Medienspiegel: 25. Dezember 2016

+++BERN
Zweitgrösstes bernisches Zentrum: Ab 2019 bietet Kappelen in einem Bundesasylzentrum 270 Plätze für Flüchtlinge aus aller Welt
http://www.telebielingue.ch/de/info-vom-23-dezember-2016-0#chapter-0b4ee3aa-ee37-4e73-9000-e9d93e1d628e

+++BASEL
Die etwas andere Weihnachtsgeschichte
Oder wie eine Flucht aus Afghanistan im Herzen des Bachlettenquartiers endet.
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/basel/die_etwas_andere_weihnachtsgeschichte/

+++THURGAU
Ostschweiz am Sonntag 25.12.2016

«Kannst du überhaupt melken?»

Integration – Ein junger Eritreer hat über ein
Arbeitsintegrationsprojekt den Weg in die Landwirtschaft gefunden. Der Flüchtling arbeitet lieber elf Stunden am Tag, als sein Geld von der Sozialhilfe zu beziehen. Nun wird er für seinen Einsatz belohnt.

Von Silvan Meile

Tesfu Adanom hat seinen Platz am Stubentisch von Biobauer Markus Ramser. Der Flüchtling aus Eritrea lebt und arbeitet auf dem Hof im thurgauischen Illhart. «Er sieht die Arbeit», lobt ihn Ramser bei einer Tasse Kaffee. Und er beobachte gut, lerne schnell. Wie beim Pflügen letzthin. Statt über den grobscholligen Boden zu brettern, habe Tesfu auf dem schwierigen Terrain gekonnt das Tempo gedrosselt und so eine saubere Arbeit abgeliefert. Der Eritreer lehnt sich auf dem Stuhl kurz zurück – als müsse er Luft holen – bevor er das Lob an seinen väterlichen Chef zurückgibt: «Markus erklärt mir alles sehr geduldig.» Die beiden sind ein Team – ein spezielles. Der Biobauer zeigt in den letzten Jahren vor seiner Pension noch einem Flüchtling, wie der Karren in der Schweizer Landwirtschaft läuft. Der Afrikaner saugt das Wissen in seiner ruhigen und überlegten Art auf. Adanom entscheidet sich für den unbequemen Weg

Tesfu Adanom ist ein Vorzeigeflüchtling. Vor vier Jahren kam er in die Schweiz. Er wollte arbeiten, bekam eine Chance – und packte diese. Ein Pilotprojekt des Schweizer Bauernverbands und des Staatssekretariats für Migration (SEM) zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen in der Landwirtschaft führte den Eritreer im Mai 2015 zu Ramser auf den Seerücken, mit wunderbarer Aussicht vom Säntis über die Churfirsten bis zu den Glarner Alpen.

Für die meisten der 13 Flüchtlinge, die schweizweit am damaligen
Pilotprojekt teilnahmen, war der mit monatlich 3200 Franken bezahlte Job auf dem Bauernhof zu streng, der Arbeitstag zu lang. Statt elf Stunden pro Tag im Stall und auf dem Feld zu schuften, können sie auch Sozialhilfe beziehen, kritisiert Ramser die Fehlanreize für Flüchtlinge. Doch sein Schützling wählte nicht den bequemen Weg.

Deutsch mit dem Computer, Hausaufgaben mit dem Chef

Adanom durfte auch nach dem Pilotprojekt im beschaulichen Illhart bleiben, arbeitete weiter elf Stunden am Tag. Und er hat seine nächste Chance gepackt. Der bald 30jährige Eritreer hängt eine zweijährige Lehre als Landwirtschaftstechniker an seinen Projekteinsatz Arbeitsintegration bei Biobauer Ramser an. Einen Tag pro Woche besucht er die Berufsschule auf dem Arenenberg. Damit der Flüchtling auch auf dem Hof seine Deutschkenntnisse weiter verbessern kann, hat sein Patron einen Computer mit Lernprogramm besorgt. Selbst bei den Hausaufgaben hilft der Chef mit. Für diesen zusätzlichen Aufwand ist der Biobauer gern bereit. Es halte ihn selber jung und sei eine gewollte Herausforderung. Seit 1983 bilde er auf seinem Hof Lehrlinge aus. «Ich bringe auch Tesfu durch die Lehre.»

Auch beim Lohn geizt Ramser nicht. Statt das Salär seines Schützlings auf einen regulären Lehrlingslohn zu kürzen, erhöhte er die Entschädigung seit dem Pilotprojekt auf 3500 Franken, obwohl vom SEM keine Gelder mehr fliessen. Während des Pilotprojekts zur Arbeitsintegration wurden die Landwirte mit 200 Franken pro Monat unterstützt. Zusätzliche 200 Franken erhielten jene, die den Flüchtling auf dem Hof beherbergten.

