Antirassistische Albträume

Gefunden auf bleiberecht.ch

Am 14. November 2016 wurde in Muttenz (BL) ein riesiges Bundeslager gegen Geflüchtete in Betrieb genommen. Sommarugas Lagerpolitik steht voll in der Durchsetzungsphase. Derzeit häufen sich Meldungen zu Eröffnungen von Bundeslagern. Die Bundeslager sind keine Willkommensorte. Es sind Orte des Rassismus. Sie sind nötig um Geflüchtete die bereits angekommenen Geflüchteten effizient zu verwalten. Sie rasch abzulehnen, effektiv auszuschaffen und ankommende Flüchtende abzuschrecken.

Grosses Verfahrenslager in Muttenz
Bis zu 900 Geflüchtete wollen die Behörden in Muttenz unterbringen. In Muttenz werden Geflüchtete registriert. Zudem werden Gesundheits- sowie Identitätsabklärungen vorgenommen und Erstbefragungen zum Reiseweg und zu den Asylgründen durchgeführt. Diese Arbeiten werden vor Ort von 40 Angestellten durchgeführt.

Rassismuserfahrungen im Verfahrenslager „Zieglerspital“ in Bern
In Bern existiert bereits ein solches Verfahrenslager. Im ehemaligen Zieglerspital können bis zu 150 Menschen untergebracht werden. Ziel ist, dass im Vollbetrieb in Zukunft bis zu 350 Menschen untergebracht werden. Betrieben wird das Lager von der ORS AG. Entmündigung, Disziplinierung und Isolation bestimmen dort den Alltag. Von Bewohnenden haben wir folgende Informationen erhalten:
„Pro Zimmer werden ca. zehn Menschen in Doppelbetten untergebracht. Die Fenster können nicht geöffnet werden. Um 22 Uhr ist Nachtruhe – für alle. Es besteht eine Art „Schlafpflicht“. Jede Nacht kommt es um 23h und 6h zu Zimmerkontrollen durch die Securitas AG. Die Weckzeit für alle ist 7 Uhr. Ab 9 Uhr besteht die Möglichkeit das Lager zu verlassen. Um spätestens 20 Uhr müssen alle wieder im Lager sein. Beim Eintritt ins Lager müssen die Handys abgegeben werden. Diese bleiben bis zum Austritt im Besitz der betreibenden ORS AG. Am Eingang des Lagers kontrolliert die Securitas AG. Die Bewohnenden werden jedes Mal abgetastet und durchsucht. Gekaufte Waren dürfen nur gegen Kassenquittung mit hinein genommen werden. Im Lager besteht keine Möglichkeit selber zu kochen. Alle erhalten zur selben Zeit dasselbe Essen. Deutschkurse werden keine angeboten. Internet gibt es keines. Wer an einem Beschäftigungsprogramm ausserhalb des Lagers teilnehmen will, muss sich dieses bei der ORS AG verdienen. Nur wer mehrmals bereit ist, im Lager Gratisarbeit zu leisten, darf ausserhalb des Lagers an einem Beschäftigungsprogramm teilnehmen.“
Die Platzierung in Verfahrenslagern wie Muttenz oder im Zieglerspital erfolgt nicht wegen einer Straftat. Sie erfolgt ohne richterlichen Beschluss, sie wird verordnet. Die verschiedenen Massnahmen werden mit der Anzahl Menschen, die auf engem Raum zusammenleben müssen, begründet. De facto geht es um repressive Menschenverwaltung und die Verhinderung von selbstbestimmten Leben für die Geflüchteten.

Ausschaffungslager in Embrach
Jüngst gab das SEM auch die geplante Eröffnung eines Ausschaffungslagers in Embrach bekannt. Heute besteht dort ein Lager für Geflüchtete, die dem Kanton Zürich zugeteilt sind. Ab Anfang 2017 wird ein Teil des kantonalen Zentrums durch ein Bundelager ersetzt. Die Besitzerin der Räumlichkeiten, das Sozialamt des Kantons Zürichs, vermietet dem SEM 120 Plätze. 240 Plätze bleiben vorerst beim Kanton, sollen aber bis 2019 ganz an den Bund übergehen. Betrieben wird das Lager von der Asyl-Organisation Zürich (AOZ). Zudem wird die Securitas AG rund um die Uhr patrouillieren. Das Lager in Embrach ist als Abschiebelager geplant, das heisst dass Menschen, die nach Embrach gebracht werden, eine Ausschaffung droht. Gemäss den Plänen der Behörden sollen in der Region Zürich Bundeslager mit insgesamt 870 Platzen entstehen. Nebst den zugesicherten 360 Plätzen im Ausreisezentrum Embrach bestehen weitere 360 Plätze im Testzentrum der Stadt Zürich. Die Behörden suchen noch nach einem Lager für 150 Menschen.
Weitere Standorte von Ausschaffungslager des Bundes sind bereits bekannt. In Wintersried (SZ) entstehen 340 Plätze. In Giffers (FR) schafft das SEM 300 Plätze. Beide Lager sollen wie jenes in Embrach bereits nächstes Jahr ihren Betrieb aufnehmen. Weiter geplant sind ein Ausschaffungslager für bis zu 310 Geflüchtete in Kreuzlingen (SG) und eines für 250 in Grand-Saconnex (GE).

