Knutti. Er würde durchaus noch in den Medien über die Klimaforschung informieren, aber nur dort, wo eine vernünftige Diskussion möglich sei.

Die Soziologin Mützel würde Meldungen zurückweisen, die ihre eigene Forschung fehlinterpretieren. «Man muss sich allerdings überlegen, mit wem man über welche Themen und Aspekte von Fehlinterpretationen diskutieren möchte. Denn es ist leicht möglich, sich als Wissenschaftlerin den ganzen Tag mit Aufklärung und Korrekturen zu beschäftigen.» Auch könne man sich schnell in hitzige Diskussionen verstricken.

Offensiver tritt Rahmstorf auf. «Man sollte sich nicht aus Angst oder Opportunismus verstecken, wenn die offene Gesellschaft (dazu gehört auch die Wissenschaft) attackiert wird», schreibt er. Für die Leser empfiehlt er: Quellen checken, um kein leichtgläubiges Opfer von Fake-News zu werden. Und Wissenschaftler sollten mit gut belegten Fakten aufklären. «Bei Aussagen zur Wissenschaft sind die ultimativen Belege in der Regel Studien in der begutachteten Fachliteratur.» Allerdings gesteht auch er ein: «Patentrezepte dagegen, dass mächtige Interessengruppen (egal ob fossile Energielobby, Trump, Putin oder wer auch immer) durch gezielte Propaganda die Öffentlichkeit täuschen und für ihre Zwecke einnehmen, gibt es nicht.»

Wissenschaftssites brauchen ein Bewertungssystem

Der ganze Hickhack mit «Breitbart News» und Delingpole hat auch
Williamson Energie gekostet. «Brandolinis Gesetz trifft hier auf jeden Fall zu», schreibt er in «Nature». Doch er denkt, es sei die Mühe wert. Frei nach dem Mark Twain zugeordneten Zitat schreibt er: «Eine Lüge mag zwar um die Erde laufen, bevor die Wahrheit ihre Schuhe anhat. Aber unwidersprochene Lügen enden nie.»

Er schlägt vor, Wissenschaftler sollten nach dem Vorbild von Websites wie Tripadviser (Erfahrungsberichte zu Unterkünften und Reisen) oder Rotten Tomatoes (Filmund Theaterkritiken) ein Ratingsystem einrichten, und zwar für Websites, die behaupten, über Wissenschaft zu berichten. In diese Richtung geht zum Beispiel das Projekt Climate Feedback, in dem Fachleute Medienartikel kritisch kommentieren. Nur: Wie sollen Nutzer von Facebook oder Twitter auf solche Seiten gelangen?

Für Bendel von der FHNW schützt letzten Endes nur Bildung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse. «Wer damit ausgerüstet ist, wird die meisten Fake-News schon von weitem riechen.»

Politische Fake-News

Auf der Website der SVP findet sich ein Positionspapier aus dem Jahr 2009. Darin heisst es: «Seit dem Jahr 1998 hat es weltweit keine Erwärmung mehr gegeben, seit 2005 kühlte es gar ab.» Das ist Unsinn, der insbesondere durch die Messdaten der letzten Jahre widerlegt wird: Erst 2014, dann 2015 und jetzt 2016 waren global gesehen die wärmsten Jahre seit Messbeginn. Drei Wärmerekorde in aufeinanderfolgenden Jahren – so etwas hat es seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1880 noch nie gegeben. Zwar sorgen natürliche Klimaschwankungen für ein ständiges Auf und Ab der mittleren Erdtemperatur. Doch über mehrere Jahrzehnte betrachtet, zeigt die Temperaturkurve der Erde eindeutig
nach oben. Das fehlerhafte Positionspapier der SVP ist trotz alledem noch online.

Schweiz am Sonntag 01.01.2017

Wie falsche Nachrichten die Welt veränderten

Zu Weihnachten hätten Fake News fast einen Atomkrieg provoziert. Wie leicht Falschmeldungen aus dem Ruder laufen können, zeigen zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Geschichte.

Von Sven Felix Kellerhoff

Über die Weihnachtstage stand die Welt am Rand eines Atomkriegs. Den drohte Pakistans Verteidigungsminister Khawaja Asif voller Wut dem Staat Israel an, nachdem er im Internet die Aussage seines früheren israelischen Amtskollegen Mosche Jaalon gelesen hatte: Israel werde Pakistan «nuklear zerstören», sollte das Land «unter dem Vorwand, den IS zu bekämpfen», Truppen nach Syrien schicken. Israel vergesse, «dass Pakistan auch eine Nuklearmacht ist», drohte Asif. Allerdings hatte er auch vergessen, den Medienbeitrag auf seine Richtigkeit zu prüfen. Erst zwei Tweets des israelischen Verteidigungsministeriums stellten klar, dass die Vorlage «komplett falsch» sei. Asif war «Fake News»
aufgesessen.