Dumme Sprüche in der Beiz

Ganz ohne Misstöne geht es aber auch in Illhart nicht. «Kannst du
überhaupt melken?», wurde der Eritreer am Stammtisch schon gefragt, als er sich zum Feierabend mit Markus Ramser in eine Beiz setzte. Dann stellt sich sein Chef schützend vor ihn. Es gebe aber auch Leute, die sähen, wie fleissig der Flüchtling auf dem Hof anpacke, sagt Ramser.

Für seinen Einsatz wird Tesfu Adanom nun zusätzlich belohnt. Weil er seinen Lebensunterhalt selber bestreitet, sind die Hürden für einen Familiennachzug kleiner geworden – und dank der Unterstützung seines Chefs beim Gang auf die Ämter sogar überwindbar. Adanom lächelt. Schon bald könnte seine Frau aus ihrem Zufluchtsort in Äthiopien zu ihm nach Illhart kommen. Das Paar darf dann eine eigene Wohnung auf dem Hof beziehen.

+++DEUTSCHLAND
Jetzt sind sie weg
Informationslücke -Viele Helfer haben sich mit Geflüchteten
angefreundet. Nach der Abschiebung bricht der Kontakt oft ab. Zurück bleiben Sorgen
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/jetzt-sind-sie-weg

Flüchtlinge aus Nordafrika: Niemand will sie haben
Seit den Übergriffen in Köln sind Abschiebungen nach Nordafrika ein Lieblingsthema von Politikern. Der Fall Amri entfacht die Debatte neu.
http://taz.de/Fluechtlinge-aus-Nordafrika/!5366130/

Zahl der Anträge steigt: Immer mehr Türken suchen Asyl in Deutschland
Die Zahl türkischer Asylanträge in Deutschland steigt weiter an: Von Januar bis November seien mehr als 5000 Anträge eingegangen, teilte die Bundesregierung mit. Einen expliziten Zusammenhang zum Putschversuch wollte sie aber nicht herstellen.
http://www.tagesschau.de/inland/tuerkei-asyl-101.html
->
https://www.heise.de/tp/features/In-Deutschlands-Moscheen-wird-fuer-Erdogan-spioniert-3580954.html
-> http://taz.de/Repression-in-der-Tuerkei/!5369715/
->
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1036487.immer-mehr-kurden-aus-der-tuerkei-suchen-asyl-in-deutschland.html

+++BULGARIEN
NZZ am Sonntag 25.12.2016

Traurig ist das Zigeunerleben

Trotz Milliardenhilfe verschlechtert sich die Lage der Roma stetig.
Warum scheitert die Integration einer der ältesten Minderheiten
Europas immer wieder? Suche nach einer Antwort in Bulgarien.

Von Katharina Bracher

Als Atanas Dimitrow vor 32 Jahren im Süden Bulgariens geboren wurde, war die Welt noch in Ordnung, einigermassen jedenfalls. Schon damals lebten Roma am Rande der Gesellschaft, wohnten in den ihnen zugewiesenen Vierteln, heirateten ihresgleichen, brachten ihre Kinder in den für Zigeuner reservierten Abteilungen der Spitäler zur Welt. Und trotzdem war ihr Leben gut – so weit, wie in einem realsozialistischen Staat mit Planwirtschaft ein gutes Leben eben möglich war. Das Bildungsniveau der Roma war ähnlich hoch wie jenes der Bulgaren. Sie beherrschten die Landessprache. Ihre Eltern hatten Arbeit in den Textilfabriken und schickten ihre Kinder zur Schule.

Doch dann kam die Wende in den frühen 1990er Jahren. Seither geht es bergab. Und zwar nicht nur in Bulgarien, sondern in ganz Osteuropa: Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 80 Prozent, die Kindersterblichkeit ist in die Höhe geschnellt, das Alter von Erstgebärenden liegt zwischen 15 und 18 Jahren. Wenn in einer Roma-Familie heute noch jemand die Landessprache spricht, sind es die Grosseltern. Die anderen sind bei Behördengängen oder im Austausch mit Einheimischen auf Übersetzung angewiesen.