Erstes Lager für sogenannt renitente Geflüchtete in Les Verrières
Das SEM hat in Les Verrières (NE) ein Gebäude erworben, in dem das erste Lager für sogenannte renitente Geflüchtete entstehen soll. Geflüchtete gelten als renitent, wenn ihnen die Behörden – kein Gericht – nachsagen, dass sie „den ordentlichen Betrieb der Bundeszentren stören oder die durch ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden“. Wie und wer genau über die Platzierung von Menschen in Les Verrières entscheidet, konnten wir bisher nicht in Erfahrung bringen. Tatsache ist, dass in Les Verrières schon bald Geflüchtete ein- oder ausgegrenzt werden. Hierfür setzt der Bund in und um das Lager mehr Sicherheitsagent_innen ein. Die Ein- und Ausgrenzung kann bis zu 140 Tage dauern. Das Eröffnungsdatum dieses Lagers ist noch nicht bekannt. Es stehen noch Umbauarbeiten an. Ein zweites Lager für „renitente“ Geflüchtete ist in der Deutschschweiz geplant.

Effizient abweisen und abschrecken
Dass es dem Asylregime offiziell um Abschreckung und Wirtschaftlichkeit geht, ist längst bekannt und wurde an der Urne demokratisch bestätigt. Bereits 2010 hielt der Bundesrat fest: „Um die Attraktivität der Schweiz als Zielland von Asylsuchenden zu senken, ist es notwendig, die Verfahrensabläufe zu beschleunigen und effizienter auszugestalten“.
Hinsichtlich der Behandlungen von Asylgesuche von Geflüchteten, die in die Schweiz Schutz suchen, heisst die offizielle Devise  Ablehnung vor Annahme: „Das SEM hält weiterhin konsequent fest an der prioritären Behandlung von schwach begründeten Asylgesuchen aus visumsbefreiten Staaten und aus Ländern mit einer sehr tiefen Anerkennungsquote (48-Stunden- und Fast-Track-Verfahren) sowie von Dublin-Fällen. Die Erstbefragungen sowie die Registrierungen von Asylsuchenden aus Eritrea, Syrien und Afghanistan wurden zudem beschleunigt, deren Anhörungen und Entscheide sind dagegen bis auf weiteres zurückgestellt “.
Die Bundeslager und das reibungslose Zusammenspiel von Verfahrens-, Ausschaffungs- und Verwahrenslager spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Wichtig sind auch die Anzahl Plätze.

Tabelle: Geplante Anzahl untergebrachte Geflüchtete pro Region und Funktion des Bundeslagers

Region Verfahrenslager Ausschaffungslager
Nordwestschweiz 350 490
Bern 260 360
Westschweiz 540 740
Zentral- und Südschweiz 290 400
Ostschweiz 290 410
Zürich 360 510
Total 2090 2910

Das SEM ist nicht weit von angestrebten 5000 Lagerplätzen entfernt.

Warum gibt es Lager?
Nebst den offiziell kommunizierten Zielen der Lagerpolitik – effiziente Menschenverwaltung, effektive Repression gegen Abgewiesene und Abschreckung – sind uns im Zuge unseres antirassistischen Widerstandes gegen Lager weitere Aspekte klar geworden.
Lager fördern den Rassismus und den Nationalismus: Je grösser der Terror gegen Geflüchtete in Lagern, desto eher kann das Gefühl entstehen, das nationale rassistische „Wir“ werde von „aussen“, „innen“ oder „Fremden“ bedroht. Lager schaffen eine Kluft zwischen einem nationalen Wir und einem minderwertigen und gefährlichen Anderen. Das Tückische an den Lagern ist, dass sich durch die ausweglose und belastende Situation bei Geflüchteten auch Verzweiflung, Frust, Wut und (Selbst-)Zerstörungsdrang einstellen können. Einige versuchen durch Schwarzarbeit, Kriminalität oder eine strategische Heirat der Hoffnungslosigkeit des Lagers zu entgehen. Dadurch geraten sie genau in die Rolle, die nationalistische, rassistische oder faschistische Kräfte benötigen, um die Konstruktion einer Bedrohung von nationaler Identität, Sicherheit und Wohlstand voranzutreiben.