Der Pakistani ist beileibe nicht der einzige Politiker, dem das in der
jüngeren Vergangenheit passiert ist. Fake News, Falschmeldungen, oft über soziale Netzwerke verbreitet, spielen eine immer wichtigere Rolle im politischen Schlagabtausch. Ohne Fake News würde womöglich Hillary Clinton demnächst ins Weisse Haus einziehen und nicht Donald Trump. Vor allem Populisten nutzen das Internet, um mit Falschmeldungen Stimmungen zu erzeugen und in ihrem Sinn zu beeinflussen.

Von der Bastille bis Irak

Die Bundesregierung in Berlin will jetzt gegen dieses Problem
vorgehen. Beim Bundespresseamt soll ein «Abwehrzentrum gegen
Desinformation» eingerichtet werden, das im Bundestagswahlkampf 2017 Fake News enttarnt. Man darf allerdings bezweifeln, ob das Vorhaben Aussicht auf Erfolg hat – nicht nur, weil die Behörde an der Berliner Spree eine ziemlich dröge Bürokratie ist. Vor allem zeigt schon ein kurzer Blick in die Geschichte, dass mit Gegenaufklärung Falschnachrichten und Gerüchte noch nie wirksam zu bändigen waren.

Falschnachrichten hatten und haben immer dann Erfolg, werden also massenhaft geglaubt, wenn sie auf entsprechende Hoffnungen, Vorurteile oder – besonders oft – Ängste des Publikums treffen. Wie dieses massenpsychologische Phänomen entsteht, zeigt ein berühmtes Beispiel aus der Französischen Revolution, die Grand Peur (Grosse Furcht). Nach dem Sturm auf die Bastille 1789 machte in Frankreich die Nachricht die Runde, der Adel rücke mithilfe ausländischer Heere gegen die Revolution vor. Es kam zu Volksaufständen und Massakern an vermeintlichen Feinden der Nation. Allerdings konnten Historiker nachweisen, dass sich zu jener Zeit keine einzige Armee des Ancien Régime auf dem Boden Frankreichs befand und sein entmachteter Adel in Apathie dahindämmerte.

Die vermutlich folgenreichste Falschmeldung des 20. Jahrhunderts kam 1903 in Umlauf. Unbekannte brachten die Behauptung unter die Leute, es gebe eine «jüdische Weltverschwörung», und verbreiteten einen frei erfundenen Text, der den Titel «Protokolle der Weisen von Zion» trug. Obwohl schon inhaltlich unsinnig und nachweislich aus kruden Publikationen zusammengeschrieben, verbreitete sich diese Falschmeldung rasch um die ganze Welt. Der Holocaust mit sechs Millionen Opfern unter Europas Juden ist ohne die «Protokolle» kaum vorstellbar. Noch heute zählen in arabischen Ländern übersetzte Varianten zu den Bestsellern. Und selbst in Deutschland glaubt mancher Rechtsextremist an die «Weltverschwörung», zuletzt der AfD-Politiker Wolfgang Gedeon.

Zufällig genau hundert Jahre nach den «Protokollen» trat eine andere Falschnachricht ihren Weg um die Welt an. Am 5. Februar 2003 präsentierte der damalige amerikanische Aussenminister Colin Powell im UN-Hauptquartier in New York angebliche Beweise, dass der irakische Diktator Saddam Hussein Bio- und Chemiewaffen in mobilen Labors herstellen lasse. Diese Angst führte wesentlich dazu, dass die USA im Irak einmarschierten – was die Konfrontation zwischen islamistischem Terrorismus und der westlichen Welt massiv beförderte.

Acht Jahre später enthüllte die «Welt am Sonntag», wie der Iraker
Rafed Aljanabi alias Quelle «Curveball» die angeblichen
Containerfabriken für Massenvernichtungswaffen erfand und über den BND und die CIA in Umlauf brachte. «Glauben Sie mir, einen Krieg wollte ich nicht», sagte er. Instrumentalisierte der damalige US-Präsident George W. Bush diese unbestätigten Informationen, um einen Kriegsgrund zu haben? Oder bestätigten «Curveballs» Behauptungen lediglich sein Vorurteil, weil er Saddam aus guten Gründen jede, aber auch wirklich jede Schandtat zutraute? Was immer Bush dazu sagt: Seine Gegner glauben ihm nicht.

Eine ähnliche Konstellation aus Vorurteilen, Angst und ungesicherten Informationen führte die Bundesrepublik 1999 in ihren ersten Krieg. Die rot-grüne Bundesregierung, seit wenigen Monaten im Amt, glaubte Berichten, dass Serben einen planmässigen Genozid an Albanern im Kosovo vorbereiteten. Der entsprechende Plan hiesse «Potkova» («Hufeisen»), wegen der Form, in der serbische Truppen in die abtrünnige Provinz einmarschieren wollten. Die grösste humanitäre Katastrophe in Europa seit Auschwitz stehe bevor.