Jahrzehnt der Roma

Der Abstand der Roma zur Mehrheitsbevölkerung Osteuropas vergrössert sich kontinuierlich. Daran haben die Milliarden von Hilfsgeldern, die seit den 1990er Jahren zum Zweck der Integration vom Westen fliessen, nichts geändert. Zu diesen zählten auch die Milliarde der Schweiz an die neuen EU-Mitgliedstaaten und die zahllosen bilateralen Hilfsprogramme anderer Staaten. Sämtliche den Menschenrechten verpflichteten Organisationen Europas, ob staatlich oder nichtstaatlich, haben sich irgendwann für die Integration dieser letzten Minderheit Europas eingesetzt oder tun es noch heute. Im Jahr 2005 hatte die Europäische Union das «Jahrzehnt der Roma-Integration» ausgerufen, um die prekäre Lage der Volksgruppe in den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten zu verbessern. Letztes Jahr ist das Programm ausgelaufen. Die Bilanz ist – von einigen Erfolgen auf
lokaler Ebene abgesehen – niederschmetternd. Anzeichen dafür, dass sich etwas an der schlechten Entwicklung ändern wird, sind keine in Sicht.

«Falsch», widerspricht Dimitrow. Er selbst, seine eigene Person, sei
ja wohl Anzeichen genug. Über einen Teller mit öligen Würstchen und Fladenbrot gebeugt, sitzt er in einer Imbissbude am Rande seiner Heimatstadt Sliwen. Gleich um die Ecke befindet sich der Eingang zum Roma-Ghetto Nadhezda, dem Dimitrow vor Jahren entronnen ist. Heute wohnt er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter ganz in der Nähe.
Er ist 32 Jahre alt, ein attraktiver Mann mit dunklen Augen. Neben
seinen Muttersprachen Romani und Bulgarisch beherrscht er fliessend ein abstraktes Englisch, das man in der Bürokratie internationaler Organisationen spricht.

Dimitrow ist eigentlich Mikrobiologe mit einigen Jahren
Arbeitserfahrung und besten Beziehungen in die internationale
Pharmabranche. In Westeuropa würde ihn kaum einer als Zigeuner
erkennen. In der Schweiz ginge er diskussionslos als Sohn eines
italienischen Gastarbeiters oder als Tessiner durch. Dass er fast
überall auf der Welt bessere Chancen hätte als in Bulgarien, weiss
Dimitrow. Und trotzdem ist er zurückgekehrt.

«Ich bin ziemlich glücklich hier», sagt er. Warum sagt er «ziemlich»?
Dimitrow antwortet nicht. Etwas vor dem Fenster hat seine
Aufmerksamkeit erregt. Draussen eine Szenerie nostalgisch und wie eingefroren. Sie strahlt diese leise Ost-Melancholie aus, auf die
Magazinfotografen so stehen. Ein Gespann mit einem ausgezehrten Gaul schleppt sich am Skelett eines Fabrikgebäudes aus kommunistischen Zeiten vorbei. Ein bärtiger Mann in schäbiger Kleidung treibt das Tier unablässig an. Der aufgewirbelte Staub lässt das frühwinterliche Licht wie durch Milchglas leuchten.

Auf dem Wagen führt der Mann aufgetürmte Abfälle mit, die er zur
Recyclingstelle fährt und gegen ein paar Rappen pro Ladung eintauscht.
«Der gehört zum Mittelstand», sagt Dimitrow ohne jeden Sarkasmus. Im Winter hielten sich die ärmeren Einwohner des Ghettos über Wasser, indem sie täglich zentnerweise Walnüsse für bulgarische Produzenten schälen. Im Sommer hofften sie auf Arbeit auf einer der Gemüseplantagen in der Region. «Wieder andere reisen in Gruppen nach Mitteleuropa, um Arbeit zu finden», sagt Dimitrow. In der Regel bedeute dies, dass sie sich Arbeit als Taglöhner suchten, oft schwarz angestellt als Handlanger oder Gehilfen arbeiteten. Die ärmsten der Armen schliesslich verlassen Nadhezda nie. Es sei denn, sie können sich kriminellen Organisationen anschliessen, die mit Prostitution und
Bettelei im Ausland ein Auskommen bieten. Organisatoren sind praktisch ausschliesslich Männer aus der Gemeinschaft, die gegen Geld Reise und Unterkunft anbieten, die Arbeit im Ausland überwachen und den Zahltag einziehen. Die meisten der «Angestellten» haben sich schon vor der Reise bei den Organisatoren verschuldet. Diese Organisatoren, die ihre
Rolle freilich als Reiseleiter und nicht als Ausbeuter definieren,
bilden die Grundlage für die Statistiken über Menschenhandel der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) – das heisst, falls sie überhaupt erwischt werden. «Menschenhändler gehören ebenfalls zum Mittelstand», erklärt Dimitrow. Ihre Häuser gehören zu den grösseren, ansehnlicheren Nadhezdas. Sie stehen oft monatelang leer.