Lager dienen dem Staat als Laboratorium. Das Wissen über Techniken der Überwachung und Unterdrückung oder billigere Modelle der Menschenverwaltung ist für die Behörden wichtig. Die Unterbringung von Geflüchteten in Lagern wird permanent umgebaut, neue Strategien und Strukturen werden ausgetestet: zum Beispiel die Auslagerung der Betreuung von Menschen an eine Aktiengesellschaft wie die ORS AG; die Präsenz einer privaten Sicherheitsfirma wie die Securitas AG im Alltag eines Heims; die Herabsetzung des Lebensniveaus einer Gruppe Menschen – hier Geflüchtete mit Negativentscheid oder einem Dublin-Entscheid – von der Sozialhilfe auf die Nothilfe. In den Lagern können die Auswirkungen auf Direktbetroffene beobachtet werden. Schon bald könnten solche Methoden auch gegen andere marginalisierte Gruppen eingesetzt werden. Die Sozialhilfebeziehenden erleben davon bereits den Anfang.

Im globalisierten Kapitalismus dienen Lager als regulierende Schleusen. Lager sind ein Instrument des europäischen Grenzregimes, dem auch die Schweiz angehört. An den EU-Aussengrenzen sind Lager Teil eines hochmilitarisierten Bollwerks, das täglich den Tod von Migrant*innen in Kauf nimmt. Es ist oft von einer Festung Europa die Rede. Das Bild stimmt jedoch nicht ganz. Denn trotz der Grenzen und der Lagerpolitik findet Migration bis ins Herz der Festung statt. Wir denken, es geht den Herrschenden derzeit nicht ernsthaft darum, Migration zu verhindern. Drastischere Massnahmen wären nötig. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geht es viel eher um Folgendes: „Die Vorteile der Migration maximieren, ihre negativen Folgen minimieren.“ Was heisst das genau? Die IOM spricht hier aus der Perspektive der Herrschenden: Migrant*innen werden auf ihren wirtschaftlichen Nutzen bzw. ihr ökonomisches Potenzial reduziert. Priorität haben die Wirtschaft und die Standortvorteile der herrschenden Staaten. In diesen Staaten fanden in den letzten Jahren wirtschaftliche Veränderungen statt. Immer mehr Menschen können ihre Arbeitskraft nicht mehr verwerten. Gesucht sind vorwiegend flexible, gut gebildete, innovative und teamfähige Arbeitskräfte. Diese sichert sich zum Beispiel die Schweiz vorwiegend durch den freien Personenverkehr mit der EU oder durch die kontingentierte Aufnahme von Hochqualifizierten.

Jene, die vor Klimakatastrophen, Kriegen oder Armut flüchten, sind wirtschaftlich kaum mehr gefragt. Entsprechend sind derzeit die Schleusen eingestellt. Wer es von den Aussengrenzen bis in die Bundeslager schafft, kann bereits ein Lied davon singen: Platz gibt es in der humanitären Schweiz keinen, ausser für die sogenannt echten politisch Verfolgten. Klima-, Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge gehören nicht dazu. Auch sind sie für den Arbeitsmarkt überflüssig und sollen sich deshalb fügsam auf die erzwungene Rückkehr vorbereiten. Es gibt allerdings keine Regel ohne Ausnahmen. Arbeitsintensive Wirtschaftsbereiche, die nicht in den Süden ausgelagert werden können, brauchen Billigstarbeitskräfte. So schaffen es einige vor der Ausschaffung unterzutauchen, um in der Landwirtschaft, der Reinigung, dem Gastrobereich oder der Pflege prekäre und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse eingehen zu müssen. Doch auch hier herrscht das Credo „Was nicht verhindert werden kann, soll wenigstens kontrolliert werden“. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass mit staatlichen Programmen die Geflüchteten direkt – und ohne Umweg über den Schwarzarbeitsmarkt – in arbeitsintensive Branchen vermittelt werden. Diese unterbezahlten Arbeiten werden dann zynisch Integrationsmassnahmen genannt.