Ausgerechnet der grüne Aussenminister Joschka Fischer, wenngleich selbst gewiss kein Pazifist, stellte in dieser Situation die
antimilitärischen Überzeugungen seiner Partei hinten an. Bundeskanzler Gerhard Schröder, ebenfalls ein ehemaliger Linker, befahl den Einsatz deutscher Tornado-Jagdbomber.

Bald freilich kam heraus: Den «Hufeisen-Plan» hatte es nie gegeben. Zugrunde lag ihm eine Visualisierung, die irgendwo an der Schnittstelle zwischen europäischer Diplomatie, internationalen Geheimdiensten und deutscher Politik entstanden war. Aber die darin gebündelte Vorstellung entsprach dem, was man seit dem Massaker von Srebrenica 1995 serbischen Truppen und dem Belgrader Präsidenten Slobodan Milosevic mit gutem Grund zutraute.

Schilly: «Saubere Folter»

Im Gegensatz zum «Hufeisen-Plan» beruhte eine weitere einflussreiche Falschmeldung der neueren deutschen Geschichte auf bewusst lancierter Desinformation. Nachdem die Gründer der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion 1972 festgenommen waren, schien es eine Zeit lang, als wäre der linksextreme Amoklauf beendet.

Doch dann verbreiteten mehrere Anwälte die Behauptung, die
inhaftierten Gewalttäter Andreas Baader, Ulrike Meinhof und andere würden in menschenrechtswidriger Art in «Isolationshaft» gehalten. Otto Schily, später ein Law-and-Order-Bundesinnenminister, sprach allen Ernstes von «sauberer Folter» gegen die Terroristen.

Dabei wussten alle Verteidiger, dass sie Unsinn verbreiteten: Die
RAF-Gefangenen sassen nicht nur nicht unter schlechten, sondern im Gegenteil unter aussergewöhnlich grosszügigen Bedingungen ein: Sie empfingen zeitweise fast täglich Besuch, durften sich Lebensmittel in die Zellen kommen lassen und genossen auch sonst Privilegien, von denen normale Strafgefangene nur träumen können.

Doch weil sich der Staat hilflos gegen die Falschmeldungen zeigte,
nutzten die Terroristen und ihre Helfershelfer in Roben und
Sympathisanten der linksextremen Szene diese Schwäche nach Kräften. Ohne die Lüge von der angeblichen Isolationsfolter hätte es wohl weder weitere «Generationen» der Terrorgruppe gegeben noch das Terrorjahr 1977, das die Bundesrepublik auf die Probe stellte.

Gelegentlich können Falschmeldungen aber auch positive Wirkungen haben. Das sind sicher Ausnahmen, aber es gibt sie. So beruhte der Medienhype um das angebliche Waldsterben in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren auf falschen Gutachten – er hatte aber die positive Wirkung gesteigerten Umweltbewusstseins und der Einführung von Katalysatoren für Autos, Kraftwerke und andere Luftverschmutzer.

Falschmeldung Mauerfall

Manchmal löst eine unzutreffende Information auch eine Dynamik aus, die letztlich dazu führt, dass die Falschmeldung schliesslich doch wahr wird. Das wichtigste Beispiel dafür ist der Fall der Berliner Mauer. Als die hochseriöse Nachrichtenagentur Associated Press am 9. November 1989 um 19.05 Uhr meldete: «DDR öffnet Grenzen», war das eindeutig eine Falschinformation.

So fiel die Mauer vor 25 Jahren. Sie beruhte auf einer von
Politbüromitglied Günter Schabowski missverständlich formulierten Mitteilung über neue Regelungen für ausreisewillige DDR-Bürger. Von einem Fall der innerdeutschen Grenze war nie die Rede gewesen, und sie war von der SED auch nicht beabsichtigt.

Doch westdeutsche Nachrichtensendungen griffen die Falschmeldung auf, etwa Hanns Joachim Friedrichs um 22.42 Uhr in den «Tagesthemen». Das brachte Zehntausende DDR-Bürger dazu, zu den Grenzübergangsstellen zu strömen. Bald sahen die Stasi-Leute der Kontrolleinheiten keine andere Chance mehr, als zuerst dosiert, bald nach 23 Uhr allgemein die Sperranlagen zu öffnen.

Schon in den ersten Stunden des 10. Novembers 1989 war die Todesgrenze quer durch Berlin und Deutschland Vergangenheit. Ein spontanes Volksfest war die Folge. Die Falschmeldung über die Grenzöffnung bahnte so direkt den Weg zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten elf Monate später.

Das Problem ist allerdings: Rückblickend können Historiker
Falschmeldungen einigermassen von zutreffenden Informationen
unterscheiden. In der Gegenwart fällt das viel schwerer. Zwar kann man ein falsches angebliches Zitat dementieren – doch geglaubt wird trotzdem, was vorstellbar erscheint und die eigenen Vorurteile
bestätigt. Dagegen sind seriöse Medien genauso hilflos wie ein
künftiges «Zentrum gegen Desinformation».