Auch im Winter barfuss

Die Bewohner bereisen die wohlhabenderen Länder Europas, in die sie dank Bulgariens EU-Mitgliedschaft visumfrei einreisen können. Darunter auch die Schweiz. Einige dieser Roma verdienen zusätzlich einen Batzen, indem sie den ärmeren Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zu überrissenen Zinsen Geld leihen. Denn welche bulgarische Bank würde  schon einem Zigeuner Geld leihen? Dimitrow tupft sich den Mund mit der Serviette ab, nimmt eine Zigarette hervor und klopft den Filter auf den Tisch. Er will uns seine Wirkungsstätte zeigen.

Nadhezda bedeutet auf Deutsch «Hoffnung». Es ist einer der letzten Orte Europas, wo Kinder im Winter barfuss über sumpfige Strassen gehen. Hier teilen sich zehnköpfige Familien einen fensterlosen Raum. Die Heizung qualmt, fliessendes Wasser gibt es bloss vor der Tür. Erkrankt einer in dieser Enge an einer Grippe, stecken sich alle anderen an. Nirgendwo sonst in Europa sterben Kleinkinder häufiger an banalen Infekten.

Dimitrow geht rauchend voran, er trägt eine blaue Outdoor-Jacke mit dem runden Abzeichen seines Arbeitgebers, einer weissen Taube mit Ölzweig. Eine rotznäsige Kinderschar umringt die Besucher, streckt klebrige Hände zum Gruss aus. Ihre Gesichter, ihre Kleider starren vor Dreck. Die wenigsten tragen Schuhe. Einige haben die Haare hennarot gefärbt – was den kleinen Wesen etwas Rebellisches und Stolzes verleiht. Sie kennen Dimitrow gut, alle wollen ihn zum Gruss abklatschen. Der steckt seine Zigarette in den Mundwinkel und schreitet durch die Kindermenge, die Handflächen über die Köpfe gestreckt, gerade so, als wollte er sie segnen.

Dimitrow ist Programmleiter der Organisation Médecins du Monde. Bei den Frauen im Ghetto macht er Werbung für die Verhütung mit der Spirale und versucht junge Männer von Kondomen zu überzeugen. Sein vom Arbeitgeber gestecktes Ziel: die Reduktion der Geburtenrate. Denn die ist in Nadhezda fast doppelt so hoch wie im Rest Bulgariens. Aus einer durchschnittlichen Ehe gehen mindestens vier Kinder hervor. Häufiger sind es aber mehr, manchmal gar zehn oder zwölf. Oft sind es ungewollte Schwangerschaften, da sich die Familien die Kinderschar kaum leisten können. Nicht jedes Neugeborene überlebt.

Die Kindersterblichkeit in Nadhezda ist die höchste in ganz Europa.
Überleben die Mädchen, so werden sie ab Geschlechtsreife aus der
Schule genommen und verheiratet. Das heisst, falls die Eltern sie
jemals zur Schule geschickt haben. Viele Roma behalten die Kinder zu Hause. Kinderehen sind häufig. Entsprechend jung sind die Mütter bei Geburt ihres ersten Kindes. Im letzten Jahr sind im Spital von Sliwen 185 Babys auf die Welt gekommen, deren Mütter selbst noch Kinder sind. Die jüngste Mutter kam vor drei Jahren in die Frauenklinik. Sie war elfjährig und wusste nicht, dass eine Schwangerschaft gleichzeitig bedeutet, ein Kind zu bekommen.

Dimitrow geht an der Moschee vorbei, es ist das einzige schneeweisse Gebäude der Gegend. Unter dem Minarett ducken sich die ersten Häuser des türkischen Viertels, das von allen das wohlhabendste ist. Viele Roma beanspruchen für sich türkische Wurzeln und sind leidenschaftliche Nationalisten. Allerdings sprechen die wenigsten Türkisch, sondern Romani, eine Sprache, die dem Hindi Nordindiens ähnlich ist. Auch wenn einige von ihnen muslimischer Konfession sind, äusserlich trennt sie nichts von jenen Roma, die christlich-evangelischen Kirchen angehören.

Zerlumpter Heiligenschein

Nadhezda ist eine Ansammlung windschiefer Hütten und
einsturzgefährdeter Backsteinbauten. Um die 20 000 Roma leben hier. Die Bulgaren haben vor zwanzig Jahren eine Mauer um den grösstenteils illegal errichteten Stadtteil errichtet – angeblich, um die Anwohner vor dem Lärm des Bahnverkehrs zu schützen. Das umfriedete Viertel ist nicht die einzige Roma-Enklave in der Gegend. Weitere Ableger umrunden die südbulgarische Kleinstadt Sliwen in der Form eines zerlumpten Heiligenscheins.

In einem dieser Ableger ist Atanas Dimitrow vor über drei Jahrzehnten geboren. Er wuchs in einer Welt auf, in der die bulgarische Mehrheit bestimmt, ob sie ihn, den Zigeuner, überhaupt in die Gesellschaft aufnehmen will. Hier hat ihm sein Vater, ein Colonel der bulgarischen Armee, eingeimpft, dass er sich den Respekt der weissen Mehrheit mit viel Fleiss erarbeiten muss und dass die Schuhbändel in die Schuhe gehören, wenn man sie vor die Haustüre stellt.

Dimitrow wurde früh klar, dass er mit schwarzen Haaren und dunklem Teint niemals in der Masse der bulgarischen Bevölkerung verschwinden können wird. Dass er die besseren Schulnoten erreichen und freiwillige Extralektionen besuchen muss, um weiterzukommen. Dass er sich nicht frustrieren lassen darf, wenn der Lehrer trotz exzellenten Leistungen findet: Das Gymnasium ist zu schwierig für dich, du brauchst ein Extrajahr. Und so hat er sich später nicht darüber gewundert, der einzige Rom an der Fakultät seiner Universität zu sein. Er hat nicht resigniert, als er, Mikrobiologe mit Bestnoten, während Jahren auf seine Stellenbewerbungen keine Antwort oder eine unbegründete Absagen  erhielt.

Dimitrow blieb ruhig, als seine Frau im Wochenbett räumlich separiert wurde von den bulgarischen Müttern, weil diese Angst haben, sich bei der unreinlichen Romni anzustecken. Und Dimitrow hat stoisch ertragen, als ihn die neue Schule seiner Tochter wissen liess: Sorry, wir können keine Roma-Kinder aufnehmen, die Eltern schicken ihre Kinder sonst nicht mehr in unsere Schule.

Nicht nur Dimitrows Lebenslauf, auch die Ortschaft Nadhezda steht exemplarisch für den Umgang der westlichen Gesellschaft mit
Minderheiten. Im Falle der Roma treffen drei Faktoren zusammen, deren Mischung einen Wandel zum Besseren verunmöglicht. Erstens: der Unwillen der Heimatstaaten, Diskriminierung und Segregation der Roma in ihrer Gesellschaft wirklich anzugehen. Zweitens: der fehlende Mut Westeuropas, Hilfsgelder als Hebel zu nutzen, damit die Ostländer die Roma endlich als gleichwertige Bürger anerkennen. Was aber keineswegs nur heisst, dass die Herkunftsländer die Diskriminierung der Roma bekämpfen müssen. Es bedeutet vor allem, dass sie für die Durchsetzung
von Regeln und Gesetzen – etwa der Schulpflicht und des Verbots von Kinderehen – in der Roma-Gemeinschaft sorgen müssen.

Der dritte Faktor wird für gewöhnlich vernachlässigt in der Debatte, meistens aus falsch verstandener politischer Korrektheit. Nadhezda mag auf westliche Besucher wie ein anarchistischer Slum wirken, doch der Eindruck täuscht. Das Ghetto hat eine starre, von reaktionären Männern geprägte Struktur, die jede Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft verhindert. Diese Patriarchen verweigern ihren Kindern die Bildung, weil sie der Meinung sind, von den Bulgaren ohnehin um gute Bildung und wirtschaftliche Teilhabe betrogen zu werden. Sie verunmöglichen Fortschritt, indem sie ihre Töchter mit 14 Jahren verheiraten, beim
Geschlechtsverkehr auf Kondome verzichten und ihre Frauen damit Dutzende von Kindern gebären lassen, die sich die Familie nicht leisten kann.

Wer es aus diesem patriarchalen Gefüge nach draussen schafft, kommt nie mehr zurück. «Zurück bleiben die Käuflichen, Manipulierbaren», sagt Christo Kjutschukow. Der Professor für Psycholinguistik ist ein muslimischer Rom. Er ist auf einem Acker in Zentralbulgarien geboren worden. Wann genau, weiss er nicht. Seinen Vornamen haben ihm die Eltern gegeben, damit er unter christlich-orthodoxen Bulgaren nicht noch mehr auffällt, als er es als Zigeuner ohnehin tut. Kjutschukow will nie mehr nach Bulgarien zurück, er wohnt in Deutschland, wo er
unbehelligt leben und arbeiten könne. Hier ist er nicht der Zigeuner, hier ist er ein respektierter Akademiker. Derweil wird die Situation seines Volkes in Osteuropa schlimmer und schlimmer. Der Rassismus gegen die Zigeuner in Osteuropa habe in einem erschreckenden Mass zugenommen, sagt er.

Schwarze Kassen

Zur Entwicklungshilfe für die Roma-Gemeinschaft in seinem Land hat Kjutschukow eine pointierte Einstellung: «Aussetzen», empfiehlt er. Solange die EU nicht dazu imstande sei, die Umsetzung der Roma-Integration zu überwachen und den bulgarischen Behörden auf die Finger zu klopfen, ändere sich für die Roma rein gar nichts. «Ein riesiger Teil der Mittel aus der EU ist in schwarzen Kassen des bulgarischen Staates verschwunden», sagt Kjutschukow. Er stützt sich dabei auf einen Bericht der EU-Kommission, der eigentlich nie direkte Folgen für Bulgarien hatte.

Die Macho-Community, wie auch Kjutschukow sie nennt, lebt derweil als käufliche Masse. «Die bulgarischen Politiker erinnern sich bloss an die Roma, wenn Wahlen sind. Dann gehen sie in die Ghettos und kaufen Stimmen.» Auch die Roma in Nadhezda lassen sich kaufen. Zuletzt von Jordan Letschkow, dem ehemaligen Fussballspieler beim Hamburger HSV, der 2003 Bürgermeister von Sliwen wurde. Dass er Stimmen kaufte, war nicht Gegenstand seiner späteren Verurteilung, sondern eher der Umstand, dass er das aus der Korruption beiseitegeschaffte Geld mit den falschen Leuten teilte.

Dimitrow beendet seinen Rundgang an der Fussgängerunterführung. Hier taucht der Weg unter den Bahngeleisen ab und hoch in die Welt der Bulgaren, die in der schmucken Kleinstadt leben. «Früher hatte es kein Licht in der Unterführung», erinnert sich Dimitrow. Als Kind habe er
sich gefürchtet, man habe kaum den Boden unter seinen Füssen sehen können. Und trotzdem habe man da hindurchgehen müssen, wollte man etwas anderes als das Ghetto sehen.

Ghetto bleibt Ghetto

Warum leben die Roma fast ausschliesslich in Ghettos? In Rumänien wurde die Volksgruppe bis Anfang des 19. Jahrhunderts versklavt und lebte auf dem Land ihrer Besitzer. In der kommunistischen Ära zwang man die Roma dazu, sesshaft zu werden in eigens für sie eingerichteten Vierteln. Heute haben die Roma in ihren Herkunftsländern prinzipiell Niederlassungsfreiheit. Warum einmal errichtete Ghettos bestehen bleiben, darüber hat der Wirtschaftswissenschafter Thomas Schelling in den 1970ern geforscht. Er wies nach, dass für die Trennung von Schwarz und Weiss in den USA nicht zwingend Rassismus verantwortlich ist. Laut Schelling reicht schon der Wunsch der Menschen aus, nicht in einer Nachbarschaft zu wohnen, die zu stark von der eigenen ethnischen oder ökonomischen Zugehörigkeit abweicht, um in ein Ghetto zu ziehen und dort zu bleiben. (cz)

+++GRIECHENLAND
Vom Flüchtlingshelfer zum Flüchtling – die Geschichte des 25-jährigen Housam
Housam war freiwilliger Flüchtlingshelfer in Damaskus und Beirut –  jetzt ist er selbst Flüchtling und sitzt in Griechenland fest.
http://ze.tt/vom-fluechtlingshelfer-zum-fluechtling-die-geschichte-des-25-jaehrigen-housam/

+++MITTELMEER
«4.1 Miles»: Bester und erschütterndster Dokumentarfilm 2016
600’000 Flüchtlinge überquerten innerhalb eines Jahres die Meerenge zwischen dem türkischen Festland und der griechischen Insel Lesbos. Viele von ihnen gerieten in Seenot und wurden von der Küstenwache aufgegriffen und in Sicherheit gebracht. Nicht alle überlebten.
http://www.watson.ch/International/Film/102101123-%C2%AB4-1-Miles%C2%BB–Bester-und-ersch%C3%BCtterndster-Dokumentarfilm-2016

+++EUORPA
Mali und die EU: Das Dilemma mit den Abschiebungen
Viele Minister aus Europa fordern afrikanische Staaten wie Mali auf, mehr gegen illegale Migration zu unternehmen. Ein Interessenkonflikt, denn die armen Länder profitieren von den Migranten. Ein politisches Dilemma.
http://www.tagesschau.de/ausland/mali-eu-101.html

+++AUSTRALIEN
Australien: Proteste in Flüchtlingslager nach Tod eines Sudanesen
Nach dem Tod eines sudanesischen Flüchtlings in einem australischen Internierungslager sind dort Proteste ausgebrochen. Asylsuchende im Lager auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus protestierten gegen die Behandlung des 27-Jährigen.
http://www.nzz.ch/schweiz/australien-proteste-in-fluechtlingslager-nach-tod-eines-sudanesen-ld.136691?cid=dlvr.it

+++FRAUEN/KINDER/LGBTI1
Queerer Aufbruch
Charlotte Sophie Meyn: In Kampala fand das erste queere Filmfestival Ugandas statt
In der ugandischen Hauptstadt Kampala fand zum ersten Mal ein queeres Filmfestival statt – friedlich und erfolgreich. Allerdings waren strenge Vorsichtsmaßnahmen nötig, denn Homosexualität steht in Uganda unter Strafe und homo- und transphobe Gewalt ist an der Tagesordnung.
http://jungle-world.com/artikel/2016/51/55446.html

+++SPORT
Vom Asylbewerber zum Radprofi
Natnael Mesmer log seine Grossmutter an, um Radfahren zu können. Nach der Flucht in die Schweiz will er Profi werden.
http://www.schweizamsonntag.ch/ressort/sport/vom_asylbewerber_zum_radprofi/

+++DROGENPOLITIK
Medropharm-CEO Mike Toniolo (34) Sein Gras macht nicht high
Medropharm-CEO Mike Toniolo (34): Seine Ernte geht nicht an Kiffer, sie ist für Kranke bestimmt.
http://www.blick.ch/news/medropharm-ceo-mike-toniolo-34-sein-gras-macht-nicht-high-id5948940.html

+++ANTITERROR
(Ausschaffungshaftorgie + Präventivhaft-Forderungen)
Anis Amri vor Monaten im Fernbus Richtung Zürich verhaftet
Bereits 2015 war der Berlin-Attentäter in der Schweiz. Seiner
Schwester sagte er, warum er weiterreisen müsse. Später versuchte er es nochmals und wurde gestoppt.
http://www.derbund.ch/sonntagszeitung/Zwei-Wochen-in-der-Schweiz–unter-dem-Radar/story/28500956

Neue Gesetze: Nachrichtendienst prüft mehr Asylgesuche aus Risikostaaten
NZZ am Sonntagvon Silke Mertins, Berlin, Andreas Schmid 25.12.2016, 08:13 Uhr
Wegen der Terrorgefahr trifft der Bundesrat Vorkehrungen. Nach dem Attentat steigt in Deutschland der Druck auf Kanzlerin Angela Merkel.
http://www.nzz.ch/international/neue-gesetze-nachrichtendienst-prueft-mehr-asylgesuche-aus-risikostaaten-ld.136684

NZZ am Sonntag 25.12.2016

Terrorismus: Sicherheitsvorkehrungen verstärkt

Der Bundesrat hat die Liste der Risikostaaten erweitert, der
Geheimdienst muss mehr Asylgesuche prüfen. Zudem werden neue
gesetzliche Massnahmen gegen Islamisten erarbeitet.

Von Andreas Schmid

Nach derzeitigen Erkenntnissen geht das Bundesamt für Polizei (Fedpol) davon aus, dass es keinen direkten Bezug des Attentäters von Berlin zur Schweiz gibt. Der Tunesier Anis Amri war vermutlich hier durchgereist, als er 2015 von Italien nach Deutschland übersiedelte.
Dafür, dass er sich in der Schweiz aufgehalten hätte, gibt es bisher
keine Bestätigung. Seine Mutter hatte dies in der NZZ verlauten lassen.

Dennoch steht das Fedpol weiter in Kontakt mit den Ermittlern in
Deutschland. Seit Dienstag befasst sich zudem eine Task-Force mit
Vertretern des Fedpol, des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB), des Grenzwachtkorps, des Staatssekretariats für Migration sowie des  Aussendepartements mit dem Anschlag.

Nicht erst seit letztem Montag, als Amri mit einem Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt fuhr, befasst sich die Schweiz mit
zusätzlichen Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus. Bereits eingeführt ist zum Beispiel die systematische Überprüfung von Asylbewerbern aus Risikostaaten durch den NDB. Diese Länder definiert der Bundesrat, sie sind geheim. NDB-Sprecherin Carolina Bohren sagt aber auf Anfrage: «Die Liste wurde 2016 erweitert.» Bekannt ist, dass Syrien als Risikostaat gilt, Irak, Jemen, Somalia und Pakistan dürften auch in der Kategorie figurieren. Ob mit der Ergänzung der Liste Tunesien – woher auch der Attentäter von Nizza stammte – oder wegen der politischen Entwicklung die Türkei dazukamen, ist wegen der Geheimhaltung unklar. Fest steht aber, dass der NDB zusehends mehr
Asylgesuchsteller abzuklären hat. Waren es 2010 noch knapp 1900,
wurden letztes Jahr über 4900 Personen überprüft. Unter ihnen waren laut Bohren nicht nur Asylbewerber aus Risikostaaten, sondern auch andere, von denen Gefahr für die Schweiz ausgehen könnte. Wenn sich entsprechende Hinweise in den Dossiers finden, leitet das Staatssekretariat für Migration die Gesuche dem NDB weiter, auch wenn die Personen nicht aus Risikoländern kommen. 2015 empfahl der NDB dem Staatssekretariat für Migration in neun Fällen, Asylgesuche von potenziell gefährlichen Bewerbern abzulehnen.

Massnahmen ohne Strafverfahren

Gegen terroristische Gefahren und radikale Kämpfer stehen dem Fedpol bisher Mittel wie der Widerruf oder die Nichterteilung von
Aufenthaltsbewilligungen sowie das Verhängen von Einreisesperren zur Verfügung. Diesen Instrumenten will Direktorin Nicoletta della Valle weitere Möglichkeiten zufügen, weshalb das Fedpol derzeit neue präventivpolizeiliche Massnahmen erarbeitet. Diese sollen ausserhalb eines Strafverfahrens angewendet werden können. Auf eine gesetzliche
Grundlage gestellt werden der vorsorgliche Entzug von Reisedokumenten, die Möglichkeit einer polizeilichen Meldepflicht für Verdächtige sowie das Zulassen einer verdeckten Registrierung. Diese Massnahmen sollen auf gerichtliche Anordnung möglich werden und potenzielle Gewalttäter an einer Ausreise hindern. Zudem können ihre Personalien ausländischen Behörden gemeldet werden. «Die Ausgestaltung dieser gesetzlichen Anpassungen ist im Gang», sagt die Fedpol-Sprecherin Lulzana Musliu.
Voraussichtlich Ende 2017 würden die Vorschläge in die Vernehmlassung gehen. Bis zur Umsetzung – das nationale Parlament muss die Änderungen gutheissen – dauert es also mindestens bis 2018. «Das ist der übliche Prozess. Gesetzesänderungen brauchen ihre Zeit», hält Musliu fest.

Eine schnelle Reaktion auf die Attentate von Nizza und Berlin ist auf diesem Weg also nicht möglich. Entsprechend wurden aus den
eidgenössischen Räten Rufe nach Notrecht und Sofortmassnahmen laut.

Internationale Kooperation zentral

Auf Stufe EU beteiligt sich die Schweiz im Bereich der
Terrorismusbekämpfung an polizeilichen und nachrichtendienstlichen Expertengruppen. Diese fördern etwa den Austausch von Informationen und Analysen zu Jihad-Reisenden. Ein Problem stellt sich, weil die Datenbanken oft fragmentiert und nicht gut vernetzt sind.

Die Schweiz bemüht sich bereits seit Jahren um eine internationale
Kooperation. So unterstützte sie 2014 eine Resolution des
Uno-Sicherheitsrats zu ausländischen terroristischen Kämpfern. Darin werden alle Uno-Mitgliedstaaten aufgefordert, gesetzliche Massnahmen zu erlassen, um Radikalisierte an Reisen in Konfliktgebiete zu hindern.

Der langen Bemühungen zum Trotz sehen sich die Schweizer Behörden damit konfrontiert, dass der Terror näher gekommen und unberechenbarer geworden ist: «Eine Tat mit einem Lastwagen braucht keine Finanzen, keine grosse Logistik», hielt Fedpol-Direktorin della Valle im «Tages-Anzeiger» fest. Das reduziere die Chance für Nachrichtendienst und Polizei, darauf aufmerksam zu werden.

Angst vor Anschlägen: Hunderte Tunesier demonstrieren gegen Rückkehr von Dschihadisten
Nach dem Anschlag in Berlin mehren sich die Forderungen nach
schnelleren Abschiebungen in die Maghreb-Staaten. Am Samstag haben nun Hunderte Tunesier in Tunis gegen die Rückkehr von Dschihadisten protestiert.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/tunesien-hunderte-tunesier-demonstrieren-gegen-rueckkehr-von-dschihadisten-a-1127476.html

+++BIG BROTHER
Recht auf eigene Daten: Willkommen in der digitalen Diktatur
Das Netz ist ein Nacktscanner der Persönlichkeit. Es ist an der Zeit,
über die Fremdnutzung unserer eigenen Daten nachzudenken.
http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/recht-auf-eigene-daten-willkommen-in-der-digitalen-diktatur-ld.136540

+++POLICE SG
Viele Bewerber scheitern am Deutschtest
POLIZEIAUSBILDUNG ⋅ Gute Deutschkenntnisse sind im Polizeiberuf wichtig – deshalb ist Deutsch ein Hauptfach in der Ausbildung. Viele Bewerber scheitern aber bereits beim Aufnahmetest an Grammatik und Orthographie.
http://www.tagblatt.ch/ostschweiz/Viele-Bewerber-scheitern-am-Deutschtest;art120094,4863105